1.
"Egmonts Gespräch mit Oranien wie mit Alba erschöpft sich nicht in der
politischen Stellungnahme. sondern enthüllt die Ohnmacht einer Warnung wie
das Verhängnis eines bloßen Scheingesprächs. Gewiss trägt jeder der
Unterredner seine Gründe vor; aber mit ihnen ist es nicht getan, dass sie
sich von Situation der Sprechenden nicht ablösen lassen. Oranien warnt vor
der drohenden Gefahr und rät zu einem vorsichtig-abwartenden Verhalten,
während Egmont die Sorgen gering achtet und stattdessen die Folgen eines
politisch-taktischen Verhaltens fürchtet. Argwohn und Offenheit, Sorge und
Vertrauen stehen sich derart gegenüber, dass die Argumente ohnmächtig
werden, weil sie nicht Gewissheit geben, sondern nur auf Möglichkeiten
verweisen. [...] So findet das Gespräch aus dem Raum des bloß Möglichen
nicht heraus und gibt damit die Ohnmacht des Warners zu erkennen. Im Reden
über die Absichten und Hilfsmittel des Gegners enthüllt sich das dem
Handeln zugehörige subjektive Moment. Das Verhalten ergibt sich nicht als
zwingendes Resultat aus eindeutigen Prämissen, sondern bleibt auf die
Beurteilung der Situation bezogen. [...] Nicht die politische
Auseinandersetzung als solche bestimmt die Dramatik des Dialogs, sondern
die jeder Warnung zugehörige Spannung zwischen Möglichkeit und
Wirklichkeit. Der Mensch macht durch das Gespräch seine Gefährdung
offenkundig und sieht sich doch nur auf sich selbst, auf sein Lebensgefühl
zurückgewiesen. " (Paul
Böckmann 1958, S. 155ff.)
2.
"Das Egmontdrama ist nicht darum tragisch, weil hier ein Privatmann das
unschuldige Opfer politischer Machtverhältnisse wird und dann nachträglich
seinem Tod ein stellvertretender Sinn für den Befreiungskampf der
Niederlande unterschoben wird. Sondern tragisch ist, dass gerade der von
Goethe so durchaus bejahte Reichtum einer dämonischen Individualität mit
ihrer Heiterkeit und Seelenfülle ist, der sie in den Untergang
hineinreißt; [...] Besonders deutlich wird die tragische Blindheit der
dämonisch von sich selbst besessenen Individualität in der
Abschiedsunterredung zwischen Oranien und Egmont. Oranien ist der
Erkennende, der die politischen Kräfteverhältnisse wie ein Schachspiel
abwägt [...]. Er denkt dabei durchaus überpersönlich und gelangt zu dem
Entschluss, nicht aus Unsicherheit oder Angst, der drohenden Gefahr
auszuweichen, sondern aus politischer Vernunft, die in einer kritischen
Lage den noch möglichen Weg sucht. [...] Egmont ist von Oraniens
Auffassung des Lebens als politisches Schachspiel und überpersönlicher
Aufgabe weit entfernt. Er will mit seinen Augen sehen, das heißt,
er will seine vertrauende Unbeirrbarkeit, seinen Glauben an das Leben, an
den König und an die Gegenwart nicht preisgeben. Er ist so durchaus von
sich erfüllt, auf vornehme Weise sorglos und unbekümmert, seinem Mut und
seinem Glück vertrauend, dass er die politische Sorge, die aus Oranien
spricht, von sich weist. Sie ist ein fremder Tropfen in seinem Blute." (Benno
von Wiese 1948, S.114ff.)
3.
"Was der Statthalter verliert, gewinnt der Mensch. Schon im Gespräch mit
Oranien. Oranien hat politisch recht, und Egmont ist ein gutgläubiger Tor.
Doch menschlich hat der Redner Oranien unrecht, und Egmont geht glorreich
hervor. Der Politiker nämlich hat das Leben bereits verloren, das sein
unbekümmerter Freund erst wagen will. Er steht 'wie über ein Schachspiel',
erwägt alle künftigen Möglichkeiten und büßt dafür die Gegenwart ein.
Bleich und gespannt betritt er das Zimmer, mit ernstem, durchdringendem,
freudlosem Blick. Behagen und Heiterkeit werden in seiner Nähe mit
schlechtem Gewissen vergiftet. Dagegen lehnt sich Egmont auf." (Emil
Staiger 1952, zit. n.
Ibel 1981b, S.45)
4.
"In dem großen Gespräch zwischen Egmont und Oranien am Schluss des zweiten
Aufzuges kommt der Unterschied von beider Wesen zum Ausdruck. Oranien ist
der politische Fachmann, der über den politischen Verhältnissen immer 'wie
über einem Schachspiel' steht und 'keinen Zug des Gegners für unbedeutend'
hält [...]. Oranien ist der Mann der rationalen fachmännischen Überlegung,
die auch über den menschlich sympathischen, unpolitischen Heroismus
Egmonts mit nüchterner politischer Vernunft hinwegzugehen weiß [...]
Egmont fällt dem Schicksal leidend in die Arme, Oranien begegnet ihm mit
kühlster Vernunft und wird es durch die politische Tat zu gestalten
wissen." (Georg
Keferstein 1937, zit.n.
Ibel 1981b, S.54f.)
5.
"Egmonts Sprache mit ihren starken Gefühlsakzenten und ihrer
Neigung zu freiem Schweifen verrät deutlich den Phantasiemenschen, der an
einer idealen Welt baut, in der allein er atmen kann ... Welcher Gegensatz
gegen die Sprache eines Oranien, durch dessen Rede etwas Lauerndes,
Ausholendes geht, das doch mit zarten Tönen verhaltener und zuletzt
überströmender menschlicher Teilnahme gemischt ist. Auch ihm öffnet Egmont
seine Seele!" (Robert Petsch, zit.n.
Ibel 1981b, S.39)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2024