Im didaktischen Kontext
des • Deutsch- bzw. Literaturunterrichts versteht man unter intertextueller
Lektüre Konzepte, bei denen mit oder ohne besondere Lernarrangements Texte
auf ihre intertextuellen Bezüge hin gelesen werden sollen, um dadurch zu
einem vertiefteren Verständnis des Sekundärtextes zu gelangen. Wir sehen
darin vor allem ein
prozessorientiertes didaktisches Konzept, das in verschiedenen
Unterrichtssettings umgesetzt
werden kann. Aus pragmatischen Gründen wird hier zwischen der
intertextuellen Lektüre in einem engeren Sinne und dem •
intertextuellem Schreiben
unterschieden, auch wenn beides in konkreten Lehr- und Lernprozessen häufig
miteinander verbunden wird.
Intertextuelle Lektüre
stellt die Beziehung, die zwischen Texten besteht, in den Mittelpunkt.
Sie fokussiert auf die Bedeutungsebene der Texte und erzeugt im besten Fall
damit einen "semantische(n) Mehrwert, der von Sinnkomplexion bis hin zur
Sinnzerstäubung reichen kann." (Lachmann/Schahadat
1992/42004, S.679)
Jede Bedeutung, die damit
konstruiert wird, muss sich dabei ihrer Historizität bewusst sein und davon
ausgehen dass Intertextualität an sich, aber auch intertextuelle Praktiken
von Epoche zu Epoche verschieden sind.
Als "Gedächtnis des
Textes, in dem ein anderer, fremder Text erinnert, abgelöst oder
weitergeschrieben wird," (ebd.)
bewahrt der Sekundärtext die
Erinnerung an Vergangenes und schreibt ihm dadurch auch Bedeutung im •
kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft zu.
Literarische Texte werden
damit auch Teil des "Speichergedächtnis",
das gegen "die permanente Abfuhr des Vergessens, das unwiederbringliche
Verlorengehen von bewertetem Wissen und vitalen Erfahrungen" arbeitet. (Aleida
Assman 32006, S.19) Zu den unterschiedlichen kulturellen
Praktiken, mit denen dieses "generationen- und epochenübergreifende
Gedächtnis" (ebd.)
aufgebaut, immer wieder neu ausgehandelt, etabliert und angeeignet wird,
gehören auch die intertextuellen, historisch bedingten Praktiken, die auf
der Grundlage der Medienentwicklung einen je spezifischen Zugang zum
kulturellen Gedächtnis eröffnen.
Im
Literaturunterricht spielt die intertextuelle Lektüre, soweit sie auf dem
Prinzip (Hoffnung) beruht, Schülerinnen und Schüler könnten "sich von
intertextuellen Phänomenen irritieren lassen, eigenständig nach solchen
Bezügen recherchieren und nach deren möglichen Funktionen fragen" (Kammler
2010/22013, S.313), wie dies von
Buß (2006)
gefordert wird, wohl eher eine untergeordnete Rolle und kann wohl auch in
der Sekundarstufe II nur von den wenigsten in einem •
eigenverantwortlichen und rein
selbstgesteuerten Lernprozess beim literarischen Lernen
umgesetzt werden.
Die intertextuelle Lektüre
kann aber dennoch in einem Unterrichtssetting umgesetzt werden, das den den Schülerinnen und
Schülern in einem förderlichen Umfeld und mit Hilfe geeigneter Formen der •
Lernbegleitung (Scaffolding)
• Lernprozesse anregen,
• Hilfen bei
der Ausführung von Lernhandlungen anbieten, die •
Selbstbewertung
der Schülerinnen und Schüler unterstützen und ihre •
Selbstbeurteilung anregen. Auf diese Weise können
entsprechende Lernarrangements zur intertextuellen Lektüre auch im Sinne des
literarischen Lernens " zum Erwerb von Einstellungen, Fähigkeiten,
Kenntnissen und Fertigkeiten" beitragen, "die nötig sind, um
literarisch-ästhetische Texte in ihren verschiedenen Ausdrucksformen zu
erschließen, zu genießen und mit Hilfe eines produktiven und kommunikativen
Auseinandersetzungsprozesses zu verstehen." (Büker
2002, S.121)
Auch auf die Gefahr hin,
für die "Rigidität der vorgeschlagenen Lernwege" (Buß 2006,
S. 50) und der "mangelnde(n) Ergebnisoffenheit und extreme(n)
Kleinschrittigkeit" (Kammler
2010/22013, S.313) wegen gescholten zu werden, müssen die
Lehrkräfte bei ihrer didaktischen Reflexion zu Lehr- und Lernprozessen, die
über intertextuelle Lektüre i. e. S. und intertextuelles Schreiben
angestoßen werden sollen, mit einem "Ist-Zustand" umgehen, der davon
ausgehen muss, dass die Schülerinnen und Schüler wenig für eine an
Einzel- und
Systemreferenz orientierte intertextuelle Lektüre mitbringen, solange
sie an literarischen Texten, insbesondere der
Höhenkammliteratur,
praktiziert wird. Dementsprechend situieren die Lehrkräfte, wie
Kammler ebd.)
betont, "ihre Lernarrangements zwangsläufig im leeren Raum, also in
Unkenntnis des Vorwissens einer konkreten Lerngruppe über
Prätexte und vorhandene
Problemlösungsstrategien, vor dessen Hintergrund 'Referenzmarkierungen'
erkannt, Deutungshypothesen entwickelt werden, kurz 'Entdeckerfähigkeiten'
(vgl. Buß 2006(a),
S.50) überhaupt erst zum Zuge kommen können."
Insofern sind
einem eigenständigen Entdecken intertextueller Bezüge durch die
Schülerinnen und Schüler als Grundlage einer so verstandenen
intertextuellen Lektüre sicher enge Grenzen gesetzt, auch wenn eine stärkere
Lenkung des Schreibprozesses auch nicht die ultima ratio didaktischer
Lernarrangements sein kann.
Maßgeblich für die intertextuelle Lektüre im Literaturunterricht, wie
wir sie hier verstehen, muss dabei auch nicht unbedingt
ein schon vorhandenes • intertextuelles
und • textanalytisches Wissen sein,
mit dem
Intertextualitätsmarkierungen (•
Referenzsignale) auf der lokalen Textebene gesucht und identifiziert werden können
und das bis zu einem gewissen Grad vorausgesetzt werden muss, um die Bedeutung die intertextuellen Einschreibungen für den
vorliegenden Text zu erkennen. Ebenso wenig muss die intertextuelle Lektüre
stets mit • intertextuellem Schreiben
verbunden sein. Weder ist es hilfreich, sich an einem "intertextuelle(n)
Idealleser" (vgl.
Buß 2006, S.90)
zu orientieren, noch an einem "intertextuellen Idealschreiber", der beim
"Weiter-, Um- und Widerschreiben" (Lachmann/Schahadat
1992/82004, S.679) sein Potential beim • kreativen
Schreiben abrufen kann. Intertextuelle Lektüre kann nämlich auch auf
andere Weise zur literarischen und Persönlichkeitsbildung beitragen.
Sie
kann, wenn sie von den Anforderungen entlastet wird, die das •
intertextuelle Schreiben,
vor allem in einem
individuell
organisierten und produktorientierten Schreibprozess, mit sich bringt,
vor allem dann gewinnbringend in unterrichtlichen
Lernprozessen zum Tragen kommen, wenn Intertextualität, wie z. B. im •
Ansatz von Harold Bloom nicht so sehr als "spezifische Eigenschaft von
Texten" (Holthuis
1993, S.16)" verstanden wird, sondern auch die "persönlichen
Texte des Lesers" (Kepser/Abraham
42016,S. 265) umfasst. Diese als unterschiedliche
Erfahrungen, darunter auch Lese- und Medienerfahrungen aller Art, im individuellen (biologischen)
Gedächtnis des einzelnen Schülers gespeicherten Erinnerungen bzw. mentalen
Repräsentationen, die mehr oder weniger Anschluss an das •
kulturelle
Gedächtnis der Gesellschaft finden können, werden in der
Anschlusskommunikation über einen Text in ihrer Bedeutung für das
•
soziale
Gedächtnis der Peer-Group verhandelt.
Im Kontext •
literaturgeschichtlicher
Fragestellungen kann eine nicht primär an •
intertextuellem Schreiben
orientierte intertextuelle Lektüre mit den Methoden des •
Random Access und der •
Erinnerungsschneisen Zugänge zu einem Verständnis der prinzipiellen
Aufeianderbezogenheit von Texten im Umfeld eines bestimmten •
Literaturepochenkonstrukts
verdeutlichen. Wird es darüber hinaus in diesem Zusammenhang mit dem
anekdotischem Erzählen verbunden, ergeben sich nicht nur Schnittstellen zum
intertextuellen Schreiben, sondern auch zum •
historischen Erzählen als Methode.
Für das
intertextuelle Schreiben in der Schule können die verschiedenen
Möglichkeiten, bei dem ein •
strategischen Schreibziel bei der
Sekundärtextproduktion verfolgt wird, wohl nur dann eine Rolle
spielen, wenn die grundsätzlichen Strategien vermittelt und an Beispielen
verdeutlicht worden sind.
Maßgeblich für das intertextuelle Schreiben im Literaturunterricht ist dabei nicht unbedingt
ein schon vorhandenes • intertextuelles
Wissen, über das wohl nur ein "intertextueller
Idealleser" (vgl.
Buß 2006, S.90)
verfügen kann, der auch die in einem Text u. U. enthaltenen Markierungen
(•
Referenzsignale) erkennt und diese intertextuellen Einschreibungen
für die eigene Sekundärtextgestaltung verwenden kann.
Insofern sind einem eigenständigen Entdecken intertextueller Bezüge
durch die Schülerinnen und Schüler als Grundlage ihres intertextuellen
Schreibens sicher enge Grenzen gesetzt, auch wenn eine stärkere Lenkung
des Schreibprozesses auch nicht die ultima ratio didaktischer
Lernarrangements sein kann. In der Regel wird aber intertextuelles
Schreiben wohl
So wird man im Allgemeinen davon auszugehen haben, dass die Schülerinnen
und Schüler von ihrer Lehrperson auf eine bestimmte Textstelle
oder Textstruktur oder einen Text als Ganzes aufmerksam gemacht werden,
von der in einem Text-Text-Bezug die gewünschte Sekundärtextproduktion
ausgehen soll.
Entsprechende textproduktive Schreibaufgaben in der
Schule, z. B. zum •
Transformieren einer bestehenden Textvorlage, werden dabei, je nach
didaktischen Zielen, so offen gestellt, dass die Schülerinnen und
Schüler quasi frei Hand beim Weiter-, Um- und Widerschreiben des
Primärtexts haben, oder so, dass sie ihre transformierenden
Sekundärtexte entlang von Vorgaben gestalten sollen (z. B. Wechsel der
Erzählperspektive in einem erzählenden Text). In jedem Fall soll ein textueller Neuanfang ermöglicht
werden, der "durch Distanzierung
und Annäherung" intertextuelle Bezüge für das Schreiben nutzt (vgl.
Portmann 1996, S.167f.)
Trotzdem ist das Transformieren von
Textvorlagen, •
schreibdidaktisch gesehen, im Kern Teil einer "offenen" und "dezentralen" Schreibdidaktik, welche
bewusst "Kontrapunkte zum üblichen Schreiben" setzt, das den Fokus fast
ausschließlich auf "Grossanlässe" richtet. (vgl.
ebd.)
Indem sie auch "kleine und unscheinbar wirkende Formen des
Schreibens ernst nimmt und auf schreibwirksames Lernen auch
außerhalb des eigentlichen ▪
Schreibprozeses
setzt" (ebd.),
kann die Texttransformation einen wesentlichen Beitrag zur
Entwicklung der ▪
Schreibkompetenz
leisten.
So sind Vergleiche, die mit schon vorhandenen mentalen
Repräsentationen unterschiedlichster Art bei der Rezeption vorgenommen
werden, für die ▪ Sinnkonstruktion, den Aufbau eines ▪
Situationsmodells, grundlegend: "Diese Figur erinnert mich an meinen
Vater ..." oder "Dieser Schauplatz erinnert mich an den Ort, wo ich
aufgewachsen bin ..." oder "Diese Geschichte erinnert mich an einen
Film, den ich vor kurzem gesehen habe ..." und viele ähnliche
"persönliche Texte" nehmen also großen Einfluss darauf, wie wir Texte
verstehen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet m:
31.12.2024