Über die Stirn der Kuh
zieht der Sohn eine schwarze Ledermaske und bindet sie an den
Hörnern fest. Das Leder ist vom Gebrauch schwarz geworden. Die
Kuh kann
nichts sehen. Zum ersten Mal hat man eine
plötzliche
Nacht über ihre Augen gebreitet. In
weniger als einer Minute wird sie wieder aufgehoben, wenn die Kuh tot ist. Während
eines Jahres sorgt die Maske auf dem zehn Schritt langen Weg
zwischen Hungerstall und Schlachthaus für
zwanzig
Stunden Nacht. |
Erzähler erzählt
scheinbar "neutral" die Wirkungsweise der schwarzen Ledermaske, wobei er
allerdings die Perspektive der Kuh selbst wählt, über die plötzliche Nacht kommt.
Die große Anzahl der in einem Jahr vorgenommenen Schlachtungen wird nur indirekt
vermittelt (1 Minute - 20 Stunden Nacht) |
Das Schlachthaus wird
betrieben von einem alten Mann, seiner Frau, die fünfzehn Jahre jünger ist, und ihrem Sohn, der achtundzwanzig
ist. |
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Da sie nichts sehen kann,
bewegt sich die Kuh widerstrebend, aber der Sohn zieht den Strick um ihre Hörner, die Mutter
folgt und hält den Schwanz der Kuh. |
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"Wenn ich sie
behalten hätte", sagt der
Bauer zu sich selbst
Bauer zu sich selbst, "in zwei Monaten würde
sie kalben. Wir hätten sie nicht mehr melken können. Und nach der Geburt hätte sie
Gewicht verloren. Jetzt ist der beste Moment." zu sich selbst, "in zwei Monaten würde
sie kalben. Wir hätten sie nicht mehr melken können. Und nach der Geburt hätte sie
Gewicht verloren. Jetzt ist der beste Moment." |
Bauer spricht nur
mit sich selbst (keine sprachliche Kommunikation unter den Beteiligten) |
Am Tor zum
Schlachthaus sträubt sich die Kuh wieder. Lässt sich dann hineinziehen.
Drinnen, hoch oben unter dem Dach, ist ein System von Schienen. Auf den Schienen laufen
Räder und von jedem Rad hängt eine Stange mit einem Haken am Ende herab. An diesem Haken
aufgehängt, kann ein Pferdekadaver von vierhundert Kilogramm von einem Vierzehnjährigen
geschoben oder gezogen werden. |
statt sich der
Todesangst des Tieres zuzuwenden, beschreibt der Erzähler technische Details der
Schlachthausausstattung! |
Der
Sohn setzt
der Kuh den Federbolzen an den Kopf. Eine Maske macht bei Hinrichtungen
das Opfer passiver und schützt den Henker vor dem letzten Blick aus den
Augen des Opfers. Hier gewährleistet die Maske, dass die Kuh den Kopf nicht vom Bolzen
wegdreht, der sie betäubt.
Die Beine knicken ein und der Körper sackt
im selben Moment zusammen. Wenn ein Viadukt
birst, scheint das Mauerwerk - aus der Entfernung gesehen - langsam in das Tal
hinabzufallen. Genauso die Wand eines Gebäudes, im Anschluss an eine Explosion.
Aber die Kuh stürzte so schnell wie der Blitz nieder. Es war nicht Zement, was ihren Körper zusammenhielt, es war
Energie. |
Die
"Hinrichtung der Kuh"
- Vergleich zwischen Hinrichtung von Schwerverbrechern und "Hinrichtung"
der Kuh
- Vergleich zwischen
der Zerstörung "toter" Materie und bioenergetischer Masse
= Erzähler versucht das Geschehen weiterhin
distanziert zu sehen, meldet sich aber auch eindeutig zu Wort. |
"Warum haben sie
sie gestern nicht geschlachtet?" sagt der
Bauer zu sich selbst.
Bauer zu sich selbst. |
s.o. fungiert
quasi
als Einschub in die Beschreibung des Tötungsvorganges |
Der
Sohn
treibt eine Metallfeder durch das Loch im
Schädel in das Hirn der Kuh. Sie geht
fast zwanzig Zentimeter hinein. Er lässt sie vibrieren, damit sich auch wirklich
alle Muskeln des Tieres entspannen, dann zieht er sie heraus. Die Mutter hält das
obenliegende Vorderbein mit beiden Händen am Hufhaar fest. Der
Sohn macht
den Einschnitt am Hals und das Blut fließt heraus auf den Boden. Einen Moment lang nimmt es die Gestalt
eines gewaltigen samtenen Rockes an, dessen winziger Bund der Wundrand ist. Dann fließt es weiter, mit
nichts mehr vergleichbar.
Leben ist flüssig.
Die Chinesen
irrten in der Annahme, das Wesentliche sei der Atem. Die Seele ist vielleicht der Atem.
Die rosigen Nüstern der Kuh zittern noch. Das Auge starrt sichtlos und die Zunge fällt ihr seitlich aus
dem Maul |
quasi technische
Beschreibung der endgültigen Tötung des Tieres unter den Bedingungen der
Fleischverwertung (Muskelentspannung)
beschönigender
Vergleich als Mittel, um innere Distanzierung zu bewahren; Blut als Symbol des Lebens,
Verbluten = Tod
Reflexion des Erzählers an der Schwelle zum Exitus
|
Wenn die
Zunge
herausgeschnitten
Zunge
herausgeschnitten wird, wird sie neben den Kopf und die Leber gehängt. Alle
Köpfe, Zungen und Lebern hängen zusammen in einer Reihe. Die Kiefer klaffen offen,
zungenlos, und jede der runden Zahnreihen ist ein wenig mit Blut verschmiert, als hätte
das Drama damit begonnen, dass ein Tier, das kein Raubtier war, anfing, Fleisch zu
fressen. Auf dem Betonfußboden unter den Lebern sind Flecken von hellem,
zinnoberrotem Blut, der Farbe von Mohn beim ersten Erblühen, bevor sie sich zu Karmesin
vertieft.
Aufbegehrend, zweifach im Stich gelassen von
Blut und Hirn, krümmt sich der Körper der Kuh mit Gewalt und die Hinterbeine stoßen in
die Luft.
Es ist verwunderlich, dass ein großes Tier so schnell stirbt wie ein
kleines.
|
beginnende
Zerteilung der Kuh,
Hinweis auf Tötung vieler anderer Tiere,
Verlust der Singularität des Geschehens, Tier wird zum Fleisch!
Tod und Leben in einem Bild! |
Die
Mutter
lässt das Vorderbein los - als wäre der Puls nun zum Zählen zu schwach -, und schlaff
fällt es gegen den Körper. Der Sohn fängt an, das Fell um die Hörner wegzuschneiden. Der Sohn hat
das Tempo vom Vater gelernt, doch nun sind die Bewegungen des
alten Mannes langsam. Bedächtig
zerlegt der Vater hinten im Schlachthaus ein Pferd in zwei Teile.
Zwischen Mutter und Sohn herrscht
Komplizenschaft. Wortlos stimmen sie ihre Arbeit aufeinander
ab. Gelegentlich werfen sie sich einen Blick zu, ohne zu lächeln, doch mit Verständnis.
Sie holt einen vierrädrigen Karren, ähnlich einer verlängerten, sehr großen Lore im
Tagbau. Er schlitzt jedes Hinterbein mit einem einzigen Schnitt seines winzigen Messers
auf und steckt die Haken hinein. Sie drückt den Knopf und setzt den elektrischen Hebezug
in Gang. Der Kadaver der Kuh wird hochgezogen, hängt über beiden, wird auf dem Rücken in
den Wagen gesenkt. Gemeinsam schieben sie den Wagen vorwärts.
Sie arbeiten wie Schneider. Unter dem Fell ist die Haut weiß. Sie öffnen das Fell vom
Hals bis zum Schwanz, so dass es zu einem aufgeknöpften Mantel wird. |
im Gegensatz zum
"schnellen Tod" der Kuh nun deutliche Verlangsamung
Vater zerlegt, ohne Notiz von dem Vorgang zu nehmen, ein Pferd
Erzähler nimmt Partei (Komplize!)
Vergleich verliert jeden Bezug zum Lebewesen
|
Der Bauer,
dem die Kuh gehört, kommt zum Wagen herüber, um zu zeigen, warum sie geschlachtet werden
musste; zwei ihrer Zitzen waren in Verwesung übergegangen und es war
unmöglich, die Kuh zu melken. Er nimmt eine Zitze in die Hand. Sie ist so warm im Stall,
als er sie molk. Die Mutter und der Sohn
hören ihm zu, nicken, geben aber keine Antwort und halten in der Arbeit nicht inne. |
Bauer muss die
Tötung als eine Art Notschlachtung vor sich legitimieren |
Der
Sohn löst
die vier Hufe aus, dreht sie ab und wirft sie in eine Schubkarre. Die
Mutter
entfernt das Euter. Dann zerhackt der Sohn durch den Schnitt im Fell hindurch das
Brustbein. Es ähnelt dem letzen Beilhieb gegen einen Baum, bevor er fällt,
denn von diesem Moment an wandelt sich die Kuh, nun kein
Tier mehr, zu Fleisch, gerade so wie sich der Baum zu Holz verwandelt.
Der Vater lässt von seinem Pferd ab und schlurft quer durch das Schlachthaus, um hinauszugehen und zu pinkeln. Das macht er jeden Morgen drei- oder viermal. Wenn er in anderer
Absicht geht, geht er rüstiger. Doch ist es schwer zu sagen, ob er jetzt wegen des Drucks
auf seiner Blase schlurft oder um seine sehr viel jüngere Frau daran zu erinnern, dass
sein Alter vielleicht kläglich ist, seine Autorität aber unerschütterlich.
Ausdruckslos sieht die Frau ihm zu, bis er an die Tür kommt. Dann wendet sie sich wieder würdevoll
dem Fleisch zu und beginnt, es abzuwaschen und dann mit einem Tuch trocken zu tupfen. Der
Kadaver umhüllt sie, doch nahezu alle Spannung ist fort. Eine Speisekammer könnte sie so
aufräumen. Nur dass die Fibern des
Fleisches vom Schock der Schlachtung noch zucken, genau wie im Sommer das Fell am Hals
einer Kuh, um die Fliegen aufzuscheuchen.
Der Sohn zerlegt die beiden Seiten Rind mit
vollendeter Symmetrie. Es sind nun
zwei Fleischseiten, wie sie die
Hungernden seit Hunderttausenden von Jahren sich haben träumen lassen. Die Mutter schiebt sie das Schienensystem entlang zur Waage. Sie
wiegen zusammen zweihundertsiebenundfünfzig Kilogramm. |
Zerlegung der Kuh
Metamorphose vom Tier zum Fleisch im Bewusstsein des Erzählers
Fleisch geworden hat die Kuh nun nur noch einen Kilopreis! |
Der
Bauer
überprüft die Anzeige auf der Skala. Er hat sich mit neun Francs das Kilo einverstanden
erklärt. Er bekommt nichts für die Zunge, die Leber, die Hufe, den Kopf, die Därme. Die
Teile, die man den Armen in der Stadt verkauft, bekommen die Armen auf dem Land nicht
bezahlt. Und für das Fell wird er auch nicht bezahlt. |
Bauer
als Objekt der Ausbeutung |
Zu Hause im
Stall ist der Platz, den die geschlachtete Kuh innehatte, leer. Eines der jungen
Rinder kommt dorthin. Bis zum nächsten Sommer wird es lernen, sich an den Ort zu erinnern
und dann weiß es jeden Abend und Morgen, wenn es von den Feldern zum Melken geholt wird, welches
sein Platz im Stall ist.
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Es ist alles eine
Frage des Platzes! |
(aus: John Berger, SauErde.
Geschichten vom Lande. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius, München Wien:
Carl Hanser Verlag 1982, S.7 -11) |
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.03.2020
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