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Einmal, es war in John Bergers siebzigstem Jahr, sollten wir uns in der
Provence zur Verleihung eines Literaturpreises treffen. Er wollte mit dem
Motorrad kommen und würde erst am folgenden Tag eintreffen. Doch beim
gemeinsamen Abendessen unter Glyzinien und Sternen war er schon da. Als ich
erstaunt schaute, meinte Beverly, seine Frau, nur: Wir sind zweihundert
gefahren.
Michael Hamburger, der in Berlin geborene englische Lyriker, saß neben John,
und bald hatten sich die beiden ganz in Geschichten und Anekdoten verloren.
Meistens erzählten sie aus London, von den Bombennächten und dem Erstaunen,
dass am Morgen einfach ein Haus fehlte, als man aus der Underground trat,
von den Aktstudien in der Art School, wo John Aufnahme fand und »zwischen
dem Alarm der Luftschutzsirenen nur einen einzigen Gedanken hatte: Ich
wollte nackte Frauen zeichnen. Den ganzen Tag lang… Auf diese Weise lernte
ich mit meinen Augen das Geheimnis von Anatomie und Liebe ein wenig
eindringlicher zu befragen«. Das London ihrer Studientage, wo sich Michael
Hamburger mit W. H. Auden und T.S. Eliot im Treppenhaus von Faber & Faber
über das poetische Bild stritt, war uns an diesem Abend so vertraut und so
fern, als ob man auf einen Stadtplan schaut, die Umrisse der Stadt erkennt,
aber nur zufällig einen bekannten Namen wieder findet.
Die beiden überlegten, ob sie sich doch einmal bei Canetti in Hampstead
getroffen haben können, wo viele der Exilanten regelmäßig zusammentrafen und
den Exkursen des Autors von Masse und Macht lauschten. John lernte hier
einige deutsche Kulturtheoretiker kennen, die ihrer Herkunft und
soziologischen Fragestellungen wegen aus Deutschland vertrieben worden waren
und die den jungen Zeichner tief prägen sollten: darunter Max Raphael und
Ernst Fischer. Mit ihren Büchern im Gepäck begann er seine Arbeit als
Kunstkritiker und Kurator. Auf den Leinwänden der Maler seiner Generation
wollte er seine Liebe zur Anatomie genauso wieder finden wie sein
politisches Engagement: der Schrecken über die Lücke in der Häuserzeile.
Plötzlich waren wir bei John Eskell, dem englischen Landarzt, dem John
gemeinsam mit dem Photographen Jean Mohr ein Buch gewidmet hatte. Weißt du
noch, sein plötzlicher Tod, keiner hätte das je gedacht. Auf einmal
schnurrten die ganzen Geschichten zu einer einzigen zusammen, die von dem
Arzt, der wie kein zweiter den Menschen helfen konnte und auch half und
trotzdem sich das Leben nahm. Vielleicht stand er vor einer Entscheidung,
hinter der ein Glück lauerte, vor dem er zurückschreckte? Wie schwer kann in
diesem Jahrhundert ein Glück werden?
Es wurde still, nur die Grillen zirpten, und wir stießen an – auf den
Stadtplan, der all diese Geschichten miteinander verknüpfte, auf die
Glyzinien und auf das Motorrad.
2
Einmal trafen wir uns im Museum Am Römerholz in Winterthur, um dort
Goya-Gemälde zu betrachten. Selten hätte er in einem Museum so viele Bilder
angetroffen, erzählte John begeistert, die er aus Büchern kannte, aber von
denen er nicht wusste, wo sie hingen. Also hier. Er lief zwischen den
Gemälden umher, als begrüße er alte
Bekannte. Dann wurde er nachdenklich, und in dem kleinen Saal, wo damals die
spanischen Bilder waren, erklärte er eine der Ironien der Geschichte. Dort
hingen zwei Porträts, auf denen Goya Freunde von sich dargestellt hatte,
neben dem Bild eines Inquisitors von El Greco, der skeptisch und
misstrauisch links unter seiner Brille hervor die beiden Figuren Goyas nicht
aus den Augen ließ. Zweihundert Jahre liegen zwischen Goya und El Greco,
aber noch immer lag auf den zwei Freunden der Blick der Inquisition, die
auch Goya verfolgte. Jetzt waren die Bilder hier im Exil wie der ältere der
beiden Männer, den Goya in Bordeaux fern der Heimat kurz vor seinem Tod
malte. Dass sie hier zusammen hingen, machte die drei Bilder zum Zeichen
eines politischen Zwangssystems, dem man auch im Exil nicht entrinnt.
Vom Kolorit zu den Napoleonischen Kriegen auf der Iberischen Halbinsel, von
den Reisen Goyas an die Front, wo er mitten in den Kämpfen zeichnete – mit
einigen Andeutungen und Sätzen stand plötzlich einer von Johns Essays im
Raum, ein Aufsatz, der nie geschrieben werden würde. Bergers Wissen blieb
wie immer im Rucksack, man spürt, es ist da und kann schnell hervorgezogen
werden, man kann ihm vertrauen, aber Berger trägt es nicht vor sich her. Er
hat die Hände frei für sein Gegenüber und zeigt lieber auf die Bilder selbst
als auf seine Kenntnis: ein Fingerzeig auf den Fisch eines Stilllebens, das
– eine kleine eingeflochtene Erzählung – Goya malte, als eine Hungersnot
Madrid heimsuchte. Er hatte den Fisch aus der Vorstellung dahingesetzt, und
deshalb wohl die rote Spur eines Blutgerinnsels dort, das – in einem
Fischgeschäft wäre es ein unangenehmes Detail – genau die Stelle markiert,
wo der Hunger durch das Lachsrosa bricht.
Als sähen wir das Bild zum ersten Mal, blinzelten wir über das gemalte
Fleisch, nickten den beiden Freunden Goyas zu, während John schon vor dem
Bild eines Mannes stand, den Géricault fast gleichzeitig mit Goya,
hundertsechzig Jahre vor uns, in einer Narrenanstalt gemalt hatte und der
John an einen Obdachlosen erinnerte, den er zuletzt in Paris ein-, zweimal
in der Metro gesehen hatte. Ob er es ist, der in King wiederkehrt?
3
Fische, Blumen, Freunde, das hätte er am liebsten, erklärte John in der
Küche des kleinen Bauernhauses in Savoyen, wo er lebt. Er stand am Herd.
Yves, der jüngste Sohn, war da, der im nahen Genf Malerei studiert und im
Moment sich ausschließlich mit Kühen beschäftigt – erst morgens den Stall
ausmisten, dann zwei Stunden zeichnen, Tag für Tag. John erzählte von seiner
Tochter Katya, die in Athen lebt, von seiner Schwiegertochter, einer
Spanierin, von ihrem frühen Tod an Aids – und dem Schock, der in dem Roman
Auf dem Weg zur Hochzeit widerhallt. Im Moment hätten sie beim Nachbarn noch
Schweine, die sie aber bald schlachten müssten, das eine gehöre einem
Freund, Schauspieler aus London – und so reihte sich eine Erzählung an die
nächste, bis nicht mehr zu unterscheiden war, welche Gestalt aus einem Buch
stammte und welche gleich durch die Tür treten könnte.
Diese Verwirrung des Gegenübers ist das größte Glück des Erzählers, und es
wiederholte sich, als wir spät nachts noch einmal die kurze Dorfstraße
hinaufgingen. Hier leben noch einige Menschen, die wir aus Sau-Erde und
Spiel mir ein Lied kennen. Als John in den Siebzigern in das kleine Dorf
zog, half er den Nachbarn beim Heuen und wurde allmählich zum Archivar ihrer
Geschichten, die er in seinen Erzählungen bewahrte. Eine von ihnen zeigt,
wie sich die Kleinbauern die Nachwelt vorstellten: Auch im Paradies müssen
sie, wie ihr Leben lang, arbeiten, aber jetzt dürfen sie es im Sonntagsanzug
tun. Vielleicht ist das nur ein kleines Glück, das ihnen ihre Demut erlaubt,
aber Glück kennt keinen Wechselkurs, und jedes wiegt gleich schwer.
In klaren Bergnächten scheinen die Sterne näher. Unter ihrem leichten
Leuchten versuchte ich, im Horizont, der das Tal nach hinten abschließt, die
Topographie dieser Geschichte wieder zu entdecken. Hinter den Bergen
entspringt der Po, und schaut man auf der Gegenseite hinunter, sieht man das
Tal eines Flusses, der in die Rhone mündet. Kein Zweifel, Bergers Küche
steht mitten in Europa, und das kleine Tal ist vielleicht ein großes Ohr, in
dem seine Geschichten widerhallen. Mitten in Europa.
(aus der
Pressemappe des Hanser-Verlages zum Autor, 23.09.09)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.03.2020