"Wenn
es bei uns in der Familie Konflikte gab, verstand mein Vater wenig Spaß. Seine
So-lange-du–deine-Füße-unter-meinen-Tisch-streckst-Formel ließ einem keine
Wahl", sagt Sabine Rothfeld (63), Mutter von 3 erwachsenen Kindern, 2 davon gut
verheiratet und schon lange außer Haus.
Wenn sie darauf angesprochen wird, wieso
ausgerechnet ihr ältester Sohn Kai im Alter von 32 Jahren immer noch im
Elternhaus wohnt, klingt ihre Antwort fast ein wenig lakonisch: "Früher war das
halt anders", fährt sie fort, "da wollte man einfach so schnell wie möglich von
den Eltern weg." Sie erinnert sich noch genau an die Auseinandersetzungen, als
ihr älterer Bruder seine Haare auch so lange wachsen lassen wollte, wie sein
Idol, »John
Lennon (1940-1980) von den »Beatles.
Das Machtwort des Vaters und das Ganze war vom Tisch. Solange bis ihr Bruder in
ihrer Heimatstadt sein Studium begann. Da zog er "von den Alten" fort, in eine »Mansarde
mit einem winzigen Dachfenster. Dort atmete er die Freiheit, die seine Haare
offenkundig zum Wachsen brauchten.
Sabine Rothfeld ist seit 9 Jahren Witwe. Was sie als Witwenrente bekommt, ist
auch nicht gerade üppig. "Ich komme schon irgendwie zurecht", meint sie und
fährt in einem Atemzug fort: "Ich kann den Jungen doch nicht einfach
hinauswerfen, wenn er mich noch braucht." Der Junge, ihr Sohn Kai, ist ein gut
aussehender junger Mann, wirkt körperlich gepflegt und besucht regelmäßig das
Fitness-Studio. Kai hat nur als Jugendlicher einmal eine Freundin gehabt, mit
der er fast fünf Jahre lang zusammen war, danach mal so, mal so eben. "Ich
genieße mein Single-Leben", sagt er und fügt hinzu: "Ich brauche meine Freiheit,
die ist mir wichtiger als alles andere." Kai hat studiert, dabei das Jurastudium
im fernen Köln nach 4 Semestern abgebrochen und ist dann nach dem Tod seines
Vaters wieder bei seiner Mutter eingezogen, um ein BWL-Studium in seiner
Heimatstadt aufzunehmen. Nach dem Abschluss seines Studiums hat er Glück und
findet auf Anhieb einen gut bezahlten Job in einer 45 km entfernten Kleinstadt.
Seitdem pendelt er jeden Morgen mit dem Zug hin und abends wieder zurück, weil
er sich, wie er meint, "das Leben ohne den Puls einer Großstadt" nicht
vorstellen kann.
Der Fall von Sabine und Kai Rothfeld ist heutzutage nichts Außergewöhnliches
mehr. Allenfalls das Alter von Kai ist auch für die Gruppe moderner Nesthocker
sicher schon etwas weit fortgeschritten. Nichtsdestotrotz, wo eben in
vergangener Zeit die frühe Nestflucht angesagt war, ist Nesthockerei heute bei
einem größeren Teil der jungen Leute soziale Realität geworden. Alles Hoffen der
Eltern auf ihr "eigenes Leben" (vgl.
Beck, Eigenes Leben 1995) nach
den Kindern ist für viele umsonst. Der
Wenn-die-Kinder-erst-mal-aus-dem-Haus-sind-Traum vieler Eltern? Längst ein »Treppenwitz...
Vielen, denen es geht wie Sabine Rothfeld, werden von ihren Kindern auch ohne
Not um ein Stück ihres "eigenen Lebens" gebracht, wenn die Nesthocker ohne jeden
Skrupel ihr eigenes Lebensprogramm durchziehen. "Sie wollen", wie es schon vor
langer Zeit einmal in einer Glosse der Süddeutschen Zeitung (Das Streiflicht,
27.8.1996) hieß, "in ihrer wohligen Gleichgültigkeit den Eltern nicht direkt das
Leben vergällen, es läuft aber darauf hinaus."
Fragt man die jungen Leute zwischen 12 und 25 Jahren, die nicht mehr zur Schule
gehen und noch bei ihrer Herkunftsfamilie wohnen, danach, weshalb sie das tun,
werden vor allem drei Gründe genannt: 43% sagen, "dass es für alle am bequemsten
ist". 46% geben an, dass sie "ausziehen würden, wenn sie es sich finanziell
leisten könnten" und 2% sagen, sie zögen ja aus, wenn ihre Eltern sie nur
ließen. Die restlichen 12% meinen, dass keiner der genannten Gründe zuträfen.
(16. Shell-Jugendstudie 2010,
(Leven
u. a. 2010, S. 69) Interessant auch, dass junge Frauen zwischen 12 und 25
Jahren mit 69% deutlich seltener noch bei ihren Eltern wohnen als gleichaltrige
junge Männer (76%). (vgl.
ebd., S. 68) Natürlich nimmt die Gesamtzahl der Jugendlichen, welchen die
Vorzüge des "Hotel Mama" zuteil werden, mit den Jahren ab. Bis 18 wohnt man
ohnehin zu Hause. Aber auch im Alter von 18 bis 21 Jahren wohnen noch 77% aller
Jugendlichen im elterlichen Haushalt, und auch bei den 22- bis 25-Jährigen leben
noch 38% bei den Eltern bzw. in ihrer Herkunftsfamilie (vgl.
ebd., S. 69)
Im Allgemeinen wissen die jungen Leute, die länger als gemeinhin üblich zu Hause
wohnen bleiben, den Service, der ihnen im "Hotel Mama" geboten wird (Catering zu
jeder x-beliebigen Tageszeit, Wäsche- und Bügelservice nach Bedarf und
psychologische Betreuung rund um die Uhr) schon zu schätzen. "Meine Mama", sagt
Kai denn auch, "ist wirklich die beste Mama, die es gibt." Dabei zwinkert er
seiner Mutter zu, die ihre Freude über so viel Lob durch ihren Sohn kaum
verbergen kann. Es zeigt sich im Kleinen, was in großangelegten Studien
untermauert ist: Die jungen Leute von heute "verstehen sich gut bis hervorragend
mit ihren Eltern" (Albert
u. a. 2010, S. 43)
Natürlich könnte Sabine Rothfeld, die von ihren beiden
anderen Kindern immer wieder zu hören bekommt, sie solle einfach einen
Möbelwagen für Kai bestellen, eine Menge Ratschläge zur Lösung ihres Problems
befolgen. So wird in der inzwischen zahlreichen Ratgeberliteratur auch mal der
Tipp gegeben, sich als betroffener Vater oder Mutter für eine Weile lang in der
heimischen Öffentlichkeit, z. B. beim Einkaufen, so "peinlich" anzuziehen, dass
der Nesthocker vor lauter Scham Reißaus nimmt. Aber wie riskant solche
Unternehmen sein können, hat der Autor der schon erwähnten Glosse, mit seiner
Ironie trefflich analysiert: "Lautes Abspielen von »BAP
oder »Kastelruther
Spatzen, demonstrativer Zoff oder verliebtes Seniorengeturtel zwischen Vater
und Mutter, nervende Fürsorge für die mit ins Nest gezogene Freundin: Den hart
gesottenen Nesthocker bekommt man kaum aus dem Haus." Und wenn es doch klappt,
steht unter Umständen handfester Zwist zwischen den Eltern ins Haus, deren
Ehekrise mit den Worten beginnt: "Du Rabenvater/-mutter, jetzt hast du unseren
Jungen endgültig weggeekelt."
Meistens freilich zeichnet die Realität ein anderes Bild. "Ablösung und Bindung"
ist eine
Entwicklungsaufgabe
(Hurrelmann
2010, S.27), deren Bewältigung den "Umbau der sozialen Beziehungen", wie es
der Entwicklungspsychologe
Helmut Fend (2003, S.269ff.) nennt, verlangt. Doch dieser Prozess
vollzieht sich heute eben anders als früher.
Was Sabine Rothfelds Bruder noch in
einem heftigen Konflikt mit seinen Eltern durchmachen musste, ist nämlich "schon
seit langem nicht mehr prägend für die Heranwachsenden in Deutschland"
(Leven
u. a. 2010, S. 63)
Der ganze Ablösungsprozess von den Eltern stellt sich
heute eben meist als Ergebnis einer von Eltern und Jugendlichen geplanten und
ausgehandelten Sache dar. (vgl.
ebd.)
Und natürlich unterliegt das Auszugsalter aus dem Elternhaus, das
betonen die Forscher immer wieder, auch einem sozialen Wandel. Dieser hat dazu
geführt, dass Jugendliche in Industrieländern heute so spät wie nie zuvor das
Nest ihrer Herkunftsfamilie verlassen. (vgl.
ebd., S. 67,
vgl.
Narve-Herz-Sander 1998)
Eine "normale" Ablösung vom Elternhaus muss sich heutzutage mit dem
Einverständnis aller Beteiligten vollziehen. Sie ist ein Vorgang, der inzwischen
länger dauert und sich in mehreren Schritten vollzieht: Dazu gehört, dass man
aus der elterlichen Wohnung auszieht, seinen Lebensunterhalt ganz oder zumindest
überwiegend selbst bestreitet. Dazu gehört aber auch, dass Heranwachsende ihre
Freizeit unabhängig von den Eltern gestalten, eigene, neue Freunde finden, nach
eigenen Normen und Beziehungssystemen leben und letzten Endes auch die Kontakte
zu den eigenen Eltern verringern. (vgl.
Koch 1991,
S.56 f.) Damit das gelingen kann, sind Eltern und Kinder gleichermaßen gefordert
und sollten vor allem eines vermeiden: Sich, wo es nur geht, gegenseitig
"Psycho-Fallen" aufzustellen, um den jeweils anderen hineinzulocken.
Gesellschaftliche Gründe, warum junge Leute heute insgesamt länger bei ihren
Eltern wohnen (müssen), gibt es nämlich wirklich genug. (1223 W.)
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Nesthocker
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