Die Interpretation des
Sonetts »Abend«
von
Andreas Gryphius kann von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen:
Walter Hinck (2000)
Der 5. Vers des Gedichts, der die Seefahrtsmetaphorik aufnimmt, hört auf,
paradox zu wirken, wenn wir »der Glider Kahn» als den Körper und den
»Port« als Schlaf verstehen. Noch lässt sich der Abend als konkrete
Tageszeit begreifen, aber in den Versen 6 und 7 setzt der Vergleich den
Verfall des Lichts in Beziehung zu einem allgemeinen Verlust, der in nicht
ferner Zukunft bevorsteht. Der gegenwärtige Tag öffnet sich zur
Lebensperspektive. Schutz vor der Gefahr, auf dem »Lauffplatz« dieses
Lebens auszugleiten, wird von Gott erbeten [...]. Eindeutig enthüllt sich
im letzten Terzett der Abend als »Sinnen-Bild« (Dietrich Jöns) für das
Lebensende, den Tod. Licht und Ewigkeit sind nur bei Gott, in der
Transzendenz. So erweist sich auch in einem tieferen Verständnis die
Antithese als das Form- und Erkenntnisprinzip dieses Gedichts.
Die Naturbilder des Anfangs lassen sich nicht dem zuordnen, was wir
Naturlyrik nennen. Nicht die Tageszeit, nicht die Landschaft ist wichtig;
sie sind nur Fingerzeig auf eine tiefere Bedeutung. (Hinck 2000, S.43f.)
Eva-Maria Kabisch (1986)
In diesem Gedicht, einem barocken Sonett, entwickelt der Autor aus der
Beobachtung des Naturvorgangs "Abend" gleichnishaft Gedanken über die
Vergänglichkeit menschlichen Lebens und bittet Gott um Behütung und
Erlösung. (Kabisch
1986, S. 7)
Eberhard Hermes (1983)
Die Dinge der Welt werden unter einer religiösen Perspektive gesehen.
Der Alltag, das Bild des Abends, wird dem Sprecher zum Gleichnis für die
‚letzten Dinge‘: Vergänglichkeit, Tod, Heimkehr zu Gott. Er fühlt sich
völlig abhängig von der Erlösungsgnade Gottes. (Hermes
1983, S.110)
Günter Busse (1981)
Das allgemeine Motiv Abend/Nacht führt Gryphius im wesentlichen an zwei
einzelnen und offenen Motiven durch: an dem Tag und der ihm in der Ordnung
der Natur folgenden Nacht. Diesen beiden Motiven werden andere zugeteilt;
zum Tag gehören die vom "werck" auf dem „Feld“ ermüdeten "scharen der
Menschen" und "Thier" und "Vögel". Zum Tag gehört aber auch der "müde
Leib", den der 12. Vers nennt, das heißt jetzt: der verbrauchte, der alt
und gebrechlich gewordene Leib, zum Tag gehört auch das Bild der "renne
bahn" und des "Laufplatzes". Zum Tag gehören ferner "pracht", "lust" und
"angst".
Dem Tag folgt die Nacht. Der Tag geht in die Nacht über, er geht in ihr
auf, er verendet in ihr. Die Nacht kommt, das Licht verfällt, die
Einsamkeit beginnt, das Leben ist eine "rennebahn" zum Abend, zur Nacht.
Es wird deutlich, dass Gryphius mit dem Leben lang währenden Übergang des
Tages in die Nacht allegorisch den Übergang des Lebens in den Tod, der
Blüte des Leibes in seinen Verfall, der Macht und Pracht des Lebens in die
Ohnmacht und in das Elend darstellt. (aus:
Busse, Günter 1981, S.63f.)
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