Bevor
Sie Schriftsteller wurden, waren Sie als Maler und Zeichenlehrer tätig. Gab
es einen besonderen Grund für diesen Wechsel?
Das muss 1951 0der 1952 gewesen sein. Und der Grund dafür war die
weltpolitische Lage. Es hatte nichts mit fehlendem Talent zu tun. Ich war
gerne Maler und zufrieden mit dem, was ich tat. Aber in dieser Zeit schien
die Drohung eines nuklearen Kriegs sehr, sehr nah. Viel näher, als man sich
heute erinnert oder sich vorzustellen vermag. Und es gab Hunderttausende,
die sich dessen bewusst waren. Die unmittelbare Gefahr bestand in einem
Präventivschlag durch Washington, da die Sowjetunion damals noch keine
Nuklearwaffen besaß. Selbst bekannte Schriftsteller und Intellektuelle
schrieben skandalöse Artikel, in denen sie einen Präventivschlag
befürworteten und ernstlich eine Bombardierung Moskaus in Erwägung zogen. In
dieser Situation hatten viele von uns das Gefühl, sie hätten nur noch wenige
Monate zu leben. Gegen dieses Gefühl mussten wir ankämpfen, und die Malerei
schien mir dazu nicht das geeignete Mittel. Natürlich war ich mir bewusst,
dass auch mit Schreiben nicht viel auszurichten war, aber als Journalist zu
arbeiten und in Artikeln öffentlich Widerstand zu leisten war für mich die
einzig denkbare Möglichkeit.
Einer der zentralen Aspekte Ihres Werks, angefangen von
Ihrem Romanerstling Die Spiele (1958) bis zur Gegenwart, ist die
Verteidigung des Individuums gegen die zerstörerischen Kräfte der
Geschichte. Gibt es in Ihrem Werk so etwas wie einen humanistischen
Grundimpuls?
Ja, ich denke schon. Obwohl es für einen Schriftsteller immer sehr
schwierig ist, sein eigenes Werk zu beurteilen. Andere können das viel
besser. Aber ich habe wohl so etwas wie eine tief sitzende Sympathie für die
Unterdrückten, auch wenn mir das Wort nicht sonderlich behagt. Vielleicht
sollte ich besser Underdogs sagen. Ich glaube, das ist ein fester
Bestandteil meines Wesens. Ob man dies mit dem Begriff humanistisch
bezeichnen sollte, weiß ich nicht. Das Wort klingt sehr theoretisch und ein
bisschen fromm. Bei mir ist es mehr eine Sache, die direkt aus dem Bauch
kommt.
Bleiben wir bei den Underdogs. In Ihren Büchern und
Essays hat man das Gefühl, als würden Sie Ihre Stimme für die
Unterprivilegierten erheben, um ihnen ihre persönliche Würde und Integrität
wiederzugeben.
Ich denke, es geht hier nicht um ein Zurückgeben der Würde, denn in
meinen Augen haben diese Leute Würde. Es geht vielmehr darum, diese Würde zu
erkennen. Sie zurückzugeben wäre eine Art Almosen, und das wäre schrecklich.
Man muss vielmehr versuchen, sich weit genug zu öffnen, um die Würde dieser
Menschen zu sehen. Es gibt einen wunderbaren Satz von Simone Weil, der
lautet: »Irgendwo schreit ein Mensch auf: ›Was geschieht mit mir?‹« Und sie
sagt: »Dieser Schrei kann niemals missverstanden werden. Er ist
unbezweifelbar.« Man kann ihn nicht in Frage stellen. Andere mögen
vielleicht eine tiefgehendere und umfassendere Antwort auf diese Frage geben
können, aber der Schrei als solcher ist unhinterfragbar und immer im Recht.
In manchen, nicht in allen meinen Texten versuche ich eine Art
ausführlichere Version dieses Schreis ›Was geschieht mit mir‹ zu geben, mit
all dem Takt und der Zurückhaltung, die dazu notwendig sind. Aber ich bin es
nicht selbst, der da spricht. Ich höre nur zu.
In Ihrem Essay »Ev’ry Time We Say Goodbye« bezeichnen Sie
unser Jahrhundert als »das Jahrhundert des Verschwindens«. In nie gekannten
Dimensionen wurden Menschen durch Krieg, Hunger, politische Verfolgung und
andere Gründe aus ihren Heimatländern vertrieben. Verstehen Sie Ihr Werk
auch als eine Art Festhalten von Einzelschicksalen, die anderenfalls
vergessen würden?
Nun, Sie werden mir sicherlich darin zustimmen, dass dies das
bedeutendste Merkmal unseres Jahrhunderts ist, vielleicht sogar das Merkmal,
in dem sich unser Jahrhundert am markantesten von allen anderen
unterscheidet, obwohl man diese Differenz nicht überstrapazieren sollte.
Wenn man also über unser Jahrhundert schreibt, erscheint es nur natürlich,
dass dieses Thema wieder und wieder zur Sprache kommt. Und vielleicht hofft
man auch ein wenig darauf, in seinem Schreiben etwas von den Geschehnissen
dieses Jahrhunderts festhalten zu können. Aber man sollte diesen Aspekt
nicht überbewerten, denn ich glaube nicht, dass diese Dinge anderenfalls
vergessen würden. Zunächst einmal ist man nicht der einzige, der sich dieser
Aufgabe widmet. Und zum zweiten werden die Dinge auf vielfältige Weise
dokumentiert oder leben in anderen Traditionen fort. Insofern glaube ich
nicht, dass ein Schriftsteller seine Aufgabe darin sehen sollte, das Leben
anderer in irgendeiner Weise zu bewahren oder dem Vergessen zu entreißen.
Das wäre vermessen. Er kann nur ein kleines Stück dazu beitragen.
Mitte der siebziger Jahre zogen Sie in ein kleines Dorf
in der Haute Savoie, um dort die Trilogie Von ihrer Hände Arbeit zu
schreiben. In der Einleitung zu diesem Buch findet sich eine harsche Kritik
des Fortschrittsglaubens, der in Ihren Augen von Kapitalismus und
Sozialismus gleichermaßen vergöttert wurde. Am Beispiel der französischen
Bergbauern zeigen Sie die fortschreitende Entwurzelung und Zerstörung der
bäuerlichen Lebensart und Kultur durch einen blindwütigen Fortschritt.
Bedeutete die Arbeit an diesem Buch für Sie auch so etwas wie den Versuch,
die Erinnerung an eine verschwindende Lebensform wachzuhalten?
Ich würde dieser Sichtweise grundsätzlich zustimmen. Allerdings möchte
ich noch hinzufügen, dass es mir nicht allein darum ging, die Lebensweise
dieser Leute in Erinnerung zu halten, weil wir in dieser Hinsicht ein
verlorenes Rennen gegen die Zeit führen. Diese Bauern besitzen in der Tat
ein ganz enormes Wissen, und zwar in einem sehr praktischen Sinne. Sie
wissen, wie das Land zu bestellen ist, wie man Wälder aufforstet, wie man
mit Tieren umgeht oder wie man aus Holz die Gegenstände zum täglichen
Gebrauch anfertigt. Sie können mit ihren Händen zwar nicht alles, aber doch
ziemlich viel bewerkstelligen. Sie sind nicht auf eine bestimmte Arbeit
spezialisiert. Diese große Geschicklichkeit in Verbindung mit ihrer
Lebensart – nun, ich will nicht übertreiben, es gibt auch ziemlich üble
Kerle unter ihnen –, aber es erscheint nicht abwegig, dass beides in nicht
allzu ferner Zukunft wieder gefragt ist. (…) Ich kann mir vorstellen, dass
zukünftige Leser einige dieser Geschichten nicht bloß als Rückblick auf
Vergangenes lesen, sondern als Beispiele, wie man vielleicht leben könnte.
Die Kunstkritik nimmt in Ihrem Werk einen wichtigen
Platz ein. Von den frühen Kritiken für Zeitschriften wie den New Statesman
bis heute haben Sie sich immer wieder diesem Genre gewidmet. Würden Sie den
Kunstkritiker Berger auf die gleiche Stufe wie den Romancier Berger stellen?
Nein. Ich habe die Kunstkritik immer nur als Gelegenheitsarbeit
betrachtet. Meinem eigenen Selbstverständnis nach bin ich in erster Linie
Erzähler, nicht Kritiker. Selbst wenn Sie meine Kunstkritik näher
betrachten, werden Sie feststellen, dass ein Großteil davon einen sehr
narrativen Charakter besitzt. Sobald ich über ein Gemälde oder einen Maler
zu sprechen beginne, kommen mir nahezu automatisch Geschichten oder
Lebensschicksale in den Sinn. Ich will damit nicht sagen, dass ich in
Bildern nach Geschichten suche, ich hoffe es jedenfalls nicht. Aber mir
scheint, dass mein unmittelbares Interesse an der Kunst nicht dem eines
Kunsthistorikers entspricht, sondern eher das eines Geschichtenerzählers
ist, der viel von der Malerei weiß und darüber schreibt.
Abschließend noch ein Wort zu Ihrem Buch Mann und
Frau unter einem Pflaumenbaum stehend. Es handelt sich dabei um
zweiundzwanzig kurze Porträts, in denen Sie auf sehr persönliche Art von
Begegnungen mit bekannteren, vorwiegend aber unbekannten Menschen berichten.
Viele dieser Momentaufnahmen scheinen von einem gewissen Pathos geprägt.
Würden Sie diesen Begriff für sich akzeptieren?
Ohne jede Einschränkung. Ich möchte hier keinen qualitativen Vergleich
anstrengen, aber wenn wir von Pathos sprechen, so scheinen mir die
Erzählungen Tschechows sehr viel davon zu besitzen. Oder, wenn wir uns mehr
in der Gegenwart umsehen, die Raymond Carvers, den ich sehr bewundere.
Aber kann Pathos nicht auch sehr gefährlich werden, wenn
es selbst noch tiefster Not und Elend den Glanz von Erhabenheit verleiht?
Ja, die Gefahr besteht sicherlich. Ob man ihr unterliegt oder nicht, ist
eine Frage des Takts. Takt ist vielleicht die erste Gabe der dichterischen
Einbildungskraft, genau wie es auch in der bildenden Kunst Takt gibt. Dabei
geht es nicht um eine Form von Höflichkeit, künstlerischer Konvention oder
auch Diplomatie. Es ist vielmehr ein besonderes Gespür dafür, ob man in
einer bestimmten Situation der Wahrheit gerecht wird oder nicht. Wird man es
nicht, fehlte der Takt, oder er war nicht in ausreichendem Maße vorhanden.
Dies muss der einzelne Leser jeweils für sich entscheiden.
Aus Bogen 47- Carl Hanser Verlag - John Berger. Mitten in Europa
(aus der
Pressemappe des Hanser-Verlages zum Autor, 23.09.02)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.03.2020