"Sobald es geht, raus aus dem Elternhaus", sagen die einen, "Ich fühle mich zu
Hause eigentlich ganz wohl" sagen die anderen. Laut Angaben des Statistischen
Bundesamtes für das Jahr 2022 wohnte mehr als jeder vierte junge Erwachsene im
Alter von 25 Jahren noch im Elternhaus (27,3%). Von denen, die 30 Jahre alt
sind, lebten zu diesem Zeitpunkt noch 9,2% bei ihren Eltern.
Auffällig ist, dass Söhne immer noch länger zu Hause bleiben. Im Durchschnitt
waren sie beim Auszug 24,5 Jahre alt, die jungen Frauen dagegen 23,0 Jahre.
Beide Geschlechter übergreifend kam man auf ein durchschnittliches Auszugsalter
von 23,8 Jahren. Immerhin: Der Trend der letzten fünf bis sechs Jahre zeigt,
dass junge Leute früher ausziehen. Dies ist umso bemerkenswerter, weil der
Mangel an bezahlbarem Wohnraum inzwischen riesengroß ist und auch die
Lebenshaltungskosten kräftig gestiegen sind.
Trotz alledem: "Es ist noch immer enorm, welche Anziehungskraft das Hotel Mama
hat", sagt der Entwicklungspsychologe und Jugendforscher »Klaus
Hurrelmann (geb. 1944), der sich mit dem Thema in zahlreichen Studien,
darunter den verschiedenen »Shell-Jugendstudien
befasst hat.
Während in
vergangenen Zeiten, von denen die Großeltern und die Eltern gerne erzählen, die frühe Nestflucht angesagt war, ist Nesthockerei heute bei
einem größeren Teil der jungen Leute soziale Realität geworden. Alles Hoffen der
Eltern auf ihr "eigenes Leben" (vgl.
Beck, Eigenes Leben 1995) nach
den Kindern ist für viele umsonst. Der
Wenn-die-Kinder-erst-mal-aus-dem-Haus-sind-Traum vieler Eltern? Längst ein »Treppenwitz...
Viele von ihnen werden von ihren Kindern auch ohne
Not um ein Stück ihres "eigenen Lebens" gebracht, wenn die Nesthocker ohne jeden
Skrupel ihr eigenes Lebensprogramm durchziehen. "Sie wollen", wie es schon vor
langer Zeit einmal in einer Glosse der Süddeutschen Zeitung (Das Streiflicht,
27.8.1996) hieß, "in ihrer wohligen Gleichgültigkeit den Eltern nicht direkt das
Leben vergällen, es läuft aber darauf hinaus."
So trifft, wie Hurrelmann betont, auch heute noch oft gängige Klischees zu, die
die Anziehungskraft des "Hotel Mama" erklären: "Der Aufwand für den eigenen
Haushalt - Wäschewaschen, Kochen und Einkaufen - entfällt dann, auch die Kosten
sind geringer" (Südkurier, 06.09.23). Aber es gibt eben auch die andere Seite:
Viele Eltern tun dies alles mehr oder weniger bereitwillig und nähmen den
eigenen Kindern eben alles Mögliche ab.
Im Allgemeinen wissen die jungen Leute, die länger als gemeinhin üblich zu Hause
wohnen bleiben, den Service, der ihnen im "Hotel Mama" geboten wird (Catering zu
jeder x-beliebigen Tageszeit, Wäsche- und Bügelservice nach Bedarf und
psychologische Betreuung rund um die Uhr) schon zu schätzen. "Meine Mama",
so sagte ein junger Erwachsener, "ist wirklich die beste Mama, die es gibt." Dabei zwinkert er
seiner Mutter zu, die ihre Freude über so viel Lob durch ihren Sohn kaum
verbergen kann. Es zeigt sich im Kleinen, was in groß angelegten Studien
untermauert ist: Die jungen Leute von heute "verstehen sich gut bis hervorragend
mit ihren Eltern" (Albert
u. a. 2010, S. 43)
Da gehen wohl auch die Ratschläge, die Eltern hie und da bekommen, um ihre
Kinder "flügge" zu machen, ziemlich daneben. So könne man doch einfach einen
Möbelwagen für den Nachwuchs bestellen oder, wenn einem gar nichts mehr
einfällt, sich für eine Weile lang in der heimischen Öffentlichkeit, z. B. beim
Einkaufen, so "peinlich" anziehen, dass der Nesthocker vor lauter Scham Reißaus
nimmt. Ob man damit den hart
gesottenen Nesthocker aus dem Haus bekommt ? Und wenn es doch klappt,
steht unter Umständen handfester Zwist zwischen den Eltern ins Haus, deren
Ehekrise mit den Worten beginnt: "Du Rabenvater/-mutter, jetzt hast du unser
Kind endgültig weggeekelt."
Aktuelle Untersuchungen zu der in jüngster Zeit stattfindenden Entwicklung gibt
es derzeit nicht. So muss man schon einige Zeit zurückgehen, um belastbare Daten
zu haben. So fragte 2009/2010 man die jungen Leute zwischen 12 und 25 Jahren, die nicht mehr zur Schule
gehen und noch bei ihrer Herkunftsfamilie wohnen, danach, weshalb sie das taten.
Dafür wurden vor allem drei Gründe genannt: 43% sagen, "dass es für alle am bequemsten
ist". 46% geben an, dass sie "ausziehen würden, wenn sie es sich finanziell
leisten könnten" und 2% sagen, sie zögen ja aus, wenn ihre Eltern sie nur
ließen. Die restlichen 12% meinten, dass keiner der genannten Gründe zuträfe.
(16. Shell-Jugendstudie 2010,
(Leven
u. a. 2010, S. 69)
Meistens freilich zeichnet die Realität ein anderes Bild. "Ablösung und Bindung"
ist eine
•
Entwicklungsaufgabe
(Hurrelmann
2010, S.27), deren Bewältigung den "Umbau der sozialen Beziehungen", wie es
der Entwicklungspsychologe
Helmut Fend (2003, S.269ff.) nennt, verlangt. Doch dieser Prozess
vollzieht sich heute eben anders als früher.
Der ganze Ablösungsprozess von den Eltern stellt sich
heute eben meist als Ergebnis einer von Eltern und Jugendlichen geplanten und
ausgehandelten Sache dar. (vgl.
ebd.)
Und natürlich unterliegt das Auszugsalter aus dem Elternhaus, das
betonen die Forscher immer wieder, auch einem sozialen Wandel. Dieser hat dazu
geführt, dass Jugendliche in Industrieländern heute so spät wie nie zuvor das
Nest ihrer Herkunftsfamilie verlassen. (vgl.
ebd., S. 67,
vgl.
Narve-Herz-Sander 1998)
Eine "normale" Ablösung vom Elternhaus muss sich heutzutage mit dem
Einverständnis aller Beteiligten vollziehen. Sie ist ein Vorgang, der inzwischen
länger dauert und sich in mehreren Schritten vollzieht: Dazu gehört, dass man
aus der elterlichen Wohnung auszieht, seinen Lebensunterhalt ganz oder zumindest
überwiegend selbst bestreitet. Dazu gehört aber auch, dass Heranwachsende ihre
Freizeit unabhängig von den Eltern gestalten, eigene, neue Freunde finden, nach
eigenen Normen und Beziehungssystemen leben und letzten Endes auch die Kontakte
zu den eigenen Eltern verringern. (vgl.
Koch 1991,
S.56 f.) Damit das gelingen kann, sind Eltern und Kinder gleichermaßen gefordert
und sollten vor allem eines vermeiden: Sich, wo es nur geht, gegenseitig
"Psycho-Fallen" aufzustellen, um den jeweils anderen hineinzulocken.
Gesellschaftliche Gründe, warum junge Leute heute insgesamt länger bei ihren
Eltern wohnen (müssen), gibt es nämlich wirklich genug.
Vielleicht hat die oben beschriebene Trendumkehr aber auch die Ursache in einem
Mentalitätswandel, der sich als Folge der Diskussion über moderne Nestocker
ergeben hat. Und möglicherweise hat es auch damit zu tun, dass, wie Hurrelmann
meint, junge Leute heutzutage sehr eigene und spezifische Ausbildungs- und
Berufswünsche hätten, die sich eben nicht mehr am Wohnort der Eltern realisieren
ließen. (vgl. Südkurier, 6.9.23)
So könnte es auch an der Zeit sein, dass Begriffe wie "Hotel Mama" oder "moderne
Nesthocker", die "Faulheit und eine gewisse Langsamkeit im Erwachsenwerden"
implizieren, wie die Ulrike Sirsch, Professorin vom Institut für Entwicklung und
Bildung der Universität Wien, einfach nicht mehr zu dem Prozess des
Erwachsenenwerdens passen, der sich an den traditionellen Kategorien wie einem
festen Beruf, einer stabilen Partnerschaft und eigenen Kindern orientiert. (vgl.
Füßler 2022)
Erwachsenwerden dauert heute aus verschiedenen Gründen einfach länger.
(1065 Wörter)
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Moderne
Nesthocker
▪ Aspekte der Schreibaufgabe
▪ Bausteine