[289] Ein und derselbe Naturtrieb belebt die verschiedenen Fähigkeiten des
Menschen. Der Tätigkeit des Körpers, welcher sich zu entwickeln bemüht ist,
reiht sich jetzt die Tätigkeit des Geistes an, der sich zu unterrichten sucht.
Anfangs sind die Kinder nur in fortwährender Bewegung, sodann werden sie
neugierig, und diese Neugierde ist, sobald sie gut geleitet wird, die Triebfeder
in dem Alter, bei dem wir jetzt angelangt sind. Laßt uns nur stets die der Natur
entspringenden Neigung von denen, die in Vorurteilen ihre Quelle haben,
unterscheiden. Es gibt eine Wißbegierde, die sich nur auf den Wunsch gründet,
für gelehrt zu gelten; es gibt indes auch eine andere, die aus einer dem
Menschen angebornen Neugierde entsteht und sich über alles, was ihn nah oder
fern interessieren kann, erstreckt. Die angeborene Sehnsucht nach Wohlsein und
die Unmöglichkeit, dieselbe völlig zu befriedigen, treiben den Menschen an,
unaufhörlich neue Mittel zur Stillung derselben aufzusuchen. Dies ist das erste
Prinzip der Mißbegierde, ein dem menschlichen Herzen natürliches Prinzip, dessen
Entwicklung indes mit der Entfaltung unserer Leidenschaften und unserer
Einsichten stets gleichen Schritt hält. Stellt euch einen Philosophen vor, der
mit seinen Instrumenten und Büchern auf eine wüste Insel verbannt ist und mit
Sicherheit weiß, daß er daselbst den Rest seiner Tage einsam zubringen muß. Er
wird sich schwerlich noch um das Weltsystem, um die Gesetze der Anziehungskraft,
oder um die Differenzialrechnung kümmern. Vielleicht wird er in seinem ganzen
Leben kein einziges Buch wieder aufschlagen; aber nie wird er es unterlassen,
seine Insel auch bis auf den letzten Winkel zu durchsuchen, wie groß sie auch
immer sein möge. Laßt uns deshalb von unserem ersten Unterricht solche
Kenntnisse fernhalten, an denen der Mensch von Natur kein Interesse findet, und
uns auf diejenigen beschränken, deren Aneignung uns der Naturtrieb
wünschenswerth macht.
[327] Ich hasse die Bücher;
sie lehren
uns nur über Dinge reden, die man nicht versteht. Es wird erzählt, daß
Hermes die Elemente der Wissenschaft auf Säulen eingegraben habe, um seine
Entdeckungen vor einer neuen Sintflut zu schützen. Wenn er sie jedoch den Köpfen
der Menschen richtig eingeprägt hätte, so würden sie sich durch mündliche
Überlieferung erhalten haben. Gut vorbereitete Gehirne bilden die Monumente, auf
welchen sich die menschlichen Kenntnisse am sichersten eingraben lassen.
Sollte denn kein Mittel vorhanden sein, die große Anzahl der in so vielen
Büchern zerstreuten Lehren zusammenzustellen und so zu vereinen, daß sie einem
gemeinsamen Zweck dienen, der leicht kenntlich und interessant zu verfolgen wäre
und selbst dieses Alter anzuspornen vermöchte? Könnte man eine Lage ausfindig
machen, in welcher alle natürlichen Bedürfnisse des Menschen in einer auch dem
Geist eines Kindes wahrnehmbaren Weise klar hervorträten, und in welcher sich
gleichzeitig die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse nach und nach mit
derselben Leichtigkeit entwickelten, so müßte man an einer lebendigen und
ungekünstelten Schilderung dieses Zustandes, seine Einbildungskraft gleich
zuerst zu üben suchen.
Feuriger Philosoph, ich sehe schon, wie die deinige sich entzündet. Doch gib dir
keine vergebliche Mühe! Diese Lage ist schon gefunden, sie ist geschildert und,
ohne dir unrecht zu tun, weit besser, als du selbst sie würdest zu schildern
vermögen, wenigstens, mit mehr Wahrheit und Einfachheit. Müssen wir denn
durchaus einmal Bücher [328] haben, nun, so gibt es eins, welches uns meinem
Erachten nach die vorzüglichste Abhandlung über naturgemäße Erziehung an die
Hand gibt. Dieses Buch soll mein Emil zuerst lesen; allein soll es lange Zeit
hindurch seine ganze Bibliothek und stets einen hervorragenden Platz in
derselben behalten. Es wird der Text sein, welchem alle unsere Unterhaltungen
über naturwissenschaftliche Stoffe nur als Kommentar dienen sollen. Es wird bei
unseren Fortschritten den Prüfstein unserer Urteilskraft abgeben und, solange
unser Geschmack nicht verstorben ist, wird uns seine Lektüre beständig
Unterhaltung gewähren. Und wie heißt nun dieses Wunder von Buch? Ist es
Aristoteles? Ist es Plinius? Ist es Buffon? Nein,
es ist Robinson Crusoe.
Robinson Crusoe, auf seiner Insel, allein, des Beistandes seiner Mitmenschen
beraubt, von allen künstlichen Werkzeugen und Hilfsmitteln entblößt, und
trotzdem für seinen Unterhalt und seine Erhaltung sorgend, ja, sich sogar eine
Art Wohlbefinden verschaffend: das ist sicherlich ein Gegenstand, der jedem
Alter Interesse einflößen muß und den man den Kindern durch tausenderlei Mittel
anziehend machen kann. Hier finden wir die wüste Insel, auf die ich anfangs nur
gleichnisweise hinwies, verwirklicht. Dieser Zustand ist, wie ich gern einräume,
freilich nicht der des gesellschaftlichen Menschen und wird wahr scheinlich
nicht der Zustand Emils werden, aber er soll ihm als Maßstab zur Beurteilung
aller übrigen dienen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu Erheben und
sein Urteil von den wahren Verhältnissen der Dinge leiten zu lassen, besteht
darin, daß man sich an die Stelle eines völlig auf sich allein angewiesenen
Menschen versetzt und über alles so urteilt , wie dieser Mensch mit Rücksicht
auf seinen eigenen Nutzen selbst darüber urteilen muß.
Dieser Roman,
von allen nebensächlichen Zutaten befreit, mit Robinsons Schiffbruch in der
nähe seiner Insel beginnend und mit der Ankunft des Schiffes, welches zu [329]
seiner Rettung erscheint, schließend, wird Emil während des ganzen
Zeitabschnittes, von welchem hier die Rede ist,
zugleich Unterhaltung wie
Belehrung verschaffen. Ich will, daß ihm der Kopf darüber schwindle, daß er
sich unaufhörlich mit seinem Schloß, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftige;
daß er nicht aus Büchern, sondern an den Dingen selbst, alles, was man in einem
ähnlichen Fall wissen muß, bis ins einzelne lerne; daß
er sich selbst für
einen zweiten Robinson halte, daß er sich in Felle gekleidet, mit einer
großen Mütze auf dem Kopf, einem furchtbaren Säbel an der Seite, kurz in dem
ganzen grotesken Aufzug der Figur erblicke, nur den Sonnenschirm ausgenommen,
dessen er nicht bedürfen wird. Ich will, daß er sich über die Maßregeln, die
etwa er griffen werden könnten, wenn sich dieser oder jener Mangel bei ihm
einstellte, beunruhige, daß er das Verfahren seines Helden prüfe und untersuche,
ob derselbe nichts unterlassen habe und ob er nichts hätte besser machen können;
daß er seine Fehler genau bemerke und sich dieselben zunutze mache, damit er in
einer ähnlichen Lage nicht auch in dieselben verfalle; denn unzweifelhaft wird
er sich mit dem Gedanken tragen, einst eine ähnliche Niederlassung zu gründen.
Das ist das einzige richtige Luftschloß in diesem glücklichen Alter, in welchem
man kein anderes Glück kennt Erlangung des durchaus Notwendigen und die
Freiheit.
Was für eine Hilfsquelle eröffnet diese törichte Leidenschaft doch einem
geschickten Manne, der es verstanden hat, sie nur hervorzurufen, um Nutzen aus
ihr zu ziehen! Das Kind, voller Begierde, sich ein Magazin für seine Insel
anzulegen, wird beim Lernen größeren Eifer entfalten als der Lehrer beim
Unterrichten. Es wird alles, was nützlich ist, wissen wollen, aber auch nur dies
wissen wollen. Ihr werdet jetzt nicht mehr nötig haben, es anzuleiten, sondern
werdet es vielmehr beständig zurückhalten müssen. Laßt uns übrigens Eile
anwenden, es auf dieser Insel einzurichten, solange [330] sich sein Glück noch
darauf beschränkt, denn schon naht der Tag, wo es, wenn es überhaupt dort noch
leben will, doch nicht allein wird auf ihr leben wollen, und wo Freitag, welcher
ihm jetzt noch kein großes Interesse einflößt, ihm nicht mehr lange genügen
wird.
(aus: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 1, Leipzig [o.J.],
S. 7.
Erstdruck: Den Haag [recte Paris] 1762. Erste deutsche Übersetzung von einem
Anonymus: Berlin u.a. 1762. Der Text folgt der Übersetzung durch Hermann
Denhardt;
zeno.org)
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Campe, Robinson der Jüngere im Projekt Gutenberg
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