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1. Rezension von Stefan Benz Stefan Benz unterstreicht bei seiner Rezension der von Armin Petras
inszenierten Aufführung am Frankfurter Schauspiel auf der Webseite des
Theaterportals
"Es herrscht Lynchpartystimmung in den Straßen von Brüssel. Das Volk
stellt die Banker buchstäblich auf den Kopf. Doch bevor der Aufstand in
den niederländischen Provinzen eskaliert, ruft Graf
Egmont zur Mäßigung:
»Bleibt zu Hause«, ist seine Losung. Der Rückzugsbefehl ins Private wird
ihm selbst zum Verhängnis werden.
Als Egmont den Widerstand der Massen braucht, verschwindet das Volk in der
Versenkung, verschluckt von der Bühne des Frankfurter Schauspiels. Nur
Klärchen greift sich einen
Benzinkanister. Ihren Freitod wird sie nicht, wie von Goethe
vorgeschrieben mit Gift vollziehen, Egmonts Geliebte schickt sich unter
der Regie von Armin Petras offenbar an, eine Selbstmordattentäterin zu
werden.
In Mannheim hatte Sebastian Baumgarten vor einem halben Jahr in einer
herausragenden »Egmont«-Inszenierung die Intervention der Spanier in den
Niederlanden mit dem amerikanischen Kampf gegen den Terror in Verbindung
gebracht und den Grafen nach Guantanamo geschickt. Auf diese
außenpolitische Lesart lässt Armin Petras nun in Frankfurt die
innenpolitische folgen – und wieder erweist sich, welche Aktualisierungen
dieser Stoff verträgt.
Da fragt das Volk einstimmig, als wäre es ein Chor des seligen Einar
Schleef, was denn Nation und Freiheit heute noch bedeuten. Sie lassen
orangefarbene Luftballons steigen und verteilen Tulpen, rezitieren Goethe
und Schiller, Heine und Hegel, Bismarck und Barzel. Hölderlin nehmen sie
als Gewährsmann für die Anarchie: Wenn Freiheit nur noch Mechanik ist,
dann »soll der Staat aufhören«.
Aus dem Off singt Tracy Chapman »Talking ’bout a revolution« – und das ist
das Problem: Sie reden nur über die Revolution. Warum tut sich nichts in
unseren Straßen, fragt Armin Petras? Der Unmut ist da, doch die Reaktion
bleibt aus. Jeder scheint Egmonts Formel zu folgen: Die Deutschen bleiben
zu Hause.
In zweidreiviertel Stunden schlägt die Regie den Bogen vom 16. ins 21.
Jahrhundert. Den interpretatorischen Gewaltakt bewältigt Petras mit
erfreulichem Witz – eine der besten Arbeiten seit langem am Frankfurter
Schauspiel, bei der Premiere am Samstag mit viel Beifall bedacht.
Das Bürgertum ist offenbar in die Sozialhilfe gerutscht. Patricia Talacko
hat Klärchens Elternhaus als Bretterverschlag gezimmert, wie man es vom
Trash-Theater der Berliner Volksbühne kennt. Es regnet durchs Dach auf den
Wohnzimmertorf, der aus dem Liebesspiel ein Schlammcatchen macht. In
diesem Milieu klingt Goethe denn auch nach Gerhart Hauptmann.
Klärchen (Nadja Dankers)
benimmt sich in ihren zerrissenen Strumpfhosen wie ein Punkfräulein in
einer der Krawall-Talkshows des Privatfernsehens.
Brackenburg (Gunnar Teuber),
der ihr Herz gewinnen will, muss als UPS-Postillon Egmonts Päckchen
austragen.
Klärchens Mutter arbeitet
erst beim »Minus«-Markt, später in der »Schlucker«-Drogerie. Am Ende darf
sie sich mit Brackenburg trösten.
Petras inszeniert Sozialkritik zwischen Satire und Seifenoper:
Egmont (Wolfram Koch), der
hier keinen Sekretär, sondern eine eifersüchtige Sekretärin (Georgia
Stahl) hat, wird bei seinen Staatsgeschäften gefilmt: eine Doku-Soap nach
Goethes Drehbuch.
Das Regietheater des Armin Petras ist am Fernsehen geschult. Da heißt es,
Akzente zu setzen und nicht dem Text nachzulauschen. Als Wilhelm von
Oranien den Freund Egmont
zur Flucht überreden will, schnürt er ihn in einen Koffer ein.
Als
Margarete von Parma
entmachtet wird, zieht sie die Burka über. Und als der Graf im Kerker dem
Wahnsinn verfällt, da legt er Helm und Harnisch an: ein Don Quichotte des
gemäßigten Protests. Wie Petras sein politisches Theater mit dem Vokabular
der Comedy formuliert, das ist sehenswert. "
2.
Zuschauerstimmen zur Frankfurter Aufführung
In der
Zuschauerkritik wurde die
Inszenierung verschieden beurteilt:
- Georgia W.
Es war kein "klassischer" EGMONT, den ich bei meinem Theaterbesuch
erwartete, aber was geboten wurde, wäre vielleicht einer mittelmäßigen
Schülergruppe zuzurechnen. Sich im Dreck zu wühlen, ist nicht gutes
Theater, sondern billiger Klamauk. Eine hysterischer Teenie als Klärchen
und ein Brackenburg als UPS-Trottel, was sollte dies bewirken? Goethes
Botschaft ging unter diesem Billig-Theater völlig verloren. Alles schien
nur ein Gag: Oranien mit Puppen-Babywagen, Egmont mit Klebeband in einen
Koffer gesteckt? Alles blödsinniger Straßentheater- Unsinn. Und was sollte
dieser politische Deutschlandchor vor der Pause? Wollte sich der Regisseur
dort mit Goethe messen, oder sich irgendwie beweisen? Fehlgeschlagen! Was
mir so von einigen Besuchern zu Ohren kam, ist auch meine Meinung: um
solchen Unsinn anzusehen, muss man keine teure Theaterkarte kaufen, das
gibt"s genug im Fernsehen - kostenlos. [...]
- Marco
Ich verstehe einfach nicht warum es so viele negative Kritiken gibt. Warum
sollte Egmont mal nicht in moderner Weise dargestellt werden? Ich finde,
dass es Petras sehr gelungen ist, und es vor allem für jüngere Zuschauer
sehenswert ist. [...]
- Hans D.
Gestern war der Saal zu einem großen Teil mit Schülern der Oberstufe
gefüllt, die sich die Goethe-Pflichtlektüre" im Theater anschauen wollten.
Sicher mit der Absicht, sie mit reduziertem Aufwand besser verstehen zu
wollen. Für diese Klientel war die Petras-Inszenierung sicher eine herbe
Enttäuschung, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass die jungen Leute die
Intentionen von Goethe erkennen und verstehen konnten. Warum sollte es
ihnen anders gegangen sein als mir ? Warum locken heutzutage so viele Regisseure die Zuschauer mit dem
Versprechen ins Theater, klassische Stücke zeitnah zu interpretieren ?
Soll der berühmte Autor die Zuschauer anlocken nach dem Motto: "Das muss
man gesehen haben." ? Es gibt doch eine kaum überschaubare Anzahl guter,
zeitgenössischer Theaterstücke, an denen sich die Regisseure abarbeiten
können. [...]
- Norma S.
[...] Eine tolle Inszenierung, die durch die moderne Form sehr viel
gewinnt! Das Stück verliert sich nicht in billigen Effekten und großem
Brimborium wie das bei der Räuber-Inszenierung eher der Fall war. Hier
passt eigentlich alles und wenn es Effekte gibt, dann drücken sie auch
etwas aus! Ich bin schon der Meinung, dass man hier der Vorlage treu
geblieben ist - und sich soweit davon entfernt hat, wie es eben heutzutage
nötig ist, damit auch ein älteres Stück seine Aktualität nicht verliert!
[...]
(aus: Schauspiel Frankfurt Criticalboard,
http://www.schauspielfrankfurt.de/criticalboard/zuschauerkritik.asp?StueckInhaltID=3475,
8.1.06, Auszüge
3. Joachim Lottmanns Kritik am Regietheater der Frankfurter Aufführung
"Sie lassen stöhnen, schuften, koitieren und auf der Bühne Notdurft
verrichten. Klassiker sind allenfalls Material. Jungdeutsche Regisseure
sind dabei, die üppigste Theaterlandschaft der Welt mit ihren
abgelatschten Schocks endgültig zu ruinieren. [...]
Goethes 'Egmont' in der Goethe-Stadt Frankfurt. Das dortige Theater hat
die Sprachverhunzung schon im Namen, wie ein Programm: 'schauspielfrankfurt"
kleingeschrieben und zusammen. Da ahnt man die offene Bühne, den Verzicht
auf die Werktreue, auf Kostüme und Bühnenbild bereits beim Kauf der Karte.
Von außen sieht das Haus aber wunderschön aus. Dieses zukunftsfrohe
Leuchten und Glitzern der echten Moderne, die noch keine Postmoderne
kannte. Glas, Stahl, von diesem Tempel inmitten der Stadt wird der
Theaterbesucher bestimmt angezogen. Und umso schrecklicher enttäuscht.
Denn wieder sehe ich diese selbstgeschnitzen Blödmannsszenen, dieses Punk-
und Rock-Zeug, alles vom Regisseur geschrieben, von Goethe nur die
Stichworte, das sogenannte Material. Der Regisseur hat das Wort
'Vaterland' im Goethe-Text entdeckt. Hey, Mann, 'Vaterland'! Das heißt
natürlich Pflichtprogramm. Nämlich 35 Minuten lang 'patriotische' Stellen
von allen deutschen Klassikern und Nichtklassikern ins Publikum schreien.
Die circa 40 Schauspieler bilden einen Chor und brüllen los. Am deutschen
Wesen soll die Welt genesen. Brüll! Kreisch! Donner! Schepper! Mein lieber
Herr Gesangsverein, heil Hitler aber auch, denke ich.
Das Kritikerblöckchen im Einsatz. Dass auch wieder 'die Sau
rausgelassen' wird, interessiert mich kaum noch. Der Schock hat sich durch
den 'Macbeth' am Vorabend verbraucht. Nachdem ich nackten, meist alten
Männern bei Kacken auf dem Donnerbalken zugeschaut habe, kann mich jetzt
das wilde Beischlafgestöhne des Campino-Lookalike mit dem Punk-Klärchen im
nassen Schlamm nicht mehr erreichen. Ich langweile mich.
Das Klärchen zieht sich aus, aber Klärchen finde ich hässlich, und Egmont
ist ein Mann. Warum isst Wilhlem von Oranien einen Joghurt von Ehrmann?
Wieso wird immer nur geflüstert oder geschrien? Warum stecken die Beine
des Prinzen von Gaure in einem Teddysack? Oder war es der Herzog von Alba,
als Penner verkleidet? Und wozu muss er mit einem Klebeband vom Baumarkt
zugepflastert werden, und die Kalaschnikow fällt aus dem Koffer, und Pink
Floyd spielt dazu? [...] (aus: Joachim Lottmann, "Hau ab, du Arsch!" Sie
lassen stöhnen, schuften, koitieren und auf der Bühne Notdurft verrichten.
Klassiker sind allenfalls Material. Jungdeutsche Regisseure sind dabei,
die üppigste Theaterlandschaft der Welt mit ihren abgelatschten Schocks
endgültig zu ruinieren, in: Der Spiegel 10/2006, S. 164-165)
4. Wolfgang Höbels Verteidigung des Regietheaters am Beispiel der
Frankfurter Aufführung 2006: "»Ist unser Theater denn nur noch
versaut?« fragte in brennender Sorge jüngst die »Bild«-Zeitung den von
einem Schauspieler in einer Vorstellung attackierten Chefkritiker der
»Frankfurt Allgemeinen«, Gerhard Stadelmaier - und zitiert den Fachmann:
»Dieses Müll- und Trash-Theater geht teilweise zu weit. Theater ist
Phantasie. Blut muss nicht Sirup; Gier, Pein und Sex müssen nicht Fleisch
sein.«
Was geht zu weit? Wer legt die Grenzen des Erlaubten fest? Wer regelt die
Ausweitung der Schamzone? Es ist eine merkwürdige, erbitterte Abneigung,
die sich da artikuliert: gegen die Zumutungen des modernen Theaters, wo
(so die Reizvokabeln) »Müll und Trash«, »Blut und Hoden«, »Gewalt und
Sperma« regierten. Herbeigewünscht wird ein schmutzfreier Rückzugsort fürs
Wahre und Schöne der Kunst.
Nun ist es keineswegs neu, dass besorgte Menschen eine Rückbesinnung auf
Sitte und Anstand in öffentlich subventionierten Theaterhäusern fordern,
eine Selbstbeschränkung der Bühnenkünstler auf mehr Textfrömmigkeit und
traditionelle Mittel. Das Theater böte dann den Gegenentwurf zu einer
Welt, in der wir dank der ziemlich totalen Bilder- und
Informationsversorgung täglich mit verstümmelten Leibern und
pornografischer Nacktheit konfrontiert sind; es könnte dienen als Stätte
der Kontemplation, der zahmen Text- und Seelenbehandlung; es könnte Trost
und Erbauung spenden: Frag sich nur, was diese Idylle noch mit lebendiger
Kunst zu tun hätte, die notwendig ein Spiegelbild ihrer Zeit ist, die von
den Ängsten, Schrecken, Katastrophen der Gegenwart erzählen sollte und
nicht nur museal ausstellen, was früher einmal war.[...]"
(aus: Wolfgang Höbel. Ausweitung der Schamzone. Ein Plädoyer für die
zeitgenössische Bühnenkunst, in: Der Spiegel 11/2006, S. 168f.)
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