Neben dem ▪
reformpädagogischen Konzept des freien Aufsatzes, das die normativen Begrenzungen des
gebundenen Aufsatzes überwand, spielte das Konzept des sprachgestaltenden
Aufsatzes eine wichtige, zum Teil bis in unsere Zeit deutlich
hineinreichende Rolle.
Ausdrucksbildung
und innere Sprachbildung
Anstelle des ganzheitlich persönlichkeitsfördernden
Konzepts der Reformpädagogen richtete man die Aufmerksamkeit dabei auf die
sprachliche Gestaltung und den "richtigen Ausdruck“.
"Innere Sprachbildung"
war angesagt und mündete schließlich bis heute "in ein vom Gegenstandsfeld
her begründetes Modell des Aufsatzunterrichts (…), das auf der Annahme
basiert, es gäbe für das Verhältnis von Inhalt und Form Gesetzmäßigkeiten,
aus denen bestimmte Anwendungsformen resultierten.“ (ebd.,
S.113)
Weil der Mensch durch die Sprache in ein bestimmtes Verhältnis zur
Welt trete, so die Annahme, unterschied ma vier bzw. sechs dieser
Verhältnisse bzw. "Haltungen", denen bestimmte "Stilformen" entsprechen
sollten.
Diese Auffassung liegt auch dem
systematisierenden Ansatz von Marthaler (1962) zugrunde, der
bei den sachlichen Darstellungsweisen den Bericht, die Beschreibung und
die Abhandlung, bei den persönlichen Darstellungsweisen die Erzählung,
die Schilderung und die Betrachtung voneinander abhob.
Dabei ging es auch darum, offenkundige
Mängel des freien Aufsatzes zu
beseitigen.
-
So erkannte man, dass man Kinder auch im Hinblick auf ihre
Entwicklung nicht sich selbst überlassen konnte, sondern ihnen alters-
und entwicklungsgerechte Angebote machen musste. Aus diesem Grunde stellte man auf
allgemeinen Erfahrungen beruhende Texte mit Altersangaben zusammen und
versuchte altersgemäße Themen mit einem lebensweltlichen Bezügen in den
verschiedenen Schreibaufgaben zu berücksichtigen.
Zugleich wurden
entwicklungstheoretische Überlegungen zur Grundlage der bestimmten
Altersstufen zugeordneten Schreibaufgaben gemacht. So sollten "in den
unteren Klassen Beobachtungen aus dem Alltag festgehalten und einfache
Erlebnisse mitgeteilt und - als Phantasieaufsätze - auch
'Lebensmöglichkeiten' ausgedacht" werden. (Gansberg 1914, S.23, zit. n.
Fritzsche
1994, S.267), in der Mittel- und Oberstufe galt es über all das
hinauszusehen und die "von Generationen überlieferten Erfahrungen"
(Gansberg zit. n.
ebd.)
ins Blickfeld zu nehmen.
-
Aber auch der mangelnde Bezug des freien Aufsatzes zu den zur
Lebensbewältigung in der Gesellschaft zu erwerbenden Qualifikationen und
Kompetenzen brachten das reformpädagogische fundierte Konzept des freien
Aufsatzes mehr und mehr in die Kritik. Nicht wenigen erschien es als
"Illusion von Schöngeistern" (Fritzsche
1994, S.267), die den Bezug zur Realität verloren hatten.
Diese in
gewisser Hinsicht auf pragmatische Nützlichkeit hin ausgerichtete Kritik
am freien Aufsatz schlug sich auch in der Forderung nach einer
sprachlich-stilistischen Gestaltung nieder, die sich daran orientieren
sollte, was in Wissenschaft, öffentlichen Verlautbarungen und in der
Presse gesprochen bzw. geschrieben wurde.
Die
Kritik am Lebensbezug und
an seinem pädagogisch offenbar
nicht vertretbaren Maß der
Selbststeuerung beim Schreiben rückten im Konzept des sprachgestaltenden
Aufsatzes die
Zweckorientierung an außerschulischen Erfordernissen
wieder stärker in den Vordergrund.
Dies führte aber zugleich auch zu einer
schematischen Einübung bestimmter Stilformen, mit denen im Aufsatz das
jeweils besondere Verhältnis zur Wirklichkeit einer jeden Schreibaufgabe
zu bearbeiten war.
Und so war es bei
der sprachgrstaltenden Konzeption Aufgabe der
Schülerinnen und Schüler, "aufgrund der Themenstellung zu erkennen,
welche 'Stilform' nötig war, und dann den Aufsatz entsprechend der für
diese 'Stilform' gelernten Normen zu schreiben." (ebd.,
S.268) - Eine 180°-Kehrtwende gegenüber den Ansätzen der
Reformpädagogik.
Marthalers Matrix
der Aufsatztypen (1962)
Einer der bekanntesten Versuche, die Vielfalt der
schulischen Schreibformen bzw. Aufsatzformen
in eine systematische Ordnung zu bringen, geht auf
Theo Marthaler
(1962) zurück, die konzeptionell auf seinen Überlegungen zum
sprachgestaltenden Aufsatz zurückgehen.
In Form einer Matrix, die zwei verschiedene
Darstellungsweisen (sachlich, persönlich) drei verschiedenen
Darstellungsgegenständen (zeitlich, räumlich, gedanklich) zuordnete,
gelangte er zu sechs verschiedenen Aufsatztypen.
Dabei betonte er
ausdrücklich, dass es sich bei diesen Aufsatztypen um schulische
Übungsformen handelte, die in dieser Art und Weise in der kommunikativen
Praxis außerhalb der Schule nicht vorkamen.

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Die Matrixdarstellung Marthalers, die in der obigen Form ergänzt wurde,
geht von einem jeweils unterschiedlichen Subjekt- bzw. Objektbezug bei
den Darstellungsweisen aus. Bei den objektbetonten Darstellungsweisen,
den sachlichen Aufsätzen (Bericht, Beschreibung, Abhandlung), "geht der
Schreiber von den Sachverhalten, also von den Objekten aus, die mit
dessen Hilfe dargestellt werden sollen" , bei den subjektbezogenen
Formen (Erzählung, Schilderung, Betrachtung) "findet der Schreiber
seinen Ausdruck in sich selbst als Subjekt." (Necknig
2009, S.17)
Fritzsche
(1994, S.30) betont in seiner Kritik an Marthaler insbesondere die Tatsache, dass
die Gesichtspunkte Zweck und Ziel den beiden Darstellungsweisen einfach
nur zugeordnet würden, statt einer weiteren kategorialen Differenzierung
zu dienen.
Aller Einwände zum Trotz war Marthalers
Systematisierungsansatz, der auf ähnlichen Versuchen aus dem 19. Und 20.
Jahrhundert fußte, mit seinem Versuch, "die vorhandenen Aufsatzarten zu
ordnen, ihnen einen kommunikativen Zweck zuzuweisen, die geforderte
geistige Leistung anzugeben und den verlangten Stil zu charakterisieren“
(ebd.,
S.31) zumindest für die Aufsatzlehre der 1950er und 1960er Jahren
maßgeblich. Und auch heute ist sein Klassifizierungsansatz in der
schulischen Praxis nicht gänzlich verschwunden.
Dabei ist natürlich längst unbestritten, dass die Wirklichkeit eine
wesentlich größere Vielfalt, auch bloß schulischer Schreibformen, kennt
als die von Marthaler aufgeführten sechs verschiedenen Aufsatzarten.
Indessen waren sie aber ursprünglich auch nur als "Stilübungen"
konzipiert, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler sprachlich zur
Wirklichkeit in ein bestimmtes Verhältnis setzen sollten. Dass diese "Stilformen",
mit denen bestimmte Gegenstände inhaltlich und sprachlich erschlossen
werden sollten, nach und nach zu festgefügten, stark formalisierten und
normierten Aufsatzarten wurden, ist vielleicht nicht zu vermeiden
gewesen, entsprach allerdings nicht den ursprünglichen Intentionen Marthalers.
In späteren Jahren freilich war vor allem die "angebliche
Trennbarkeit von objektiv-sachlichem und subjektiv-persönlichem
Schreiben" (Fix
2008, S.90) Anlass dafür, dass die zu sehr schematisierten
Darstellungsformen Marthalers in der Aufsatzdidaktik fast in der
Versenkung verschwunden sind, und das obwohl sich die Praxis des
Aufsatzunterrichts kaum änderte.
So betont Fix (ebd.),
dass in heutigen Bildungsplänen zwar Elemente des so genannten freien,
kreativen und produktiven Schreibens hinzugekommen seien, welche vor
allem die Schilderung ersetzt hätten, zugleich finde man aber "immer
noch in erster Linie Aufsatzarten, die Marthalers Einteilung in
individuell-subjektive Erlebnissprache und objektive Sachsprache nur
leicht modifizieren: Abhandlung und Betrachtung werden unter dem Etikett
der linearen und kontroversen Erörterung geführt, ergänzt wurden noch
die Inhaltsangabe und die Interpretation sowie verschiedene Unterarten
(in der Grundschule vor allem die Bildergeschichte als Form der
Erzählung." (vgl. auch:
ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.13ff.)
Schulisches
Schreiben als Drill textmusterkonformem Schreibens
In der Unterrichtspraxis führte die Orientierung an diesen Aufsatzarten
zu stereotypem Drill textsortenkonformem Schreibens.
Dabei wurde
meistens das
deklarative
Wissen über bestimmte Textsortenmerkmale eindeutig wichtiger genommen als
Textsortenwissen/Textmusterwissen,
das sich als Handlungswissen zur Problemlösung (=Problemlösewissen) versteht
(vgl. ebd
) oder, wie es
Fritzsche
(1994, S.32) ausdrückt, als "Erschließungsinstrumente" für Inhalte,
die "dem genauen Wahrnehmen und Verstehen" von "äußerer Wirklichkeit",
"Meinungen, Gedanken, Vorstellungen" und "Texten" dienen.
Rückbesinnung auf
Elemente des sprachgestaltenden Aufsatzunterrichtes?
Auch wenn die traditionelle Aufsatzehre mit ihren starren Kategorien zu
Recht in die Kritik geriet, ist offenbar in den letzten Jahren eine
Tendenz zu spüren, die "die Leistungen des klassischen
Aufsatzunterrichts"
(ISB
(Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) wieder stärker würdigt.
So wird sogar von einer "Rückbesinnung" (ebd.)
auf die Tatsache gesprochen, "dass junge Menschen in der modernen
Leistungsgesellschaft auf schriftliche Examina vorbereitet werden
müssen".
Überhaupt hätten die (Text-)Normen und ihre Einhaltung an
Bedeutung gewonnen, "wie sie (auch) an schulspezifischen Textsorten
geübt werden können."
Und schließlich griffen auch "Schreiblehrer immer
wieder auf das große Reservoir konventioneller Schreibmethoden zurück
(z. B. zum Auffinden und Ordnen von Inhalten, zum Gliedern von Texten,
zum Variieren von Satzbau und Vokabular) - auch wenn sie
Aufbauprinzipien und stilistische Fragen im Einzelfall nicht
vorschreiben, sondern mit ihren Schülerinnen und Schülern 'aushandeln'."
(ebd.)
Ja selbst die lange Zeit als unverzichtbar geltende kommunikative
Einbettung von Schreibaufgaben ist einer sehr flexiblen Schreibpraxis
gewichen, die mit Blick auf schwächere Schüler davon absieht.
Nicht
zuletzt aber erfahre die herkömmliche Aufsatzehre aber auch deshalb eine
Neubewertung, weil das Beharren auf einer konzeptionellen
Schriftlichkeit besonders viele Deutschlehrer unter den Bedingungen
einer allgemeinen und sehr weit greifenden Media-literacy für sich
einzunehmen versteht. (vgl. auch:
Fix
2006/2008, S.115)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.11.2020
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