Spätestens um die Mitte des 18. Jahrhunderts war die Mode
der Robinsonaden abgeebbt, und auch um das Original war es still geworden.
Das heißt nicht, dass es nicht mehr gelesen worden wäre: wie in England, so
sind auch in Deutschland immer wieder Neuauflagen erschienen (freilich nicht
so viele wie dort); aber Robinson war kein Thema mehr für die Gebildeten und
literarisch Interessierten, die höchstens auf das Buch herabsahen als "elende(n)
Zeitvertreib [...] vor Handwercks Pursche".
Um so überraschender mag für viele europäische Intellektuelle gewesen sein,
dass
Jean Jacques Rousseau, geschmähter und umjubelter Avantgardist und
enfant terrible des kulturellen Lebens, auf Robinson Crusoe nicht nur wieder
aufmerksam machte, sondern das Buch in einem ganz neuen und überaus
positiven Lichte sah. Im dritten Buch seines epochemachenden
Erziehungsromans Emile ou de l'education (1762) empfiehlt Rousseau als
einzige Lektüre seines hypothetischen Zöglings Emile ausgerechnet Robinson
Crusoe. [...]
Für Rousseau darf Erziehung nicht bedeuten, das Kind möglichst reibungslos
in die bestehende Gesellschaft einzugliedern; Erziehung bedeutet vielmehr
Förderung und behutsame Formung der natürlichen Anlagen, den jeweiligen
kindlichen Fähigkeiten und Interessen gemäß, und eine schrittweise
Hinführung in historisches Bewusstsein, moralisches Verhalten und religiöse
Überzeugung als Formen gesellschaftlichen Seins. Die Erfahrung der real
gegenständlichen Welt kommt dabei zeitlich vor der moralischen und
religiösen Erziehung, und sie geschieht weitgehend im Spiel.
In dieser frühen Phase der "Realitätsbewältigung" setzt Rousseau
den
pädagogischen Wert des Robinson Crusoe an. Robinson ist vor allem deshalb Anreger und Vorbild, weil er, wie das Kind unter idealen Bedingungen, durch
praktische Erfahrungen die Natur zu verstehen und sich nutzbar zu machen
lernt. Die Isolation Robinsons fasziniert Rousseau in diesem Zusammenhang
als Grundlage einer modellhaften Situation: Aus dem Kontext seiner
gesellschaftlichen Bindungen gerissen, scheint Robinson "als Mensch an sich"
der Natur gegenüberzustehen einer Natur, die ihm unnachsichtig, aber nicht
feindlich gegenübertritt: kurz, als ideale Lehrmeisterin.
Mit Rousseau rücken zwei entscheidende Aspekte in den Mittelpunkt der
Robinson Crusoe Rezeption: die Inselepisode wird als das zentrale Robinson
Motiv erkannt, und ihr Wert wird als ein primär pädagogischer begriffen. Das
hat weitreichende Folgen, die bis zum heutigen Tage wirksam geblieben sind.
Rousseaus Verständnis des Robinson Crusoe ist ein schöpferisches
Missverständnis; er ignoriert Defoes Intentionen, indem er das Buch
kurzerhand zum Kinderbuch erklärt und alle Elemente, die sich dieser
Funktion nicht unterordnen wollen, für "tout son fatras", "allen übrigen
Schwulst" ansieht, den man getrost beiseite lassen kann. Damit gibt er das
Signal für jene zahllosen Jugendbearbeitungen, die das Robinson Verständnis
des breiten Lesepublikums für die nächsten zweihundert Jahre bestimmen
sollten.
Gewiss war Robinson Crusoe auch vorher schon bearbeitet und gekürzt worden,
zumal in England; aber diese Kürzungen wurden ausnahmslos aus kommerziellen
Gründen vorgenommen. Und sicherlich wurde die Geschichte des schiffbrüchigen
Insulaners auch vor Rousseau schon von Kindern gelesen. Von den englischen
Chapbook Versionen darf dies auf jeden Fall angenommen werden. Doch erst
Rousseau wies Robinson Crusoe eine feste Funktion in einem elaborierten
pädagogischen Konzept zu. [...]
Pädagogische Absichten sind gewiss auch in diesen frühen Jugendbuch
Bearbeitungen zu erkennen; doch sie äußern sich nur in der Betonung
moralischer Maximen (wie z. B. des Gehorsams gegenüber den Eltern in der
Newbery Version) und in der Kürzung oder Abänderung der religiösen
Reflexionen. (Obwohl nicht für Kinder bestimmt, enthält ja schon das
Original viele didaktische Momente.) Ansonsten setzt man auf den
Unterhaltungswert des Abenteuerlichen. In der Tat hätte auch der enorme
Einfluss Rousseaus aus Robinson Crusoe wohl kaum ein Kinderbuch machen
können, wenn nicht der Stoff selbst für Kinder attraktiv wäre.
Worin besteht nun jenes "Beiwerk", von dem Rousseau das Buch gereinigt sehen
wollte, bevor es als Erziehungsmittel für seinen Emile taugte? Liebs hat
Rousseaus "hypothetische Bearbeitungsmaßnahmen" folgendermaßen
zusammengefasst:
-
Reduktion auf die Inselepisode
-
Unterschlagung sämtlicher vorgegebener Werkzeuge
-
Eliminierung aller religiösen Reflexionen
-
Bagatellisierung der Freitag Episode
Dies sind in der Tat einschneidende Änderungen, die in Rousseaus
theoretischen Überlegungen impliziert sind. Sie erklären sich zunächst
einmal aus dem entwicklungspsychologischen Modell, das der Autor des Emile
entwickelt hat. Danach ist das Kind im "Robinson Alter" (der Begriff wird
erst eineinhalb Jahrhunderte später von Charlotte Bühler geprägt, die Idee
aber ist schon bei Rousseau vorgebildet) noch nicht an religiösen Fragen
oder zwischenmenschlichen Beziehungen interessiert, und deshalb stören die
religiösen Reflexionen und das Zusammenleben Robinsons mit anderen Menschen
nur.
(aus: Petzold, Dieter: "Robinson Crusoe" als Kinderbuch, aus:
Petzold, Dieter 1982, S.42-45, gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.11.2024