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Baustein: Strukturskizze
Mitten in diesen
Arbeiten ging das vierte Jahr meines Aufenthalts auf der Insel zu Ende.
Ich feierte den Jahrestag mit derselben Andacht und in gleicher Sammlung
des Gemüths als die frühern Male. Denn durch fortwährendes Studium und
ernstliches Forschen in Gottes Wort und mit Hülfe seiner Gnade war ich
zu einer viel tieferen religiösen Erkenntniß als früher gelangt. Ich sah
jetzt alle Dinge anders an als sonst. Die Welt betrachtete ich jetzt als
etwas mir Fernliegendes, das mich Nichts anging, davon ich Nichts zu
erwarten hätte und danach mich nicht verlangte. Ich hatte jetzt Nichts
mehr mit ihr zu schaffen, noch war es wahrscheinlich, daß ich es je
wieder haben würde. Darum stellte ich sie mir vor, wie wir vielleicht im
Jenseits thun werden, als einen Ort, an dem wir gelebt, den wir aber
verlassen haben, und wohl konnte ich sagen, wie Vater Abraham zum
reichen Manne: »Zwischen mir und Euch ist eine große Kluft befestiget«.
Vor allen Dingen war ich hier abgesondert von aller Bosheit der Welt.
Für mich gab es weder Fleischeslust, noch Augenlust, noch Eitelkeit des
Lebens. Ich begehrte Nichts, denn ich besaß Alles, was ich genießen
konnte. Ich war Herr der ganzen Insel; wenn es mir beliebte, konnte ich
mich König oder Kaiser des Landes nennen, das ich in Besitz genommen
hatte. Es gab keinen Rivalen, keinen Prätendenten neben mir, Keinen, der
meine Herrschaft angefochten oder getheilt hätte. Ich hätte ganze
Schiffsladungen voll Korn produciren können, aber ich vermochte sie
nicht nutzbar zu machen, und darum säete ich nur eben so viel aus, als
mein eigener Bedarf erforderte. Auch Wasser- und Landschildkröten hatte
ich in Menge, aber mehr als von Zeit zu Zeit eine einzige konnte ich
nicht verwenden. Ich besaß Bauholz genug. um eine ganze Flotte von
Schiffen damit bauen, und Trauben genug, um mit ihnen als Wein oder
Rosinen diese Flotte vollständig befrachten zu können. Jedoch was half
mir das, was ich nicht nützen konnte? Ich hatte genug zu essen und meine
Lebensnothdurft zu befriedigen, was sollte ich mit dem Uebrigen machen?
Wenn ich mehr Thiere tödtete, als ich aufessen konnte, so mußte das
Fleisch von dem Hund oder den Würmern gefressen werden. Säete ich mehr
Korn, als ich verbrauchen konnte, so verdarb es; die Bäume, die ich
fällte, blieben liegen und verfaulten; ich konnte sie zu nichts Anderem
als zu Brennholz verwenden, und auch das brauchte ich nur, um meine
Speisen zu bereiten.
Kurz, Natur und Erfahrung lehrten mich, bei genauer Betrachtung, daß
alle guten Dinge dieser Welt nicht mehr Werth für uns haben, als in so
weit wir sie gebrauchen können. Wie viel wir auch immer anhäufen mögen,
um es Anderen zu geben, wir genießen nur gerade so viel, als wir selbst
nöthig haben, und nicht mehr. Der habgierigste, gewinnsüchtigste
Geizhals in der Welt würde vom Laster der Begehrlichkeit geheilt worden
sein wenn er an meiner Stelle gewesen wäre; denn ich besaß ja unendlich
viel mehr, als ich je verwenden konnte. Es blieb mir Nichts zu wünschen
übrig, außer einigen Kleinigkeiten, die mir allerdings sehr willkommen
gewesen sein würden. Ich war, wie ich früher erwähnt habe, im Besitz
eines Beutels voll Geld, das aus Silber und Gold ungefähr im Werth von
sechsunddreißig Pfund Sterling bestand. Aber, du lieber Gott! da lag nun
das schlechte, erbärmliche, unnütze Zeug; ich hatte keine Art von
Verwendung dafür, und oft dachte ich bei mir, wie gern ich eine Handvoll
davon für eine Anzahl Tabakspfeifen oder für eine Handmühle, um mein
Korn damit zu mahlen, geben würde. Ja, das Ganze hätte ich mit Freuden
hingegeben für ein wenig englischen Runkelrüben- und Mohrrübensamen oder
für ein Häuflein Erbsen und Bohnen und eine Flasche voll Tinte.
Wie jetzt die Sachen standen, hatte ich nicht den geringsten Vortheil
oder Gewinn von jenem Mammon. Er lag im Kasten und verrostete durch die
Feuchtigkeit der Höhle in der nassen Jahreszeit. Und hätte ich den
Kasten voller Diamanten gehabt, so wäre es nicht anders gewesen; sie
hätten keinen Werth für mich gehabt, weil ich sie nicht brauchen konnte.
Mit der Zeit war mein Leben viel freudiger geworden als im Anfange,
sowohl das leibliche als das geistige. Ich setzte mich oftmals mit
Dankbarkeit zu Tische und bewunderte die göttliche Vorsehung, die mir so
den Tisch in der Wüste gedeckt hatte. Ich lernte mehr die Lichtseite
meiner Lage ansehen und weniger bei der Schattenseite verweilen, und das
gewährte mir zuweilen so viel innere Freude, daß ich es gar nicht
auszudrücken vermag. Diesen Umstand erwähne ich hier, um ihn
unzufriedenen Leuten einzuprägen, die nicht behaglich genießen können,
was Gott ihnen bescheert hat, weil sie immer Dinge ansehen und begehren,
die er ihnen versagt hat. Alle Unzufriedenheit über das, was uns fehlt,
scheint mir aus unserm Mangel an Dankbarkeit für das, was wir haben, zu
entspringen.
Noch eine
andere Betrachtung war mir von großem Nutzen und würde das unzweifelhaft
einem Jeden sein, der in solche Trübsale wie die meinigen gerathen ist.
Ich verglich oft meinen jetzigen Zustand mit den Erwartungen, die ich
anfangs davon gehegt hatte, oder vielmehr mit der Lage, in die ich
unfehlbar gerathen sein würde, wenn nicht Gottes gütige Vorsehung es
wunderbar gefügt hätte, daß das Schiff so nahe an meine Küste
angetrieben wurde, wo ich es nicht nur hatte erreichen können, sondern
auch Alles, was ich daraus mitnehmen wollte, zu meiner Erleichterung und
Bequemlichkeit sicher ans Land zu bringen vermocht hatte. Denn ohne dies
hätte es mir ja an jedem Handwerkszeug zu meinen Arbeiten gefehlt, an
jeder Waffe zu meiner Vertheidigung und an Pulver und Blei, um mir
Nahrung zu verschaffen.
Ganze Stunden, ich möchte sagen ganze Tage verwendete ich darauf, mir in
den lebhaftesten Farben auszumalen, was ich angefangen haben würde, wenn
ich Nichts aus dem Schiffe gerettet hätte. Nichts als Fische und
Schildkröten wären in diesem Falle zu meiner Nahrung vorhanden gewesen,
und da ich diese erst nach längerer Zeit auffand, hätte ich
wahrscheinlich schon früher verhungern oder, wäre das auch nicht
geschehen, doch stets wie ein Wilder leben müssen. Wenn es mir z. B.
gelungen wäre, durch List eine Ziege oder einen Vogel zu tödten, so
hätte ich ja nicht gewußt, wie ich das Thier hätte aufschneiden oder
abhäuten, oder das Fleisch von dem Fell und den Eingeweiden trennen,
oder es zerlegen sollen. Es wäre mir nichts Anderes übrig geblieben, als
es mit den Zähnen zu zernagen und mit den Nägeln zu zerreißen wie ein
wildes Thier.
Solche
Erwägungen machten mich sehr erkenntlich für die Güte der Vorsehung und
sehr dankbar in meiner gegenwärtigen Lage, trotz all ihren Entbehrungen
und all ihren Mißlichkeiten. Ich möchte das auch besonders Denen zur
Nachachtung empfehlen, die geneigt sind, in ihrem Elend zu sagen: »Gibt
es denn noch andere Leiden, die so groß sind wie die meinigen?« Mögen
sie einsehen, wie viel schlimmer es Andere haben und sie selbst es haben
könnten, wenn der Himmel es für gut befunden hätte. Wieder ein anderer
Gedanke, der auch dazu beitrug, mein Herz mit Trost zu erfüllen, war
der, daß ich meine Lage mit jener verglich, die ich verdient hatte, und
in die von der Hand Gottes versetzt zu werden, ich sonach hätte erwarten
müssen. Ich hatte ein schreckliches Leben geführt, völlig ohne
Gotteserkenntniß und ohne Gottesfurcht. Von Vater und Mutter war ich
zwar gut unterwiesen worden, auch hatten sie nicht unterlassen, mir
schon frühzeitig eine heilige Scheu vor Gott und einen Begriff von
meinen Pflichten und von dem, was der Zweck meines Daseins von mir
forderte, beizubringen. Aber ach! ich war so früh in das Leben und
Treiben der Seeleute gerathen, das vor allen anderen ein gottloses zu
sein pflegt (obgleich ja gerade der Seemann immerfort die Allmacht
Gottes in den Schrecken der Natur unmittelbar vor Augen hat), daß das
Bischen Religion, was ich bisher noch gehabt hatte, von meinen Genossen
vollends aus mir herausgelacht war. Dazu hatte sich die mir zur
Gewohnheit gewordene Verachtung der Gefahr und des Todes gesellt und
später der gänzliche Mangel an Gelegenheit, mit irgend einem anderen
Wesen meines Gleichen zu verkehren und irgend etwas Gutes oder zum Guten
Führendes zu hören.
So weit entfernt von allem Guten war ich gewesen, so ohne jeden Begriff
von dem, was ich war und was ich sein sollte, daß ich bei den
wunderbarsten Errettungen, die ich erfahren, wie z. B. bei meiner Flucht
von Saleh, bei meiner Aufnahme auf dem portugiesischen Schiffe, bei dem
Gelingen meiner Unternehmungen in Brasilien, bei dem Eintreffen meiner
Ladung aus England u. s. w., nicht ein einziges Mal ein »Gott sei Dank!«
auch nur gedacht, geschweige denn ausgesprochen hatte. Auch in der
allergrößten Noth war es mir nie eingefallen, ihn anzurufen oder auch
nur zu sagen: »Herr erbarme dich meiner!« Nein, nicht einmal den Namen
Gottes hatte ich in den Mund genommen, es sei denn, um dabei zu fluchen
oder ihn zu lästern.
Viele Monate hindurch war meine Seele schwer bekümmert gewesen, wenn ich
über mein früheres böses und verstocktes Leben nachgedacht, wenn ich um
mich geblickt und die besondere Fügung betrachtet hatte, die seit meiner
Ankunft an diesem Orte über mir waltete, und wenn ich erwog, wie reich
mich Gott mit Wohlthaten überschüttet hatte. Hatte er mich doch nicht
nur gelinder gestraft, als meine Sünden verdienten, sondern auch noch
überreichlich für mich gesorgt. Dieser Umstand bestärkte mich auch in
der Hoffnung, daß meine Reue angenommen sei, und daß Gott mir Gnade
geschenkt habe.
Solche
Betrachtungen führten mich nicht allein zu einer völligen Ergebung in
den Willen Gottes und alle seine Schickungen, sondern sogar zu einer
aufrichtigen Dankbarkeit für meine gegenwärtige Lage. Ich erkannte nun
klar, daß ich mich nicht beklagen dürfte, da mir ja das Leben geschenkt
und ich nicht einmal nach Verhältniß meiner Sünden gestraft worden sei,
daß ich so viele Wohlthaten genieße, die ich an diesem Orte nicht
erwarten durfte.
(aus: Daniel Defoe, Robinson Crusoe,
übersetzt von Karl Altmüller, Leipzig 1869, Kap. 7)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.11.2024