§ 1. Als
einziger der eingebürgerten Gattungsbegriffe ist der der R. von einem
Eigennamen abgeleitet, Das sollte zur Vorsicht mahnen gegenüber der
Versuchung, den Terminus spekulativ theoretisch vorzubelasten. Wenn
irgendwo, dann ist hier empirisch zu verfahren. Defoes "Robinson
Crusoe" (1718) ist der Ausgangspunkt der Bezeichnung. Das Werk enthält
bereits in sich die wesentliche Problematik der Bezeichnung "Robinsonade":
die Überkreuzung mit anderen Gattungen des Romans wie die Modellform für
spätere R.n. Defoes Werk ist, grob gesehen, die
Geschichte vom verlorenen
Sohn in Abenteuerform. Der Schauplatz, eine Insel im Südmeer, vertritt dabei
das Elend (ellende) des verlorenen Sohnes bei den Säuen. Doch ist bei
Defoe das "Elend" voller Chancen und Reize der Abenteuerlichkeit. Damit
fällt auch das Schwergewicht der Erzählung auf das Insel-Dasein und auf die
Spannung, die im Motiv, es zu meistern, liegt. Dennoch bleibt das Motiv des
verlorenen Sohns weltanschauliches Fundament. So ist zuerst Defoes
"Robinson" ein Bekehrungsroman im Geiste der
Dissentertums1
und des
dt. Pietismus2.
Er ist zweitens Abenteuer- und Reiseroman und mit dessen Spannungsmomenten
durchsetzt. Er ist drittens Utopie und doch mehr als diese; nicht weil er
eine Anti-Welt gegen die "böse" Welt im staatsrechtlichen Sinne aufbaut wie
die eigenständige Gattung der Utopie, sondern weil er die
Utopie des Von-vorne-Anfangens außerhalb der Kulturwelt durchexerziert. Hier ist dies
noch vorrousseauisch. Nach
Rousseau wird dieses Element
sich verstärken, in Analogie zu dessen Erziehungsromanen. Aber auch bei
Defoe ist die pädagogische Seite (Erziehung durch Vernunft und Natur) schon
vorhanden. Aus alledem resultiert die Schwierigkeit, die R. sauber
abzugrenzen gegen die eben genannten Romantypen (Abenteuer- und Reiseroman,
Bekehrungs- und Erziehungsroman, utop. Roman). Die R. enthält schon bei
Defoe Elemente aller dieser Gattungen. […]
Die R. ist
also eine Mischgattung, mit besonderer Affinität freilich für bestimmte
Epochen wie Aufklärung und "Biedermeier". Das erklärt sich aus der oben
genannten "Chance", die die R. dem Autor wie dem Leser bietet: die Chance
des Neubeginns und Von-vorn-Anfangens unter dem Zeichen von Vernunft und
Natur, deren epische Ausgestaltung einen ganz eigenen phantastischen Reiz
bietet. Dieser gehört sozusagen auch zur Geschichte des Kulturpessimismus
und eröffnet damit, wie die Praxis es belegt, weite kulturhistorische
Perspektiven. Unter den Romangattungen ist daher die R. eine der gemischtesten Formen, die übrigens auch soziologisch zu den interessantesten
gehört, unter anderm wegen ihres
dezidiert bürgerlichen Charakters, der
sich, wie man festgestellt hat, mit der Zeit noch immer intensiviert.
§ 2. Das
Robinsonmotiv gehört, schon vor Defoe, der Weltliteratur an und findet sich
zunächst in morgenländischen Erzählungen; in Ansätzen geht es bis zum
hellenistischen Reiseroman zurück. […]
Als erster
verleiht Grimmelshausen in der "Continuatio des Simplicissimus"
(1668) dem Motiv eine religiös-ethische Bedeutung. Reine R. ist die Episode
nicht (über die Quellen vgl. M. Günther GRM. 10,1922,S.36 ff.); denn
Simplicius, in seiner Erkenntnis, dass "aller Wahn treugt", bleibt
freiwillig auf der Insel zurück, der Welt als Mensch des Barock in
christlich-asketischem Sinne entsagend, da er inneren Frieden gefunden hat.
Ihm ist die Insel nicht Exil, wie allen andern, besonders dem Robinson
Defoes, sondern, mit starker Betonung des idyllischen Moments,
wahrhaftes
Asyl vor der sozialfeindlichen Kultur der Welt und ihrer Kabale und zugleich
- das unterscheidet ihn von den späteren - Asyl vor den Versuchungen, die
diese Welt ihm bietet, wie er es selbst ausspricht (ed. Borcherdt II, 269).
§ 3.
Daniel Defoe schafft das eigentliche Werk, das der Gattung den Namen
gibt und zugleich ihr reinster und eindeutigster Ausdruck durch seinen exil-
und inselhaften Charakter ist. 1719 erschien, zunächst ohne Namen, "The life
and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe", sich stützend auf
wirkliche Erlebnisse des Matrosen Alexander Selkirk (vgl. H. Ullrich
„Der Robinsonmythus“, ZfBüchfr. 8,1904, 8.1 ff.), ein realistischer,
psychologischer Roman mit bewusster, aber nicht aufdringlich lehrhafter Art.
Im Leben Robinsons auf der Insel spiegelt sich, in kleinem Ausschnitt der
Kulturgang der Menschheit bis zur Staatenbildung: keine Utopie im
politischen Sinne, sondern, echt englisch, eine Kolonie, die Verwirklichung
zunächst einer wirtschaftlichen, dann eines ethisch-kulturellen Ideals, das
Genügsamkeit predigen soll. Das bloß Abenteuerliche wird hier über das rein
Didaktisch-Moralische hinaus in anderer Richtung als beim "Simplicissimus"
zum ersten Mal einem großen philosophischen Kulturgedanken unterstellt.
Trotz allem, auch Robinson strebt fort von der Insel, die ihm zutiefst doch
Exil ist, nicht Asyl. Der unglaubliche Erfolg Defoes erklärt
sich daraus, dass der Roman der praktisch-utilitaristischen wie der
religiös-pietistischen Strömung der Zeit entgegenkam; in alle Sprachen wurde
„Robinson Crusoe“ übertragen, in allen Sprachen, Ländern, Provinzen
nachgeahmt und bearbeitet. […] Neben den sich häufenden Übersetzungen geht
auch in Deutschland eine Reihe von R.n. her, die von sehr unterschiedlichem
literarischen Wert - mit Defoe kann sich keine messen - schließlich in den
großen Strom des Abenteuerromans mündet. Allen ist gemein, mehr oder minder
stark ausgeprägt, der inselhafte Charakter des Aufenthalts, der stets
als Exil empfunden wird - keine Weltflucht, keine Idylle; das
gesellschaftliche Motiv taucht auf, nicht einer, sondern mehrere werden
verschlagen. […]
§ 4. Es ist
Joh. Gottfr. Schnabels "Insel Felsenburg", deren 1. Band 1731 anonym
wie alle vorhergehenden R.n zu Nordhausen erschien unter dem Titel
"Wunderliche Fata einiger Seefahrer …" (Neudr. hg. v. H. Ullrich, 1902),
gleich wichtig als erster bedeutender Roman des 18. Jh.s mit psychologischem
Einschlag wie als Ausdruck der seelischen Struktur seiner Zeit. […]
Vertiefte Seelenschau geht zusammen mit einer veränderten ethischen
Einstellung zur Welt und den Mitmenschen, mit einer neuen humanen Gesinnung,
einem neuen sozialen Bewusstsein, das Schnabel als erster ahnt und
darstellt. Entscheidend ist, dass wie Simplicius nun auch der Altvater
Albertus Julius und die Seinigen ihre Insel nicht als Exil, sondern als Asyl
auffassen vor einer unsozialen, rücksichtslosen Welt mit ihrem "politischen"
Menschen, wie ihn das Zeitalter Ludwig XIV. geschaffen hatte, als "Ruheplatz
redlicher Leute". Scharf stehen sich zwei Zeitalter gegenüber, das der
individuellen Willkür, der Kabale, und das der sozialen Gebundenheit, der
Humanität; auf diesem weltanschaulichen Gegensatz baut sich der Roman auf,
der durch seinen asylhaften Charakter den eigentlichen R.n nur bedingt
zugehört, vielmehr in seinem Hauptteil der kulturellen, patriarchalischen
Utopie sich nähert, die ein gesellschaftlich-ethisches Ideal verwirklichen
will. So weicht Schnabel von Defoe ab, dem er nur im Allgemeinsten
verpflichtet ist, mit dem er aber den erziehlich-praktischen Zug teilt. […]
§ 6. Nach
1750 beginnt ein merklicher Umschwung; das philosophische, philanthropische
Jahrhundert lässt sich diese literarische Gattung nicht entgehen; sie nutzt
diese als Mittel für ihre aufklärerischen Absichten, um so mehr als Defoe
selbst in der matten Fortsetzung seines Romans das erziehliche Moment immer
stärker betont und Rousseau vor allem im "Emile" auf den
unvergleichlichen Erziehungswert dieses Buches hingewiesen hatte. Die R.
wird nun zum ausgesprochen pädagogischen Lehrmittel und allmählich zum
wichtigen Bestandteil der Jugendliteratur (5. d.). Verschiedentlich
bearbeitete man "Robinson Cursor" in dieser Hinsicht, so J. C. Wezel
(1779), aber alle übertraf Joachim Heinrich Campe mit seinem
"Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinde"
(1779-80) an durchschlagendem Erfolg (120 Auflagen, in 25 Sprachen
übersetzt), der dem inneren Gehalt dieser moralisch-pädagogischen,
praktisch-nüchternen Erzählung bei weitem nicht entsprach. Der krasse
Nützlichkeitsstandpunkt des 18. Jh.s. nur konnte zu dieser langweiligen
Umbildung des dadurch ganz beiseite geschobenen Originals führen;
ausdrücklich richtet sich Campe gegen die "Seelenseuche" der Zeit, gegen das
"leidige Empfindsamkeitsfieber". […]
§ 7. In
Deutschland kam man zunächst mehr zu einer eigenen neuen Gestaltung des
Robinsonmotivs; man überließ dies dem Ausland und gab selbst nur
Bearbeitungen und Nachahmungen. In England gelang dem Kapitän Fr. Marryat
mit seinem "Masterman Ready" (1841) ein glücklicher Wurf; unter dem Titel
"Sigismund Rüstig" kam die beliebte Erzählung seit 1843 in die deutsche
Jugendliteratur. In dieser literar. Schicht blieb die R. fortan, sie konnte
das pädagogische Gewand nicht mehr abstreifen und fand den Weg, den sie
gekommen, nicht mehr zurück. Einzig Jules Verne, der große franz.
Neuschöpfer des Reiseromans, führte in drei seiner Romane ("L’ile mystéreux"
1874, "L'école des Robinsons" 1882, "Deux ans de recance" 1888) das
Robinsonmotiv wieder zurück in den alten Abenteuerroman, dem es entstammt.
Erst die unmittelbare Gegenwart greift das Robinsonmotiv unter dem Einfluss
der neuen politisch-staatlichen und sozialen Umwälzungen und Unmöglichkeiten
wieder auf, verleiht seiner künstlerischen Gestaltung den mehr oder weniger
deutlichen kulturkritischen und tendenzhaften Charakter und nähert sich so
mitunter stark der Gattung des utopischen Staatsromans: so etwa N. Jacques
Robinsonade "Piraths Insel" (1917), A. Petzolds "Alter Abenteuerroman" "Sevarinde"
(1923), E. Reinachers "Robinson" (1919) und überlegen Gerhart Hauptmann:
"Insel der großen Mutter" (1924), eine geistreich durchgeführte satirische
Parodie auf die R. wie auf die moderne Frauenbewegung. […]
(Walther Rehm
u. Werner Kohlschmidt: in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte,
hrsgg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Nohr, 3. Bd., 2. Aufl., 1977,
S.475ff.)
WORTERKLÄRUNGEN:
1Dissentertum:
Dissenter ist eine nicht der anglikanischen Staatskirche in Englang
angehörige Person anderen protestantischen bzw. römisch-katholischen
Glaubens
2Pietismus:
protestantische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich durch
vertiefte Frömmigkeit und tätige Nächstenliebe auszeichnet und dadurch die
Orthodoxie überwinden will
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.11.2024