|
||||
Das
war schon ein düsterer Blick in die Zukunft, die Neil Postman in den
neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts für das heraufziehende
Informationszeitalter in grellen Farben zeichnete. "Wir amüsieren uns zu
Tode" lautete seine Botschaft, zugleich ein Bestseller, der im Billie-Regal
von Ikea jedes nur irgendwie kulturkritischen Zeitgenossen nicht
fehlen durfte. "Aus Millionen von Quellen auf dem ganzen Erdball, aus jedem erdenklichen
Medium - Lichtwellen, Ätherwellen, Telexstreifen, Datenbanken,
Telephondrähte, Fernsehkabel, Satelliten, Druckmaschinen", sahen sie
mit Postman - Information hervorsickern, die, Gott weiß wo, auf "auf Papier,
auf Video- und Audiobändern, auf Platten, Film und Silikon-Chips"
gespeichert waren. (Postman in der Wochenzeitung "Die Zeit" v. 2.9.1992) Und
während wir diesem Sickerprozess zusahen, traf uns die Information, die nach
Postman eigentlich schon "zu einer Art Abfall" geworden war, unvorbereitet,
weil sie, wie er sagte, jeden einfach wahllos treffen konnte, ohne dass sie
eigentlich wirklich für ihn gemeint war. Auf diese Weise habe sie sich die
Information auch "von jeglicher Nützlichkeit gelöst", behauptete er. Und die
eigentlichen Schuldigen waren wir, klagte er uns an, ohne dass wir ihm und
seinen Thesen deshalb die Gefolgschaft verweigert hätten. Natürlich bezog er
auch sich selbst ein, wenn er erklärte: "Wir leiden unter einer Art von
kulturellem Aids.". Die Krankheit, muss man wissen, hatte sich in den
achtziger und frühen neunziger Jahren zu einer weltweiten Seuche entwickelt,
gegen die zunächst kein Kraut gewachsen war. Und so griff Postman zu dem
Vergleich mit Aids, um uns drastisch vor Augen zu führen, wie weit es schon
gekommen und wie wenig Aussicht auf Besserung in Sicht war. Aids jedenfalls
war zu dieser Zeit ein Todesurteil auf Zeit. Ähnlich dem körperlichen
Immunsystem seien, so meinte er, "unsere Abwehrmechanismen gegen die
Informationsschwemme (...) zusammengebrochen" und dies in einem Maße, dass
"unser Immunsystem gegen Informationen" nicht mehr funktioniere. Was nach
Postman aber als Ursache des Ganzen dahinter stand, machte uns erst recht
rat- und orientierungslos. "Wir wissen nicht mehr", holte er zum
eigentlichen Schlag aus, "woher wir kommen und wohin wir gehen und warum."
Das saß. Und hatte er etwa nicht recht, wenn er dazu ausführte, dass wir
"über keinen kohärenten Rahmen" verfügten, "an dem wir uns orientieren
können, wenn wir unsere Probleme definieren oder nach Lösungen für sie
suchen wollen". Und ganz folgerichtig pflichteten wir ihm auch bei, wenn er
das Fehlen einer "kohärente(n) Vorstellung von uns selbst, von unserem
Universum und von unserer Beziehung zueinander und zu unserer Welt"
beklagte, was dazu geführt habe, dass uns auch die "Maßstäbe, mit
denen wir beurteilen können, was sinnvolle, nützliche oder relevante
Information ist", abhanden gekommen seien. Besonderes Augenmerk richtete Postman auch auf die hilflosen und geradezu lächerlichen Handlungen, mit denen wir immunschwachen Opfer der Informationstechnologie, den wahllos, aber unaufhörlich auf uns einsickernden Informationen, doch noch einen Sinn für unseren tagtäglichen Lebensvollzug abgewinnen wollten. "Pseudokontexte für nutzlose Fakten" geißelte er alle jene Inszenierungen, mit denen im Grunde nutzlose Informationen zu vermeintlich nützlichen Wissen gemacht werden, wenn sie in Quizsendungen für Quoten oder als Gesellschaftsspiel a là Trivial Pursuit für volle Kassen in den Spielwarenhandlungen sorgen. Und selbst das gute, alte Kreuzworträtsel machte danach wohl einigen Gefolgsleuten von Postman nicht mehr denn Spaß, den es zuvor noch bereitet hatte. Natürlich wusste auch Postman, dass man nicht die moderne elektronische Datenverarbeitung, die gerade in die Haushalte diffundierennden Heimcomputer, wie man die PCs zu Hause damals nannte, für das Zuviel an verfügbaren Informationen verantwortlich machen konnte. Und vom Internet und seinen Folgen für die Informationsgesellschaft sprachen damals allenfalls Visionäre. Aber während die herkömmliche Druckerpresse die Fülle der Informationen eben noch im Rahmen gehalten habe, habe sich das, was "was als ein Strom nützlicher Informationen begann, sich inzwischen in eine Sturmflut verwandelt." Und wenn Postman, der 2003 gerade in dem Jahr verstarb, in dem Google gerade mal drei Jahre auf der Welt und von sozialen Netzwerken wie Facebook überhaupt noch nicht die Rede war, dann kann man ahnen, was Postman, sofern er seiner Linie treu geblieben wäre, wohl verkündet hätte: Die zweite Sintflut ist da, rette sich, wer kann. Schlecht nur, dass mangels kohärenter Maßstäbe dafür, wen mit der Arche zu retten lohnenswert wäre und wen nicht, niemand mehr die Rolle eines Noah hätte übernehmen können. Gewiss, die Informationsschwemme, mir der wir umgehen müssen, da hat Postman schon recht, kann auch ein Gefühl von Ohnmacht erzeugen, wenn uns Nachrichtensendungen täglich Informationen über furchtbare Ereignisse wie Tsunamis, Hungerkatastrophen, das Abschmelzen des arktischen Eises, Atomunfällen und vieles mehr frei Haus liefern, ohne dass wir, zumindest als einzelne, nur das Geringste dagegen tun können. Und vielleicht stimmt es auch, dass solche Ohnmachtsgefühle mit dazu beitragen, dass wir uns mehr und mehr mit unserer Selbstdarstellung beschäftigen und dafür sogar die Form unserer Nase und die Größe der eigenen Brüste verändern lassen. In einem lässt sich Postman aber auch nach heutigen Erfahrungen und dem Blick von heute in die Zukunft nicht ernsthaft widersprechen, und was er vor so langer Zeit schon gesagt, scheint angesichts der Entwicklung einer so genannten "Augmented reality", einer mit Hilfe des mobilen Internet überall um digitale Informationen erweiterten Realität, richtiger denn je: "Die meisten Menschen glauben immer noch, Information und immer mehr Information sei das, was die Menschen vor allem benötigen. Die Information bilde die Grundlage all unserer Bemühungen um die Lösung von Problemen. Aber unsere wirklich ernsten Probleme erwachsen nicht daraus, dass die Menschen über unzureichende Informationen verfügen." Was sich fast wie ein Schlag ins Kontor von Informationstechnologie-Giganten wie Apple oder sozialen Netzwerken wie Facebook lesen lässt, darf indessen, um Postman nicht für Ziele zu instrumentalisieren, die er nicht verfolgt hat, nicht vergessen, dass für Postman eigentlich nur ein Weg bleibt, die Sintflut abzuwenden, nämlich die Hilfe einer "Erzählung transzendenten Ursprungs" in Anspruch zu nehmen, die "eine Geschichte über die Geschichte der Menschheit, die der Vergangenheit Bedeutung zuschreibt, die Gegenwart erklärt und für die Zukunft Orientierung liefert." Und wer nicht versteht, was damit gemeint ist, muss seinen Blick mit Postman nur einmal auf die Welt des Mittelalters richten, in der sich die Welt den Menschen zwar noch "voller Rätsel und Gefahren" dargestellt habe. Und doch hätten auch "einfache Männer und Frauen", wenn auch nicht ganz, verstanden, "wie sich die raue Wirklichkeit ihres Daseins in den großen, wohltätigen Plan des Universums fügte, aber sie zweifelten nicht daran, dass es einen solchen Plan gebe, und ihre Priester waren imstande, ihn mit Hilfe einer Handvoll abgeleiteter Prinzipien wenn schon nicht als rational, so doch als kohärent darzustellen." Gert Egle, www.teachsam.de, 18.3.2012 Worterklärungen |
||||
Arbeitsanregungen zur Texterörterung:
|
||||