Die Kurzgeschichte "Eine Frage des Platzes" aus
John Bergers
"SauErde. Geschichten vom Lande", die 1982 in
deutscher Übersetzung erschienen sind, schildert detailliert die
Schlachtung einer Kuh in einem Familienbetrieb, bestehend aus Vater,
Mutter und Sohn.
Der Text setzt ein mit dem Verhüllen der Kuhaugen mittels einer schon
vielfach benutzten Ledermaske. Trotz Widerstrebens wird die Kuh vom Sohn
ins Schlachthaus geführt, wo sie innerhalb kurzer Zeit von ihm mittels
eines Federbolzenschusses in den Kopf getötet wird. Das Eintreten des
Todes wird mit den einzelnen körperlichen Reaktionen (Einknicken der
Beine, Zusammensacken des Körpers, Entspannung der Muskulatur, Zittern
der Nüstern, Herausfallen der Zunge, Luftstöße der Hinterbeine)
beschrieben. Des weiteren schildert der Text die Zerteilung der Kuh,
angefangen beim Herausschneiden der Zunge, über die Häutung, die
Abtrennung der Hufe bis zur Zerlegung der beiden Seiten. Schließlich
erfolgt das Wiegen des Fleisches vor den Augen des Bauern, ihres
bisherigen Besitzers, der das Geschehen mehrmals kommentiert.
Der Text ist allerdings weitaus mehr als die Erzählung dieser einzelnen
Momente der Schlachtungsprozedur. Es werden die verwendeten Mittel (z.B.
Ledermaske) und technischen Vorrichtungen (z.B. System von Schienen)
ebenso in ihrer Bedeutung reflektiert wie die Beziehungen der im
Schlachthaus anwesenden Personen: des Sohnes - der Tötung und Schlachtung
vornimmt - zur Mutter, die ihm mit Handgriffen assistiert und ihren mit
der Teilung eines Pferdes beschäftigten schon älteren Mann auf dem Gang
zum Pinkeln beobachtet, sowie die Tötung der Kuh rechtfertigenden
Bemerkungen des Bauern. Darüber hinaus zeichnen den Text kommentierende
Betrachtungen des auktorialen Erzählers aus, die einmal von der konkreten
Tötung abstrahieren ("Während eines Jahres sorgt die Maske auf dem
zehn Schritt langen Weg zwischen Hungerstall und Schlachthaus für zwanzig
Schritt Nacht.") ein andermal in vergleichender Weise über die
Hinfälligkeit niederstürzender Körper oder Bauwerke philosophieren
("Wenn ein Viadukt birst, scheint das Mauerwerk ... langsam in das
Tal hinabzufallen. Genauso die Wand eines Gebäudes, im Anschluss an eine
Explosion. Aber die Kuh stürzte so schnell wie der Blitz nieder. Es war
nicht Zement, was ihren Körper zusammenhielt, es war Energie.") oder
die poetische Potenz einzelner Bilder würdigen ("Auf dem
Betonfußboden ... sind Flecken von hellem, zinnoberrotem Blut, der Farbe
von Mohn beim ersten Erblühen, bevor sie sich zu Karmesin vertieft.
Während der Tötungs- und Schlachtungsvorgang in einfachen und oft kurzen
parataktischen Sätzen, zumeist am Anfang der einzelnen Absätze,
beschrieben wird, finden sich die Bewertung oder Bedeutung dieses
Prozesses in den weiteren Sätzen z.T. als Verallgemeinerung ("Eine
Maske macht bei Hinrichtungen das Opfer passiver und schützt den Henker
vor dem letzten Blick aus den Augen des Opfers.";) oder gar in stark
subjektiver Spiegelung ("Es ist verwunderlich, dass ein großes Tier
so schnell stirbt wie ein kleines."; "Leben ist flüssig. Die
Chinesen irrten in der Annahme, das Wesentliche sei der Atem. Die Seele
ist vielleicht der Atem.").
Der Text findet seinen Titel "Eine Frage des Platzes" in der
Schlusssequenz begründet, wo der Platz der geschlachteten Kuh als
leer geworden bezeichnet wird und sein Eingenommenwerden von einem "der
jungen Rinder" als Lernprozess "bis zum nächsten Sommer" .
Im Unterschied zu Linus Reichlins Reportage "Führung
durch den Schlachthof" vermittelt der Berger-Text den Eindruck
eines (noch) sinnhaft wahrgenommenen Tötungsvorganges, weil Täter wie
Opfer in ihrer Besonderheit gesehen werden und nicht in der
Unterschiedslosigkeit der industriellen Fleischverwertung. In dieser
kleinen Welt des Familienbetriebes und der vom Bauer zur Schlachtung
gebrachten Kuh scheint noch vieles an seinem tradierten und deshalb eher
als sinnvoll erfahrenen Platz zu sein.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.03.2020