Noch eine ganze Menge unklar im
didaktischen Raum
Der ▪ Essay
als ▪ schulische Schreibform wirft nicht zuletzt
auf Grund der Unschärfe vorliegender Definitionen geradezu zwangsläufig die
Frage auf, wie eine solche Schreibform überhaupt unterrichtet und mit
Zensuren benotet werden kann. (vgl.
Hussong 1982,
S.155; vgl.
Ulmer 2012,
S.13)
In
▪
Baden-Württemberg,
wo der
▪
Essay ab 2014 in allen Gymnasien als
▪
Aufgabentyp IV des
schriftlichen Abiturs verankert ist, ergibt sich die Legitimation des
Lerngegenstandes aus einem klaren Bezug zu den
»Bildungsstandards für das Fach Deutsch.
Sowohl im Hinblick auf die
darin unter den Leitgedanken als zentrale Aufgaben formulierten Prinzipien
als auch unter dem Blickwinkel des Kompetenzerwerbs im Fach Deutsch lässt
sich der schulische Essay bzw. essayistisches Schreiben in der Schule für
den Unterricht in Sekundarstufe II mit einem klaren
Bildungsplanbezug legitimieren. (▪
Bildungsstandards
für das Fach Deutsch - Baden-Württemberg)
Rezeptive und produktive Arbeit mit Essays
Dieser Bildungsplanbezug gilt sowohl für die rezeptive,
vorwiegend textanalytisch ausgerichtete Textarbeit (▪
Literarästhetische Rezeptionskompetenz,
als auch für die produktive Arbeit beim
Verfassen eigener Essays durch Schülerinnen und Schüler (▪
Literarästhetische Produktionskompetenz).
Üblicherweise kommen im Rahmen eines kompetenzorientierten
Essayunterrichts in der gymnasialen Oberstufe beide Formen der
Arbeit mit Essays
zum Zuge.
So findet auch die Textarbeit mit den formalästhetisch und poetologisch so
unterschiedlichen ▪
Essays als Kunstprosa, die literaturwissenschaftlich zu den
▪
literarischen Zweckformen (literarisierte Gebrauchstexte) gezählt werden kann, im
▪
kompetenzorientierten
Literaturunterricht
der Oberstufe ihren Platz. (▪
Literarische Kompetenz)
Die alte Streitfrage: Ist der Essay eigentlich Kunstprosa?
Da der
▪
Essay
in seiner, wie auch immer gearteten, literarischen Form lange Zeit
als
"Kunstprosa"
bzw. "nichtfiktionale Prosa von hoher literarischer Bedeutung" (Reich-Ranicki
2006)
angesehen worden ist - zum Teil ist das durchaus
heute noch so - hat man folgerichtig auch die Form vor den Inhalt und
die Aussage gesetzt. Bis in die Gegenwart hält die Diskussion darüber an, ob
der Essay zusammen mit anderen
▪
literarisierten
Gebrauchstexten (literarischen Zweckformen) als eine eine Art
vierte Gattung der Literatur
aufgefasst werden sollte. (▪
Überblick:
Der Essay als literarische Zweckform)
Sicher kann
man dem Essay auch weiterhin bescheinigen, dass ihm "an einer künstlerischen
Form gelegen" ist (ebd.),
was sich aber dahinter verbirgt, bleibt nichtsdestotrotz nur in Umrissen
erkennbar. Und so müssen sich "viele Autoren, deren Artikel keinerlei
künstlerischen Anspruch erheben können," von Marcel
Reich-Ranicki (2006) vorhalten lassen, sie bezeichneten solche Artikel
gerne als "Essays", "um so ihre Arbeit zu nobilitieren."
Der moderne Essay ist sehr vielfältig
Heute ist diese Verengung des Essaybegriffs aus
verschiedenen Gründen weitgehend überwunden. So ist es inzwischen Gemeinplatz geworden, dass
es Essays gibt, die als wissenschaftliche und
Essays, die als
▪ journalistische Textsorten aufgefasst werden
können. (vgl.
Stadter 2003, S. 66) Ähnlich sehen dies u. a. auch
Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.25), welche die
Zwischenstellung des Essays als
"Sachtextsorte
zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und journalistischem Feuilleton"
betonen.
Während man in der Literaturwissenschaft angesichts der Vielzahl
konkurrierender Definitionen mittlerweile dazu neigt, eine konsensfähige
▪
Minimalformel zu verwenden, die gegenüber der großen Vielfalt
essayistischer Formen offen genug bleibt, spricht man in der
Textlinguistik davon,
dass das ▪ Textmuster Essay "nur von wenigen Experten beherrscht" wird (Heinemann/Heinemann
2002, S.140).
Dementsprechend wird der Essay, der
▪englischen Tradition folgend, den "disputierenden Textsorten" zugeschlagen, die
"ein bestimmtes theoretisches Problem in einem mehr oder weniger großen
Umfang und unter Einbeziehung eines mehr oder weniger umgreifenden
Zusammenhangs [...] erörtern." (Rolf
1993, S.194ff.) Daher wird im universitären Bereich häufig die
"Wissenschaftlichkeit" der Schreibform betont, die sich im
▪
angelsächsischen Sprachraum auch in der Bezeichnung ▪"academic
essay" niederschlägt.
An deutschen Universitäten wird dies am so
genannten
philosophischen Essay deutlich.
Dieser wird in deutlicher
Abgrenzung vom "literarischen Essay" als "eine kurze systematische
Abhandlung zu einem philosophischen Sachproblem oder einem philosophischen
Text" definiert, der "systematisches Vorgehen, Genauigkeit, ein(en) klare(n)
Aufbau und eine verständliche Sprache" erfordere. (Was
ist ein Essay? Uni-Bielefeld, Philosophische Fakultät 2007) In dieser
Form wird der Essay zu einer kürzeren
▪
wissenschaftlichen Abhandlung.
Aber auch in einem anderen Kontext und Kommunikationszusammenhang spielt der
Essay an der Universität mittlerweile eine größere Rolle.
Oft hängt nämlich schon das Ergattern eines Studienplatzes an einem Essay, der in
der Kombination mit Aufnahmegespräch, einem Motivationsschreiben und einer
Empfehlung eines Lehrers erst das Tor zum Studium aufstößt. Verlangt werden
im Rahmen verschiedener Bewerbungsverfahren im Allgemeinen Essays nach ▪
angloamerikanischem
Muster, insbesondere die Typen:
▪ Personal Essay oder ▪Admission Essay.
Nicht nur
deshalb, sondern weil auch weiterführende Schulen inzwischen zu ähnlich
verlaufenden Bewerbungsverfahren übergehen, müssen
auch diese angloamerikanischen Formen künftig Teil des Deutschunterrichts in
der gymnasialen Oberstufe werden. Hierzu müsste indessen, schon allein aus
methodisch-didaktischen Gründen, der Begriff Essay offener als in der für
die
▪
Abiturprüfung z.B. in Baden-Württemberg verlangten Weise definiert
werden. Dass diese unterschiedlichen Formen des Essays also längst an den den Universitäten angekommen
sind, kann wohl auch als Ausdruck
der Globalisierung angesehen werden, die auch zu einer Angleichung
"akademischer Schreibformen" führt. Jedenfalls zeugen nicht zuletzt die Vielzahl der im World Wide
Web mittlerweile zugänglich gemachten Grundlagentexte zur Schreibform bzw.
entsprechende Leitfäden zur Abfassung von Essays. (→Links
ins WWW) davon, dass dieser Prozess längst in Hang gekommen ist.
Herausforderungen für die Didaktik und Methodik des essayistischen Schreibens
in der Schule
Eine Didaktik und Methodik des essayistischen Schreibens, das die
besonderen Qualitäten der Schreibform im Rahmen der Kompetenzentwicklung ins
Auge fasst, muss das personal-kreative als auch das argumentativ-diskursive,
sowie das ästhetische Potential der Schreibform entfalten. Dazu gehören u. a.
(vgl. Stadter (2003/2004, S.41ff.)
-
die frühzeitige, schon in der Primarstufe einsetzende und in der
Sekundarstufe I fortzuführende, fächerübergreifende Schreibförderung und
das Einüben unterschiedlicher Schreibrollen
-
"die Einsicht, dass Schreiben etwas mit der Persönlichkeit, den
Erfahrungen und der Sprache des Verfassers zu tun hat" (ebd.,
S.42)
-
offen gestaltete Lernumgebungen, bei denen die schnelle
Stoffvermittlung nicht im Zentrum steht
-
individuelle Betreuung und Beratung durch die jeweilige Lehrkraft
bzw. einen Schreibtrainer
In Großbritannien sind, wie
Stadter (2003/2004, S.41ff.)
weiter ausführt, die Lehrkräfte in einem bestimmten
Setting des essay
writing offenbar besonders erfolgreich, das, wie sie sagt, eine
"Sphäre der Ermutigung" darstellt. Das funktioniere aber vor allem auch, "weil Lehrer und
Lehrerinnen selber gerne und gut schreiben, weil sie ausgiebige Korrekturen
und Beratungen leisten und weil Schreiben nicht nur im muttersprachlichen
Unterricht, sondern auch in den übrigen Fächern praktiziert und also solches
entwickelt und bewertet wird." (ebd.,
S.41)
Für die Aufsatzdidaktik in der Schule hat
Hussong (1982, S.135) eine Definition
der
Schreibform
Essay formuliert: "Ein Essay ist eine Textform, die eine gedankliche
Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt (expositorisch, analysierend,
interpretierend) oder mit Meinungen (argumentierend), die den Schreiber
persönlich angehen, zum Grund und zum Ziel hat." Dazu ist der Essay
"persönlich, konkret, ausgeführt, ästhetisch gestaltet, kritisch,
undogmatisch." Wenn die Definition ebenso undogmatisch verwendet wird, kann
man aus ihren Formulierungen zwar eine Reihe von Textsortenmerkmalen von
Essays entnehmen, aber mehr als eine Aufforderung zur Merkmalkombinatorik
sollte man angesichts der Vielzahl der Erscheinungsformen des Essays
vielleicht darin nicht sehen.
Als Arbeitsdefinition kann dafür auch die
Formulierung in den "Handreichungen"
des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart (2004, S.131)
helfen: "Der Essay ist ein - möglichst nicht zu umfangreicher - stilistisch
anspruchsvoller Prosatext, in dem ein beliebiges Thema unsystematisch,
aspekthaft dargestellt wird.
Im Essay wird das Denken während des Schreibens als Prozess, als Experiment
entfaltet, es wird zur Möglichkeitserwägung, zur unabgeschlossenen fragenden
Wahrheitssuche, die das gedankliche Fazit dem Leser überlässt."
In ähnlicher Weise wird der Essay von
Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.25) gesehen. Sie sehen in ihm einen
stilistisch anspruchsvollen Text, was sich insbesondere aus der
Zwischenstellung als
Sachtextsorte zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und journalistischem
Feuilleton ergebe. Übereinstimmung gebe es, so die Autoren weiter,
inzwischen darin, dass Essays
-
ein begrenztes Thema von
öffentlichem Interesse (kulturell, literarisch, politisch,
gesellschaftlich) ohne Anspruch wissenschaftlicher Gründlichkeit oder
eindeutiger Antworten behandeln
-
ein Thema betont subjektiv
betrachten und beschreiben und dabei auch provokative und
widersprüchliche Aussagen verwenden können
-
ihre Leser zur eigenen
Meinungsbildung anregen und herausfordern
Ulmer (2012.
S.9) verkennt die Bedeutung einer Aufzählung von Textsortenmerkmalen des
Essays, die sowohl "offene wie geschlossene Strukturaspekte des Essays
gleichermaßen berücksichtigt." (ebd.
S. 16) nicht, sieht allerdings in den etwas verstaubt ins Abseits geratenen
metaphorischen Umschreibungen, wie z.B. der Metapher vom
"Gedankenspazierung", ein didaktisches Potenzial, das den gerade für den
Schüleressay so wichtigen affektiven Aspekten beim Schreiben von Essays zum
Ausdruck verhelfen kann. Dies ist auch deshalb wichtig, weil die gedankliche
Auseinandersetzung mit einem Thema, mit der wie beim Schreiben eines Essays
auch "(neue) Einsichten schreibend gewonnen werden"
(Baurmann
2002/2008, S.15) auf verschiedene Art und Weise erfolgen kann,"
beispielsweise
-
antwortend-nennend wie bei
einer Aufzählung von Gründen,
-
erzählend wie bei einer
Beispielgeschichte,
-
begründend wie bei einer
Stellungnahme oder
-
dialogisch darlegend wie eben
in einer
dialektischen Erörterung." (ebd.)
In welche metaphorischen Umschreibungen sich Definitionsversuche des Essays auch
immer verstiegen haben, scheint es, insgesamt gesehen, doch so zu sein, dass man kaum "über
die Minimalformel 'Essay = ein fiktionales Prosastück mittlerer Länge',
vielfach verbunden mit dem Zusatzprädikat 'ästhetisch anspruchsvoll'',
hinauszukommen" vermochte. (Nübel 2006,
S.18,
Hervorh. d. Verf.) oder um es mit den Worten von Adam (1981, S.94,
Hervorh. d. Verf.) zu sagen: "Der Essay ist ein gekonnt geschriebenes
Prosastück mittlerer Länge, in dem der Autor einen Stoff seiner Wahl völlig
unabhängig von Formmustern behandeln kann."
Deduktive und induktive Annäherungen an das essayistische Schreiben
Auch die Analyse historischer Beispiele oder von zeitgenössischen Essays
versierter Autoren hat seinen Platz im Essayunterricht der Oberstufe, wenn
er neben diesen eher deduktiven auch induktive Annäherungen an das
essayistische Schreiben im Blick hat. (vgl.
Ulmer 2012,
S.16; vgl. Thies
2012b) Allerdings sollte die textanalytische Betrachtung und Analyse
anspruchsvoller Essays wohl besser nicht am Beginn des Unterrichts zur
schulischen Schreibform Essay in der Oberstufe stehen.
Und selbst wenn
etliche Kompetenzen, die für dessen Abfassung nötig sind, schon ausgehend
von der Unter- über die Mittelstufe erworben werden konnten (vgl.
Merkel 2012),
sollte der schulische Essay als Schreibform unter dem Blickwinkel der von
Schülerinnen und Schülern einzufordernden Leistungen nicht so sehr in den
Kontext von Vergleichen mit Texten gerückt werden, deren philosophisch oder
politisch bedeutsamer Gehalt und versierte sprachlich-stilistische
Ausführung als "nichtfiktionale Prosa von hoher Bedeutung" (Reich-Ranicki
2006), die für die eigene Produktion von Essays notwendige "Sphäre
der Ermutigung" empfindlich stören könnte.
Diese läuft sonst in einem
Setting, das
"selbstverantwortlich gesteuerte Versuche oder spielerische Experimente“ (Ulmer
2012, S.17) verschiedener „Schreibtemperamente“ (Abraham, zit. n.
Thies 2012b,
S.63) zulassen soll, Gefahr sich in Luft aufzulösen. Im Mittelpunkt steht
jedenfalls gerade beim essayistischen Schreiben in der
Schule das schreibende Subjekt, die Schülerinnen und Schüler, die
ermutigt werden sollen,"Offenheit, Interesse, (Selbst-)Reflexion, Drang zur
Bildung eigenständiger und doch jederzeit revidierbarer Meinungen,
Kritikfähigkeit, Lust am Denken, Prozesstoleranz“ (Ulmer
2012, S.20) zu entwickeln.
Die im Sinne des
untersuchenden Erschließens textanalytisch ausgerichtete Arbeit mit dem
Essay, kann u. U. zu eigenen "Denkversuchen" (Hertweck/Langermann/Wuttke
2010, S.25) motivieren und, wenn auch von den Schülern selbst verfasste
essayistische Texte oder Textteile in diese Arbeit miteinbezogen werden,
helfen, "eigene Sichtweisen zu entwickeln und diese anschließend als
Grundlage selbst verfasster Texte zu nutzen.“ (Ulmer
2012, S.17)
Die Koppelung induktiver und deduktiver Verfahrensweisen im
Umgang mit dem Essay bzw. dem essayistischen Schreiben kann dazu die
erforderliche Binnendifferenzierung erleichtern und mit dem Methodenwechsel
auch motivierend wirken. (vgl.
ebd.) In der
Koppelung wird neben anderem auch das Zusammenwirken der beiden Aspekte der
literarischen Kompetenz deutlich: der
literarästhetischen Rezeptions- und der
literarästhetischen Produktionskompetenz. Eine Rückkehr zum "Bildungsessay"
(Bleckwenn 1978,
S.121f.) ist dies jedenfalls nicht.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.06.2020
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