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Bausteine

Walther Rehm/Werner Kohlschmidt: Robinsonade (1977)

Literarische Motive und SymboleEinzelne Motive und Symbole Robinsonmotiv/Robinsonade

 
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Literaturgeschichte Literarische Motive und Symbole ÜberblickBegriffe: Literarische Motive und literarische Symbole ▪ Stoff-Thematik-Motiv Motivtypen • Einzelne Motive und Symbole Überblick Farbsymbole / Farbmotive Motiv des Lichts Motiv des Feuers Motiv der Vergänglichkeit (Vanitas)Motiv des lieblichen Ortes (locus amoenus) [ Robinsonmotiv/Robinsonade Überblick Die Ambivalenz des Inselbegriffs  • Die pädagogische Instrumentalisierung des Motivs Textauswahl   Bausteine   ]Verschiedene literarische Beispiele Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
 

§ 1. Als einziger der eingebürgerten Gattungsbegriffe ist der der R. von einem Eigennamen abgeleitet, Das sollte zur Vorsicht mahnen gegenüber der Versuchung, den Terminus spekulativ theoretisch vorzubelasten. Wenn irgendwo, dann ist hier empirisch zu verfahren. Defoes "Robinson Crusoe" (1718) ist der Ausgangspunkt der Bezeichnung. Das Werk enthält bereits in sich die wesentliche Problematik der Bezeichnung "Robinsonade": die Überkreuzung mit anderen Gattungen des Romans wie die Modellform für spätere R.n. Defoes Werk ist, grob gesehen, die Geschichte vom verlorenen Sohn in Abenteuerform. Der Schauplatz, eine Insel im Südmeer, vertritt dabei das Elend (ellende) des verlorenen Sohnes bei den Säuen. Doch ist bei Defoe das "Elend" voller Chancen und Reize der Abenteuerlichkeit. Damit fällt auch das Schwergewicht der Erzählung auf das Insel-Dasein und auf die Spannung, die im Motiv, es zu meistern, liegt. Dennoch bleibt das Motiv des verlorenen Sohns weltanschauliches Fundament. So ist zuerst Defoes "Robinson" ein Bekehrungsroman im Geiste der Dissentertums1 und des dt. Pietismus2. Er ist zweitens Abenteuer- und Reiseroman und mit dessen Spannungsmomenten durchsetzt. Er ist drittens Utopie und doch mehr als diese; nicht weil er eine Anti-Welt gegen die "böse" Welt im staatsrechtlichen Sinne aufbaut wie die eigenständige Gattung der Utopie, sondern weil er die Utopie des Von-vorne-Anfangens außerhalb der Kulturwelt durchexerziert. Hier ist dies noch vorrousseauisch. Nach Rousseau wird dieses Element sich verstärken, in Analogie zu dessen Erziehungsromanen. Aber auch bei Defoe ist die pädagogische Seite (Erziehung durch Vernunft und Natur) schon vorhanden. Aus alledem resultiert die Schwierigkeit, die R. sauber abzugrenzen gegen die eben genannten Romantypen (Abenteuer- und Reiseroman, Bekehrungs- und Erziehungsroman, utop. Roman). Die R. enthält schon bei Defoe Elemente aller dieser Gattungen. […]

Die R. ist also eine Mischgattung, mit besonderer Affinität freilich für bestimmte Epochen wie Aufklärung und "Biedermeier". Das erklärt sich aus der oben genannten "Chance", die die R. dem Autor wie dem Leser bietet: die Chance des Neubeginns und Von-vorn-Anfangens unter dem Zeichen von Vernunft und Natur, deren epische Ausgestaltung einen ganz eigenen phantastischen Reiz bietet. Dieser gehört sozusagen auch zur Geschichte des Kulturpessimismus und eröffnet damit, wie die Praxis es belegt, weite kulturhistorische Perspektiven. Unter den Romangattungen ist daher die R. eine der gemischtesten Formen, die übrigens auch soziologisch zu den interessantesten gehört, unter anderm wegen ihres dezidiert bürgerlichen Charakters, der sich, wie man festgestellt hat, mit der Zeit noch immer intensiviert.

§ 2. Das Robinsonmotiv gehört, schon vor Defoe, der Weltliteratur an und findet sich zunächst in morgenländischen Erzählungen; in Ansätzen geht es bis zum hellenistischen Reiseroman zurück. […]

Als erster verleiht Grimmelshausen in der "Continuatio des Simplicissimus" (1668) dem Motiv eine religiös-ethische Bedeutung. Reine R. ist die Episode nicht (über die Quellen vgl. M. Günther GRM. 10,1922,S.36 ff.); denn Simplicius, in seiner Erkenntnis, dass "aller Wahn treugt", bleibt freiwillig auf der Insel zurück, der Welt als Mensch des Barock in christlich-asketischem Sinne entsagend, da er inneren Frieden gefunden hat. Ihm ist die Insel nicht Exil, wie allen andern, besonders dem Robinson Defoes, sondern, mit starker Betonung des idyllischen Moments, wahrhaftes Asyl vor der sozialfeindlichen Kultur der Welt und ihrer Kabale und zugleich - das unterscheidet ihn von den späteren - Asyl vor den Versuchungen, die diese Welt ihm bietet, wie er es selbst ausspricht (ed. Borcherdt II, 269).

§ 3. Daniel Defoe schafft das eigentliche Werk, das der Gattung den Namen gibt und zugleich ihr reinster und eindeutigster Ausdruck durch seinen exil- und inselhaften Charakter ist. 1719 erschien, zunächst ohne Namen, "The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe", sich stützend auf wirkliche Erlebnisse des Matrosen Alexander Selkirk (vgl. H. Ullrich „Der Robinsonmythus“, ZfBüchfr. 8,1904, 8.1 ff.), ein realistischer, psychologischer Roman mit bewusster, aber nicht aufdringlich lehrhafter Art. Im Leben Robinsons auf der Insel spiegelt sich, in kleinem Ausschnitt der Kulturgang der Menschheit bis zur Staatenbildung: keine Utopie im politischen Sinne, sondern, echt englisch, eine Kolonie, die Verwirklichung zunächst einer wirtschaftlichen, dann eines ethisch-kulturellen Ideals, das Genügsamkeit predigen soll. Das bloß Abenteuerliche wird hier über das rein Didaktisch-Moralische hinaus in anderer Richtung als beim "Simplicissimus" zum ersten Mal einem großen philosophischen Kulturgedanken unterstellt. Trotz allem, auch Robinson strebt fort von der Insel, die ihm zutiefst doch Exil ist, nicht Asyl. Der unglaubliche Erfolg Defoes erklärt sich daraus, dass der Roman der praktisch-utilitaristischen wie der religiös-pietistischen Strömung der Zeit entgegenkam; in alle Sprachen wurde „Robinson Crusoe“ übertragen, in allen Sprachen, Ländern, Provinzen nachgeahmt und bearbeitet. […] Neben den sich häufenden Übersetzungen geht auch in Deutschland eine Reihe von R.n. her, die von sehr unterschiedlichem literarischen Wert - mit Defoe kann sich keine messen - schließlich in den großen Strom des Abenteuerromans mündet. Allen ist gemein, mehr oder minder stark ausgeprägt, der inselhafte Charakter des Aufenthalts, der stets als Exil empfunden wird - keine Weltflucht, keine Idylle; das gesellschaftliche Motiv taucht auf, nicht einer, sondern mehrere werden verschlagen. […]

§ 4. Es ist Joh. Gottfr. Schnabels "Insel Felsenburg", deren 1. Band 1731 anonym wie alle vorhergehenden R.n zu Nordhausen erschien unter dem Titel "Wunderliche Fata einiger Seefahrer …" (Neudr. hg. v. H. Ullrich, 1902), gleich wichtig als erster bedeutender Roman des 18. Jh.s mit psychologischem Einschlag wie als Ausdruck der seelischen Struktur seiner Zeit. […] Vertiefte Seelenschau geht zusammen mit einer veränderten ethischen Einstellung zur Welt und den Mitmenschen, mit einer neuen humanen Gesinnung, einem neuen sozialen Bewusstsein, das Schnabel als erster ahnt und darstellt. Entscheidend ist, dass wie Simplicius nun auch der Altvater Albertus Julius und die Seinigen ihre Insel nicht als Exil, sondern als Asyl auffassen vor einer unsozialen, rücksichtslosen Welt mit ihrem "politischen" Menschen, wie ihn das Zeitalter Ludwig XIV. geschaffen hatte, als "Ruheplatz redlicher Leute". Scharf stehen sich zwei Zeitalter gegenüber, das der individuellen Willkür, der Kabale, und das der sozialen Gebundenheit, der Humanität; auf diesem weltanschaulichen Gegensatz baut sich der Roman auf, der durch seinen asylhaften Charakter den eigentlichen R.n nur bedingt zugehört, vielmehr in seinem Hauptteil der kulturellen, patriarchalischen Utopie sich nähert, die ein gesellschaftlich-ethisches Ideal verwirklichen will. So weicht Schnabel von Defoe ab, dem er nur im Allgemeinsten verpflichtet ist, mit dem er aber den erziehlich-praktischen Zug teilt. […]

§ 6. Nach 1750 beginnt ein merklicher Umschwung; das philosophische, philanthropische Jahrhundert lässt sich diese literarische Gattung nicht entgehen; sie nutzt diese als Mittel für ihre aufklärerischen Absichten, um so mehr als Defoe selbst in der matten Fortsetzung seines Romans das erziehliche Moment immer stärker betont und Rousseau vor allem im "Emile" auf den unvergleichlichen Erziehungswert dieses Buches hingewiesen hatte. Die R. wird nun zum ausgesprochen pädagogischen Lehrmittel und allmählich zum wichtigen Bestandteil der Jugendliteratur (5. d.). Verschiedentlich bearbeitete man "Robinson Cursor" in dieser Hinsicht, so J. C. Wezel (1779), aber alle übertraf Joachim Heinrich Campe mit seinem "Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinde" (1779-80) an durchschlagendem Erfolg (120 Auflagen, in 25 Sprachen übersetzt), der dem inneren Gehalt dieser moralisch-pädagogischen, praktisch-nüchternen Erzählung bei weitem nicht entsprach. Der krasse Nützlichkeitsstandpunkt des 18. Jh.s. nur konnte zu dieser langweiligen Umbildung des dadurch ganz beiseite geschobenen Originals führen; ausdrücklich richtet sich Campe gegen die "Seelenseuche" der Zeit, gegen das "leidige Empfindsamkeitsfieber". […]

§ 7. In Deutschland kam man zunächst mehr zu einer eigenen neuen Gestaltung des Robinsonmotivs; man überließ dies dem Ausland und gab selbst nur Bearbeitungen und Nachahmungen. In England gelang dem Kapitän Fr. Marryat mit seinem "Masterman Ready" (1841) ein glücklicher Wurf; unter dem Titel "Sigismund Rüstig" kam die beliebte Erzählung seit 1843 in die deutsche Jugendliteratur. In dieser literar. Schicht blieb die R. fortan, sie konnte das pädagogische Gewand nicht mehr abstreifen und fand den Weg, den sie gekommen, nicht mehr zurück. Einzig Jules Verne, der große franz. Neuschöpfer des Reiseromans, führte in drei seiner Romane ("L’ile mystéreux" 1874, "L'école des Robinsons" 1882, "Deux ans de recance" 1888) das Robinsonmotiv wieder zurück in den alten Abenteuerroman, dem es entstammt. Erst die unmittelbare Gegenwart greift das Robinsonmotiv unter dem Einfluss der neuen politisch-staatlichen und sozialen Umwälzungen und Unmöglichkeiten wieder auf, verleiht seiner künstlerischen Gestaltung den mehr oder weniger deutlichen kulturkritischen und tendenzhaften Charakter und nähert sich so mitunter stark der Gattung des utopischen Staatsromans: so etwa N. Jacques Robinsonade "Piraths Insel" (1917), A. Petzolds "Alter Abenteuerroman" "Sevarinde" (1923), E. Reinachers "Robinson" (1919) und überlegen Gerhart Hauptmann: "Insel der großen Mutter" (1924), eine geistreich durchgeführte satirische Parodie auf die R. wie auf die moderne Frauenbewegung. […]

 

(Walther Rehm u. Werner Kohlschmidt: in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, hrsgg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Nohr, 3. Bd., 2. Aufl., 1977, S.475ff.)

WORTERKLÄRUNGEN:

1Dissentertum: Dissenter ist eine nicht der anglikanischen Staatskirche in Englang angehörige Person anderen protestantischen  bzw. römisch-katholischen Glaubens
2Pietismus: protestantische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich durch vertiefte Frömmigkeit und tätige Nächstenliebe auszeichnet und dadurch die Orthodoxie überwinden will

 Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 05.11.2024

    
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