Das Schneekind
Hört zu und merkt
Treulich alles Volk den tollen Schwank,
Wie’s des Schwaben Frau gelang,
Trügen ihren Mann,
Und wie er gleiches ihr getan.
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Von Konstanz fuhr
Einst ein Schwäble hin wohl übers Meer,
Waren tauschen hin und her;
Derweil schuf sein Weib
Daheim sich guten Zeitvertreib.
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Kaum fuhr das Schiff
Auf den wüsten Wogen,
Kam ein Wetter da
Plötzlich aufgezogen;
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Brausend steigt die Flut,
Wild die Winde wehn,
Hoch die Wellen gehn,
Und den heimatlosen Mann
Wirft in fernem Land
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Ein Südsturm schließlich auf den Strand.
Indes zu Haus
War das Weib nicht träge:
Gaukler waren nah,
Burschen auf dem Wege;
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Rasch den fernen Mann
Schlug sie aus dem Sinn,
Gab sich willig hin.
Alsobald sie schwanger ward –
War’s zu rechte nicht:
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Das Kind kam rechter Zeit ans Licht. –
Zwei Jahre vorüber waren,
Da kehrt nach Haus er sonder Harm;
Entgegen eilt ihm die Fraue
Und hält das Knäblein auf dem Arm.
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Erst begrüßt er sie gar treugesinnt;
Doch dann heißt’s: "Wes ist das Kind?
Rede sollst du stehn;
Sonst müss’ es gleich dir übel gehn."
Die Fraue, in Todesängsten,
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Lügt und schwindelt mit dreister Stirn:
"Ach Liebster, da steh’ ich", spricht sie,
"Eines Tages auf hoher Firn;
Nach dir in Sehnsucht ich dort vergeh":
Da nahm ich ein wenig Schnee –
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Sieh, ach, Liebster, sieh,
Davon dies Kindlein ich empfieh.’ –
Endlich rüstet wieder
So nach fünf, sechs Jahren
Sich der Kaufmann, unstät
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Über See zu fahren;
Bessert aus das morsche Schiff,
Richtet neu es her
Und führt das Schneekind übers Meer.
Dort an ferner Küste
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Bringt er es zu Lande,
Einem fremden Kaufmann
Setzt er es zu Pfande:
So wird er den Jungen los
Und kehrt heim zur Stund
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Als reicher Mann mit hundert Pfund.
Aber nun zu Hause
Hebt er an zu klagen:
"Ach, was soll ich, Liebste,
Dir zum Troste sagen?
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Dein geliebter Sohn ist hin,
Der gewißlich dir
Nicht teurer konnte sein denn mir.
Sieh, es kam ein Wetter,
Und der Wellen Branden
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Ließ auf seichten Bänken
Uns Erschöpfte stranden;
Und wie glüh auf unser Haupt
Dort die Sonne schien, –
Da, siehe, schmolz das Schneekind hin....“
(aus: Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters in deutschen
Versen, hrsgg. v. Hermann Reich, München: Oskar Beck 1913, S. 213-215 –
wikisource – gemeinfrei)