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Baustein:
Fragen und Antworten zu Elisabeth Frenzel: Die Geschichte des
Robinsonmotivs
Die Geschichte
Robinson Crusoes, ein nach Kapitän Rogers’ Bericht über den fünfjährigen
Aufenthalt des schottischen Matrosen Selkirk auf einer Insel des
Juan-Fernandez-Archipels von Daniel Defoe
frei ausgesponnener Roman (The Life and Strange Surprising
Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner 1719), ist die
berühmteste Formung eines alten Themas, das allerdings erst in
ausgesprochenen Zivilisationsepochen bewegend werden konnte: die freiwillige
oder erzwungene Rückversetzung des zivilisierten Menschen in einen
Naturzustand durch Weltflucht, Einsiedelei, Schiffbruch, Aussetzung. Die zu
Beginn des aufgeklärten Jahrhunderts erschienene Geschichte eines
Menschen, der nüchtern und überlegen Schritt für Schritt über die Wildnis
siegt und sich ein geregeltes, sinnvolles Leben schafft, auch die
Freundschaft eines Wilden, Freitag, und diesen der europäischen Kultur und
Humanität gewinnt, kam den rationalistischen wie sentimental Rousseauischen
Strömungen der Zeit entgegen, wurde von Rousseau selbst als »Grundbuch aller
Erziehung« angesehen und fand durch Umarbeitung des Pädagogen J. H.
Campe
in ein Gespräch
zwischen Erziehern und Kindern (Robinson der Jüngere,1779) Eingang in
die Jugendliteratur, zu deren Grundbestand es, von der dozierenden Form
Campes allerdings wieder befreit, noch heute gehört.
Verbreitung und
Wirkung des Robinson-Stoffes geschah jedoch
nicht in Form einer
Stoffentwicklung, sondern wie bei manchem anderen, vom Zeitgeschmack
besonders bestimmten Erfolgsbuch (z. B.
Don Quijote,
Werther) in Form der Nachahmung, durch die so genannten
Robinsonaden (vor allem:
J. G.
Schnabel,
Die Insel Felsenburg 1731-43;
J. R. Wyss,
Der
schweizerische Robinson, 1812-13). Die Robinsonade ist nicht eine
Neuinterpretation des Robinson-Stoffes, entzündet sich nicht an der
spezifischen Robinson-Fabel, am Plot, sondern ist Wiederholung einer
gleichen Grundsituation - Inseldasein eines Schiffbrüchigen - an ganz
anderen Personen; noch in
G.
Hauptmanns
Insel der großen Mutter
(1924) klingt das
Robinson-Motiv nach. Überträgt man den Begriff auf Werke ähnlicher Thematik
früherer Zeit, so kann man sogar von »vordefoeschen« Robinsonaden sprechen
(z. B.
Grimmelshausen,
Continuatio des abenteuerlichen Simplicissimi 1669).
Eine Geschichte
der Robinsonaden ist Gattungs- oder auch Motiv-, aber nicht Stoffgeschichte.
Defoe selbst
gab mit seinen Fortsetzungen des Romans,
The Farther Adventures of Robinson Crusoe (1719), die den erneuten Besuch Robinsons und Freitags
auf der Insel, den Kampf mit Eingeborenen und Freitags Tod erzählen, und
The Serious Reflections… of Robinson Crusoe (1720) mit seiner Vision der
Welt der Engel, Ansätze zu einer Stoffgeschichte. Das Theater hat, abgesehen
davon, » dass es, wie der Roman, die Robinson-Situation auf andere Personen
übertrug (K. v. Holtei
Staberl als Robinson 1845;
L.
Feldmann / Bertram Der neue Robinson oder das goldene Deutschland
1852; L. Fulda,
Robinsons Eiland 1895), die farbige, aber ausgesprochen epische Handlung
für Ballette, Pantomimen, Maskenzüge und Opern verwandt (L.A.
Piccini, Melodram; H. Schmidt
/ M. Hoguet, Pantomimisches Ballett 1837;
F. Fortiscue, Operatic
Drama 1822; M.
M. Cormon / H.
Cremieux / J. Offenbach 1867). Dramatiker haben das Thema mehrfach
umspielt, so etwa A. G.
Oehlenschläger in Robinson in England (1819), einem Lustspiel, das die Auseinandersetzung des heimgekehrten Selkirk mit
Defoe wegen dessen vermeintlicher Unterschlagung des Tagebuches behandelt,
F. Forster (Robinson soll
nicht sterben, 1932), der eine Revolte der Jugend gegen den Tod ihres
unsterblichen Helden in Szene setzte, und
S.Supervielle (1949),
in dessen Märchen der junge Robinson aus Verzweiflung über die vermeintliche
Untreue eines Mädchens die Heimat verlässt und bei der Rückkehr deren
Tochter gewinnt. Zu den Weiter- und Umdichtungen der ursprünglichen Handlung
gehört auch die Dichtung des Saint-John Perses,
Images à Crusoe (1909), die einen in , die
Großstadt zurückgekehrten. in einer Dachstube hausenden Robinson vorführt,
der viel verlassener ist als auf seiner Insel; dort war er mit Gott allein,
hier gibt es keinen Gott mehr. H. v.
Hofmannsthal ließ seinen Filmentwurf
Defoe in der Begegnung
Defoes mit Robinson, in dem er sich selbst wieder zu erkennen glaubt, und in
der Niederschrift von Robinsons Erzählungen ausklingen (postum 1935). Der
Franzose M. Tournier (Vendredi,
on Limbes du Pacifique, R.,1967) wiederholte das Robinson-Abenteuer an
einem hundert Jahre später stattfindenden Schiffbruch und an einem
wesentlich modernen Menschen, einem Typ des Massenzeitalters, der sich
erstaunlich gut anpasst, sich schnell wandelt und der Schwierigkeiten sowohl
denkerisch als auch organisatorisch Herr wird. […]
(aus:
Elisabeth Frenzel 1976, S.637ff., gekürzt)
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Robinsonmotivs
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.11.2024