Die 5. Szene des III. Aktes
eignet sich in besonderer Weise zur Analyse der
Figurenkonzeption mit den obigen Kategorien. (reclam
Ausgabe, 1951/1981, Übersetzung von Richard Linder)
HELMER. Du sprichst wie ein Kind.
Du verstehst die Gesellschaft nicht, in der Du lebst.
NORA. Ich verstehe sie nicht -
allerdings. Aber jetzt will ich sie mir näher ansehen. Ich muß dahinter
kommen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich.
HELMER. Du bist krank, Nora; Du
hast Fieber; ich glaube gar, Du bist von Sinnen.
NORA. Ich habe noch nie so klar
und sicher empfunden, wie jetzt.
HELMER. Und klar und sicher gehst
Du von Deinem Gatten und Deinen Kindern?
NORA. Ja, das tue ich.
HELMER. Dann ist nur noch
eine
Erklärung möglich.
NORA. Welche?
HELMER. Du liebst mich nicht
mehr.
NORA. Ja, das ist es eben.
HELMER. Nora! - Und das sagst Du
so?!
NORA. Es tut mir bitter weh,
Torvald; denn Du bist immer so gut zu mir gewesen. Aber was ist da zu
machen?! Ich liebe Dich nicht mehr.
HELMER (mit mühsam erkämpfter
Fassung.) Ist das auch eine klare und sichere Überzeugung?
NORA. Eine ganz klare und sichere
Überzeugung. Das ist der Grund, warum ich nicht länger hier bleiben will.
HELMER. Und kannst Du mir auch
erklären, wodurch ich Deine Liebe verscherzt habe?
NORA. Ja, das kann ich. Es war
heut abend, als das Wunderbare nicht kam; und da sah ich, daß Du nicht der
Mann bist, für den ich Dich gehalten hatte.
HELMER. Sei deutlicher; ich
verstehe Dich nicht.
NORA. Acht Jahre lang habe ich
geduldig gewartet; denn, du lieber Gott, ich sah ja ein, daß das Wunderbare
nicht wie ein Alltägliches kommen könne. Dann brach das Verderben über mich
herein; und nun war ich unerschütterlich fest davon überzeugt: jetzt kommt
das Wunderbare. Als Krogstads Brief draußen lag, - da dachte ich auch nicht
einen Augenblick, Du könntest Dich den Bedingungen dieses Menschen fügen.
Ich war fest überzeugt, daß Du ihm entgegnen würdest: tu es nur der ganzen
Welt kund! Und wenn das geschehen -
HELMER. Nun, und -? Wenn ich
meine eigene Frau dem Schimpf und der Schande preisgegeben hätte -?
NORA. Wenn das geschehen wäre, so
glaubte ich felsenfest - dann würdest Du hervortreten und alles auf Dich
nehmen und sagen: ich bin der Schuldige.
HELMER. Nora -!
NORA. Du meinst, ich hätte ein
solches Opfer niemals von Dir angenommen? Natürlich nicht. Aber was hätten
meine Versicherungen gegenüber den Deinen gegolten? - Das war das
Wunderbare, worauf ich in Angst und Bangen gehofft habe. Und um das
zu verhindern, hätte ich meinem Leben ein Ende gemacht.
HELMER. Mit Freuden würde ich Tag
und Nacht für Dich arbeiten, Nora, - für Dich Kummer und Sorge ertragen.
Aber es opfert keiner seine Ehre denen, die er liebt!
NORA. Das haben hunderttausend
Frauen getan!
HELMER. Ach, Du denkst und
sprichst wie ein unvernünftiges Kind.
NORA. Mag sein. Aber Du, Du
denkst weder, noch sprichst Du wie der Mann, an den ich mich anschließen
könnte. Als sie vorüber war, - Deine Angst - nicht vor dem, was mir
drohte, sondern vor dem, was Dich selber treffen könnte, als alle Gefahr
vorbei war, - da tatest Du, als ob nichts geschehen wäre. Genau so wie sonst
war ich wieder Deine kleine Lerche, Deine Puppe, die Du fortan doppelt
vorsichtig auf Händen tragen wolltest, weil sie so schwach und zerbrechlich
wäre. (Steht auf.) Torvald, in dem Augenblick kam ich zu der
Erkenntnis, daß ich hier acht Jahre lang mit einem fremden Manne zusammen
gehaust, und daß ich drei Kinder mit ihm gehabt hatte -. O, nicht daran
denken darf ich! In tausend Stücke könnte ich mich zerreißen.
HELMER (schwermütig.) Ich
sehe, ich sehe. In der Tat, - zwischen uns hat sich ein Abgrund aufgetan. -
Aber, Nora, sollte er sich nicht überbrücken lassen?
NORA. So wie ich jetzt bin, bin
ich keine Frau für Dich.
HELMER. Ich habe die Kraft, ein
anderer zu werden.
NORA. Vielleicht, - wenn Dir die
Puppe genommen wird.
HELMER. Eine Trennung - eine
Trennung von Dir! Nein, nein, Nora, - den Gedanken kann ich nicht fassen.
NORA (geht rechts hinein.)
Um so entschiedener muß es geschehen. (Sie kommt mit Hut und Mantel
zurück und trägt eine kleine Reisetasche, die sie auf den Stuhl am Tische
stellt.)