Von der »Reformpädagogik
wurde in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, was der
Leipziger Germanist und Pädagoge »Rudolf
Hildebrand (1824-1894) schon 1867 gegen die vorherrschende
Aufsatzdidaktik einwandte.
Seinem Verständnis nach folgte sie einem
Menschenbild, genauer einem Bild des Kindes bzw. Jugendlichen, das beide
als
unmündig betrachtete und somit den Erziehungszielen der Erwachsenen
unterwarf.
So erschien es ihm auch zwangsläufig, dass der herkömmliche
Aufsatzunterricht, der Schreiben ohne unterrichtliche Vorbereitung nicht
vorsah, zu einer Art "Gedächtnisprobe" vorkommen sei. Denn, so sein
Argument, die unterrichtliche Aneignung der jeweiligen Gegenstände
bleibe so eine bloß äußerliche und verleite den Schüler "Dinge
hinzustellen, die noch nicht Wurzel gefasst haben in seinem Ich“ (Hildebrand
1867, zit. n.
Fritzsche
1994, S.265). Solange es nicht zuvor gelinge "den eigenen Inhalt der
Schülerseele herauszulocken und daran die Form zu bilden“ (ebd.)
gleiche das Vorgehen einem "Sprachunterricht dem man Papageien gibt". (ebd.)
Die Reformpädagogik hielt nichts von der bloßen Reproduktion
literarischer Werke und stellte das Postulat, wonach alle (Seelen-)Kräfte
eines Kindes zur Entfaltung gebracht werden müssten, auch an die erste
Stelle ihrer Aufsatzdidaktik.
Was sie von Kindern erwartete, waren keine
kleinen Kunstwerke, sondern Texte, die authentische Erfahrungen und
Empfindungen ausdrückten und mitteilten, was Otto
Ludwig (1988,
S.315) veranlasste, in diesem Zusammenhang von
"Persönlichkeitspädagogik" zu sprechen. (vgl.
Fritzsche
1994, S.266)
In jedem Fall galt
"der ‘freie“ Aufsatz‘ als
Ausdruck von Individualität“ (ebd.)
Der freie Aufsatz
jedenfalls sprengte die engen normativen Fesseln des so genannten
gebundenen
Aufsatzes, zu dem, wenn man dieser Systematik der Orientierung
halber einmal folgt, mehr oder weniger alle auf Reproduktion
ausgerichteten Aufsatzformen bis dahin gezählt werden können.
Dabei waren
es vor allem
»reformpädagogische Argumente in der Tradition von »Comenius
(1592-1670), »Rousseau
(1712-1778), »Pestalozzi
(1746-1827) u. a., die das Konzept des gebundenen Aufsatzes
erschütterten. Dahinter standen Vorstellungen, die über den Wechsel der
Perspektive hin zum schreibenden Kind einen Paradigmenwechsel in der
Aufsatzlehre nach sich zogen.
Fortan sollte der kindliche und jugendliche
Schreiber nicht mehr in das Korsett vorgegebener Textmuster und
Wahrnehmungsschemata eingepasst werden, sondern sich beim Schreiben seiner
selbst gewahr werden und sich selbst ausdrücken. Wie ein Künstler solle das Kind
seine ureigene schöpferische Kraft selbst erfahren und "ohne die Grenze
thematischer und stilistischer Gebundenheit, sein eigenes Erleben und seine
Fantasie frei entfalten." (Fix
2006/2008.,
S.113) Voraussetzung für den Lernerfolg wurde damit die persönliche
Bedeutsamkeit in ästhetischer und kommunikativer Hinsicht.
Was die Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts einforderten,
mündete im Konzept des freien Aufsatzes, musste aber trotz
seiner großen Popularität schon bald unter den Bedingungen der
nationalsozialistischen Diktatur (1993-1945) wieder altbekannten Vorstellungen in neuem
ideologischen Gewand weichen.
Trotzdem oder auch gerade deshalb: am Konzept des
freien Aufsatzes mussten sich alle aufsatzdidaktischen Konzepte von der
Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus bis hin zur
Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren abarbeiten, um sich
selbst dagegen positionieren zu können.
Neben dem Konzept des freien Aufsatzes, das die normativen Begrenzungen des
gebundenen Aufsatzes überwand, spielte das
▪ Konzept des sprachgestaltenden
Aufsatzes eine wichtige, zum Teil bis in unsere Zeit deutlich
hineinreichende Rolle.