docx-Download -
pdf-Download
▪
Friedrich Schiller,
Ankündigung der Horen (1795)
Ich hoffe, alle einsichtigen Ärzte, Gesetzkundige, Erzieher,
Philosophen, Prediger und Fürsten werden mir hier beistimmen und dann
einsehen: [...]
Keine Regierung könne die Völker bürgerlich frei machen, bevor diese
sich nicht selbst moralisch frei gemacht hätten. Dies ist wahrlich
eben so viel, als wenn man behaupten wollte, man müsse keinem erlauben, eher
gehen zu lernen, bis er tanzen gelernt hätte, oder sich nicht eher ins
Wasser wagen, bis er schwimmen könnte; oder einen Fieberkranken kurieren zu
wollen, ohne für die Wegschaffung der pestilanzialischen1
Luft und erhitzender Nahrungsmittel gesorgt zu haben; oder einer Taube die
Flügel festzuhalten und doch zu fordern, sie solle fliegen! [...]
Auf eben diesem verkehrten und der Natur widersprechenden Wege finden wir
auch den Herausgeber und die Verfasser der Horen2.
Beide sprechen, laut der Ankündigung, von dem allverfolgenden Dämon der
Staatskritik - von einem Lieblingsthema des Tages, und von den
Horen, als von einer Schrift, die sich ein strenges Stillschweigen darüber
auferlegen und ihren Ruhm darin suchen wird, durch etwas anderes zu
gefallen, wodurch jetzt alles gefalle. Je mehr das beschränkte Interesse der
Gegenwart die Gemüter in Spannung setze, einenge und unterjoche, desto
dringender werde das Bedürfnis, durch ein allgemeineres und höheres
Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluss der Zeiten
erhaben sei, sie wieder in Freiheit zu setzen, und die politisch-geteilte
Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen [...]
Alles recht gut und löblich! Aber wie dies zu Stande bringen? Wie irgend
Leute zum Tanze oder Ball bestimmen, in deren Nachbarschaft es brennt? Oder
denen es an dem Nötigen fehlt, um an dem Angenehmen teilnehmen
zu können? Wie ein Haus oder Garten verschönern, wenn man weder Haus noch
Garten eigentümlich besitzt, oder wenigstens nichts dazu übrig hat?
Necessaria utilibus, utilia iucundis praeferenda sunt (Man muss das
Notwendige dem Nützlichen und das Nützliche dem Angenehmen vorziehen) sagt
Cicero3. Und eben die
Vindizierung4 des Notwendigen und
Nützlichen ist das Lieblingsthema des Tages, und der Gegenstand für den
allverfolgenden Dämon der Staatskritik. Dies ignorieren und die Menschen
durch ein höheres Interesse in Freiheit setzen wollen, wie vorzeiten das
Lieblingsthema aller Kreuzfahrer und Ordensstifter war. Das musste das
gegenwärtige Irdische verachtet und bloß das zukünftige Höhere gesucht und
geachtet werden. Man folgte haufenweise, aber was erwarb man? Hirngespinste,
asketische Faselei und Ketzermorde. -
Unser Magen ist nicht rein menschlich, noch weniger über allen Einfluss der
Zeiten erhaben: er fordert reelle Befriedigung für den Darmsinn; und hat er
die zur Genüge und sicher, dann erst hat unser Kopf und Herz Zeit und
Geschmack für Ideenspeise. Sonst hat der hungrige Bauch keine Ohren weder
für Logik, noch für Ästhetik, noch für Moral; wohl aber Fäuste zum
Zugreifen; [...]
Patriotische Gelehrte sollten also als Vermittler zwischen dem Volk und dem
Fürsten auftreten, die Sache beider unparteiisch untersuchen, und dadurch
glimpflich das bewirken helfen, was zur allgemeinen Abspannung der Gemüter,
durch gegenseitige Befriedigung nach Recht und Pflicht dienet.
Hört erst alle Usurpation5, aller
Despotismus6 auf, eröffnet oder
erweitert man die Brotquellen durch verbesserten Ackerbau, Manufakturen,
Fabriken, Kommerz7, Pressefreiheit
u. dgl., werden die Rechte der Geringsten erst allgemein beachtet, erhält
jeder Würdige ohne Unterschied der Geburt freien Zutritt zu Dienststellen
und Pachtungen, hebt man die Fronen8,
übertriebene Steuern, Wildhegungen9
, kurz alles das auf, was die Menschen zur Sklavenarbeit zwingt, ohne die
Früchte ihrer Arbeit je in Ruhe zu genießen - dann bedarf es nur eines
Winkes durch Beispiel, um sie dahin zu bringen, wohin Die Horen es
sollen. Geschieht das nicht, wie werden Die Horen es erreichen, die
politisch-geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu
vereinigen? Wie gesagt,
der hungrige Bauch hat keine Ohren, keine Augen!
Daher bei uns der Mangel an Kunstgefühl, Kunstachtung, Schändung der
öffentlichen Denkmäler [...]
(aus: Friedrich Christian Laukhard, Zuchtspiegel für Adliche,
Paris 1799, S. 21ff., in:
Peter Stein (Hg.) 1973, S.55, gekürzt; er neuen Orthographie angepasst)
Friedrich Christian Laukhard (1758-1822):
Sohn eines Predigers; mit 16 Jahren Studium an der Universität Gießen, dort
Bekanntschaft mit dem radikalen Aufklärer Carl Friedrich Bahrdt; später
Prediger, wegen seines sozial nicht akzeptierten Lebenswandels entlassen
Arbeit als Jagdaufseher, Kellermeister, Sprachlehrer, Waisenhauslehrer in
Halle und als Universitätsdozent; wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten Ende
der akademischen Karriere; danach Berufssoldat, bei der Belagerung von Mainz
dabei; gilt als ein sozialer Abenteurer, ein Typus, der im 18.
Jahrhundert durchaus nicht selten vorgekommen ist; war in vielen Rollen zu
Hause, die er mehr oder weniger freiwillig selbst übernommen hat;
Worterklärungen:
1 pestilenzialisch: fürchterlich stinkend, von Pest
2 Horen: Die Horen, Literarische Zeitschrift, von Friedrich Schiller als
Monatsschrift zwischen 1795 und 1797 herausgegeben; publizistisches Organ
der Weimarer Klassik; benannt nach den drei Horen, die griechischen
Göttinnen Eirene (Frieden), Eunomia (Ordnung) und Dike (Gerechtigkeit);
Zeitschrift wurde nach zwei Jahren u. a. wegen ihres zu lebensfernen und
elitären Anspruches, der kaum Leser erreichte, eingestellt;
3 Cicero, Marcus Tullius (106-43 v. Chr.), römischer Staatsmann, Redner und
Philosoph
4 Vindizierung: Herausgaberecht des Eigentümers einer Sache an den Besitzer
5 Usurpation: widerrechtliche Besitz- bzw. Machtergreifung
6 Despotismus: Gewaltherrschaft
7 Kommerz: hier im Sinne von Handel und Geschäfte
8 Fronen: unentgeltliche Dienste, die die meist bäuerlichen Untertanen ihren
Herren schuldeten (Arbeitsdienste usw.)