Im
Gegensatz zu zahlreichen Äußerungen und gut gemeinten Ratschlägen, die
Ratsuchende im Internet erhalten, wenn sie wissen wollen, wie sie einen
Essay erarbeiten und verfassen sollen. "Ich
schreibe halt einfach so wie immer", lautet mitunter die Antwort,
wenn
Schüler oder Studenten auf einen derartigen Hilferuf erhalten. Schnell wird
dann auf Schemata und literale Routinen zurückgegriffen, die man
kennt: Meistens wird eben irgendwie "erörtert".
Allerdings ist ein Essay als
schulische Schreibform betrachtet keine ▪
klassische Erörterung,
auch wenn er gewöhnlich zu den ▪
freieren Formen erörternden
Schreibens gezählt werden kann. Der Essay ist aber auch keine
wissenschaftliche Abhandlung.
Wie
die ▪ klassische
Erörterung stützt sich der Essay zwar häufig auf ▪
argumentative
Verfahren. Seine Gesamtanlage ist aber offener, orientiert das
erörternde Schreiben stärker an den subjektiven Betrachtungen des
Verfassers, zeigt sich aspektorientiert und eher
gedanklich verzweigt als linear oder dialektisch ausgeprägt. Und auch
auf sprachlich-stilistischer Ebene hebt sich der Essay von anderen
Formen erörternden Schreibens ab, weil er zur Gestaltung auf bestimmte ▪
▪ rhetorische Mittel
setzt , die der sachlich-nüchternen Darstellung ▪
klassischer Erörterungen
zuwiderlaufen, wie z. B. wie etwa
Pointen,
Metaphern,
Klimax,
Wortspiele
und Ironie."
In einem Essay kommen sachliche und kreative Darstellungsformen zum
Zuge. Das bedeutet, dass berichtende, erörternde, beschreibende sowie
schildernde und erzählende Elemente nebeneinander stehen,
ineinandergreifen dürfen und sich zu einem Ganzen fügen sollen.
"Ich
schreibe halt einfach so wie immer" weist daraufhin, dass
erörterndes (z. B.
Problem- und
Sacherörterung,
Texterörterung)
und essayistisches Schreiben von Schüler*innen häufig auf eine
bestimmte Art und Weise gleichgesetzt wird.
Oft liegen diesem Trugschluss
einschlägige Schreiberfahrungen zugrunde. Wem nämlich nach dem Abfassen eines solchen Aufsatzes öfters bescheinigt
worden ist, dass der eigene Aufsatz "unsystematisch", "nur assoziativ
reihend" und "ohne hinreichende Abwägung von Pro und Contra" geschrieben sei,
wird geradezu angezogen werden von der großen Freiheit eines "assoziativen
Gedankenspaziergangs" wie ihn der Essay verheißt.
So lautet die
trügerische Schreibstrategie etlicher Schülerinnen und Schüler, weiter im
Windschatten mehr oder weniger verunglückter Erörterungen zu segeln und beim
Drauflosschreiben der Devise "Weiter so" zu folgen.
Essays
als Gebrauchstexte (literarische Zweckformen) besitzen
eine so große Vielfalt, dass eine eng umgrenzte und genaue Festlegung von
Textsortenmerkmalen
nahezu unmöglich ist. Für die traditionellen Klassifikationssysteme der
herkömmlichen und
neueren Gattungstheorie erweist er sich meist als zu sperrig und wird daher
nicht selten zu einer "offenen Form erklärt, die jeden Stoff
und jedes Ausdrucksmittel assimilieren kann" (vgl.
Stadter 2003, S. 66).
Mitunter als "Gattung ohne
Gattungsbestimmtheit" (Schumacher 1967, zit. n.
ebd.) bezeichnet, kann auch die in der Literaturwissenschaft wenig
befriedigende
Minimalformel als Konsens, die Abgrenzungsprobleme des schulischen
Essays von anderen Formen des Essays im Allgemeinen und anderen schulischen
Schreibformen im Besonderen nicht wirklich voranbringen.
Dennoch wird sie in
ähnlicher Weise herangezogen, wenn es gilt, den schulischen Essay von der
Problemerörterung zu unterscheiden. So führt
Matthiessen (2003, S.136f.) im Vergleich beider Schreibformen aus, dass
der Essay" im Gedankengang freier vorgeht und die Subjektivität des
Schreibenden nicht nur duldet, sondern stilistische Kompetenz,
gestalterische Souveränität und ästhetische Sensibilität geradezu fordert."
Im Gegensatz zum Essay, der die
subjektive Sicht auf seine Gegenstände mit der Freiheit von
Textstrukturmustern als Gedankenexperiment sprachlich entfaltet und sich
nicht um eine sachbezogene Objektivität im Sinne inhaltlicher und
sprachlicher Aus- und Abgewogenheit bemühen muss, geht es, wie
Lindenhahn
(2011) betont, beim Erörtern darum, eine inhaltlich, sprachlich und dem
Ideal der Sachlichkeit verpflichtete Darlegung unterschiedlicher Standpunkte
zu einem Sachverhalt zu entwickeln.
Dies entspricht auch den Vorgaben, die
in Baden-Württemberg für den ab 2014 an allen Gymnasien in die
schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch eingeführten
Aufgabentyp IV
"Verfassen eines Essays auf der Grundlage vorgelegter Materialien (Dossier)"
gemacht worden sind. Darin heißt es dazu: "Der Essay ist nicht mit
der Erörterung
zu verwechseln, auch wenn er sich
argumentativer
Verfahren bedient. Er ist offener angelegt, aspektorientiert, eher
gedanklich verzweigt als linear oder dialektisch ausgeprägt."
(»Schreiben vom 16.04.2008 zur "Weiterentwicklung der schriftlichen
Abiturprüfung im Fach Deutsch an allgemein bildenden und beruflichen
Gymnasien"
Ausdrücklich wird dazu erklärt, dass der im Bereich
schulischer Schreibformen
angesiedelte Essay "sachliche und kreative Darstellungsformen - berichtende,
erörternde, beschreibende sowie schildernde und erzählende Elemente fügen
sich zu einem Ganzen" umfasst.
Beim Erörtern soll einer
vernunftorientierten
Argumentation gefolgt werden. Diese verlangt im besten Fall die
Darlegung und Abwägung von Sachargumenten, die den
Anforderungen für vernünftiges
Argumentieren genügen, wie sie (Kienpointner
1996, S. 20)
in Anlehnung an das
Idealmodell
kritischer Argumentation des Philosophen und Soziologen
»Jürgen Habermas (geb. 1929)
dargelegt hat.
Auch wenn die schulische
Erörterung, was man schon immer als Manko ihres Kommunikationsbezugs gesehen
hat, nicht wirklich adressatenbezogen ist, sondern einem selbstreflexiv
angelegten objektivierenden Grundmuster folgt, soll sie doch überzeugend
wirken, persuasiv sein, im Sinne einer nur vorgestellten partnerorientierten
Argumentation. (vgl. dazu auch:
Lindenhahn
2011)
Für Lindenhahn
(2011) verbindet der Essay als schulische Schreibform das Erörtern und
die gestaltende Interpretation miteinander. So besitze der schulische Essay
zwar Merkmale, die erfasst sein müssten, lasse aber auch viel Raum
für gestaltende Elemente formaler, inhaltlicher und sprachlicher Natur. Als
Essaygestaltung auf der Grundlage eines Dossiers liefere
der Aufgabentyp zugleich Materialien, deren Verwendung den Schülerinnen und
Schülern freigestellt sei. "Damit", so meint er, "ist ausgeschlossen, dass
sie über Dinge schreiben, von denen sie nichts wissen, und der Umgang mit
den mitgegebenen Materialien stellt gleichzeitig auch ein
Bewertungskriterium für die Arbeit dar."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.06.2020