Es gibt keine festgelegten Formtypen beim
Essay in der Schule
Für den schulischen ▪ Essay
gibt es im Gegensatz zur ▪ angelsächsischen
Schreibtradition mit ihren unterschiedlichen Schreibformaten keine
verbindlichen Formtypen des Essays. Das macht schon deshalb keinen Sinn,
weil Essays hierzulande "keine fest umrissene Textsorte" sind (Hertweck/Langermann/Wuttke
2010, S.5). Für den schulischen Essay gibt es insofern keine
schematische Schablone, wenngleich sein Schreiben bestimmten Schemata
bzw. literalen
Routinen folgt.
Während man also in der angelsächsischen Schreibdidaktik eine
systematische Ordnung in die "offene Form" des Essays bringen will, "die jeden
Stoff und jedes Ausdrucksmittel assimilieren kann" (vgl.
Stadter 2003, S. 66), ist dies hierzulande nicht der Fall.
In der Hochschule ist dies allerdings auch bei uns anders. Hier kennt
man den um Wissenschaftlichkeit bemühten ▪
akademischen Essay (academic
essay) und den sogenannten ▪
philosophischen Essay,
die sich allerdings von der schulischen Schreibform klar
unterscheiden. Wenn man die dafür geltenden
Textsortenmerkmale zugrunde legt,
gehört dieser zu den "disputierenden
Textsorten" (vgl. Rolf
1993, S.194ff.).
Statt Formtypen differenziert sich die hiesige Essay-Arbeit durch ▪
unterschiedliche Schreibaufgaben, die sich
nach Anspruchsniveaus und Art der zu bewältigenden Aufgaben für den
Schreibprozess voneinander abheben. Diese Aufgaben können grundsätzlich
vorlagengebunden, kontextgebunden oder ohne Vorgaben gestellt sein.

Bei der ▪ Essaygestaltung auf der Grundlage eines Dossiers
hängt dieser Aspekt der Schreibaufgabe von der eigentlichen
Arbeitsanweisung ab, aus der hervorgehen muss, wie der Dossierbezug im
Einzelnen gestaltet werden muss. Dabei geht es um die Frage, ob die
Materialien und Informationen des Dossiers in den Essay einfließen
müssen oder eben nicht.

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Für komplexer angelegte Schreibaufgaben zum Essay, bei denen über das
Verfassen des Essay hinaus z. B. ▪
Abstracts zu bestimmten
▪
kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Texten geschrieben werden
müssen, entsteht zumindest ein
bedingter Dossierbezug des
Essays. Selbst wenn die Inhalte und Informationen des Dossiers
im Essay letztlich nicht verwendet werden müssen, ist davon auszugehen,
dass die genaue Erschließung der Dossiertexte sich auf die eine oder
andere Weise auf den Gedankenspaziergang des Essays auswirken wird.
▪
FAQ: Muss ich mich in meinem Essay
stets auf die Materialien des Dossiers beziehen?
Multiperspektivität unter subjektivem Vorzeichen
Im Bereich schulischen Schreibens geriete jeder Versuch, den Essay
kategorial und systematisch angesichts der Vielfalt der möglichen Ausdrucks- und Gestaltungsformen des
"Gedankenspaziergangs" und "Denkversuchs" auch schnell
an die Grenzen. Daher und aus methodisch-didaktischen Gründen entzieht
sich, wie verschiedentlich angemerkt wurde, die schulische Schreibform
nicht nur Strukturvorschriften, sondern auch wissenschaftlich
genauem Vorgehen und einer strengen Systematik der Gedankenfolge (Hertweck/Langermann/Wuttke
2010, ebd.).
Wie
die ▪
klassische Erörterung
betrachtet der Essay als ▪
freiere Form erörternden
Schreibens seinen Gegenstand von verschiedenen Seiten, diese
Multiperspektivität muss aber nicht in einem ausgewogenen
Sach- und/oder
Werturteil münden.
Dabei dient der monologische Schreibprozess nicht vor allem der
eigenen Selbstaufklärung und Urteilsfindung wie beim klassischen
Erörtern, sondern Aufbau, Sprache und Stil des Essays haben immer auch
einen dialogischen Charakter. Das bedeutet: Die Gedanken, die sich darin
entwickeln, entwickeln sich stets "vor den Augen des Lesers" (vgl.
Hertweck/Langermann/Wuttke 2010,
S.25).
Dementsprechend dient auch der Wechsel der Perspektiven, die
subjektive Sichtweise und die ganze assoziative Gedankeführung, die den
Essay auszeichnen dazu, Reaktionen und Denkanstöße
bei dem jeweiligen Leser auszulösen (vgl.
ebd.) Wo die klassische Erörterung also um Systematik,
Sachlichkeit und Ausgewogenheit bemüht ist, zeigt sich der Essay
tendenziell eher unsystematisch, emotional gefärbt, beschränkt sich
subjektiv ausgewählte und bedeutsame Aspekte und überlässt es letzten
Endes dem Leser bzw. der Leserin sich aus allem einen Reim zu machen.
(vgl. u. a.
Handreichungen"
des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart 2004, S.131)
Trotzdem: Multiperspektivität schließt aber nicht aus, dass von der
Schreibfunktion her betrachtet, ein Essay sowohl
▪ personal-selbstreflexiven als auch leserorientiert-kommunikativen
Intentionen folgen kann. Und dies keineswegs in einem Entweder-Oder.
Gerade
beim essayistischen Schreiben in der Schule kann es sogar angebracht sein,
dass ein einziger Essay Passagen enthält, die ihrer Intention nach eindeutig
für andere geschrieben sind, zugleich aber auch Ausführungen, die für sich
selbst abgefasst sind oder als solche erscheinen, da sie z. B. zur Gewinnung
neuer Erkenntnisse beim Schreiben dienen.
Ein linear-dialogisches Textordnungsmuster
In einem Essay kommen sachliche und kreative Darstellungsformen zum
Zuge. Das bedeutet, dass berichtende, argumentativ-erörternde, beschreibende sowie
schildernde und erzählende Elemente nebeneinander stehen,
ineinandergreifen dürfen und sich zu einem Ganzen fügen sollen. Bei
einer Textsorte wie
dem Essay,
der irgendwo zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und journalistischem
Feuilleton verortet werden kann (vgl. Hertweck/Langermann/Wuttke
2010, S.25), ist die Verwendung verschiedener Formen der ▪
thematischen
Entfaltung im Text geradezu stilbildend.
Daher passt zu dem Konzept ▪ essayistischen Schreibens
(vgl.
Stadter (2003/2004, S.37) wohl am besten, wenn man die
jeweilige Textproduktion ▪ textlinguistisch
unter den Blickwinkel ihrer
▪
Themenentfaltung
stellt, mit der seine "experimentelle Art, sich dem Gegenstand zu
nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten" (Hertweck/Langermann/Wuttke
2010, ebd.), im
▪
Schreibprozess realisiert wird.
Die Mischung der
wichtigsten "Grundformen thematischer Entfaltung" (Brinker
1997, S.64), nämlich der
▪
explikativen
(erklärenden), ▪
deskriptiven (beschreibenden),
▪ argumentativen
(begründenden) und ▪ narrativen (erzählenden) Themenentfaltung ist gerade beim
essayistischen Schreiben in der Schule gewünscht und soll das Schreibprodukt
von anderen schulischen
Schreibformen wie z. B. dem
▪
klassischen Erörtern und
dem
kreativen Schreiben
abheben.
In der Regel wird die "gedankliche Ausführung des Themas" (Brinker
1997, S.61) zwar auch beim essayistischen Schreiben von der einen oder
anderen Form der thematischen Entfaltung dominiert werden (vgl.
ebd., S.65) ,
aber meistens kann eine gewisse wechselseitige Durchdringung den
besonderen Charakter des Textes als "Gedankenspaziergang" und "Denkversuch"
unterstreichen.
Nach
Feilke (1988) kann
man bei der ▪
argumentativen Themenentfaltung
einen Text mit vier verschiedenen
Textordnungsmustern strukturieren. (zit. n.
Fix 2008, S.59).
Diese Textordnungsmuster lassen sich aber auch auf den Essay
anwenden, der sich zwischen einem ▪
linear-entwickelnden und einem ▪
linear-dialogischen Textordnungsmuster bewegen kann.

Das Wissen um die verschiedenen Formen der thematischen
Entfaltung, über die verschiedenen Textordnungsmuster, die Ziele und
die sprachlich-stilistische Gestaltung eines Essays gehören auch
beim Essay zu den grundlegenden
▪
Schreibkompetenzen
(▪
Zielsetzungskompetenz,
▪
inhaltliche
Kompetenz,
▪
Formulierungskompetenz,
▪
Strukturierungskompetenz)
und spielen
eine zentrale Rolle bei der
▪
Vertextung von Gedanken
im Gedankenspaziergang. Und das gilt auch dann, wenn der Schreiber
oder die Schreiberin seinen Essay "völlig unabhängig von
Formmustern behandeln kann". (Adam (981,
S.94, Hervorh. d. Verf.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.06.2020
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