[»Roman Ingarden (1893-1970),
ein polnischer Philosoph und Anhänger der »Phänomenologie
Husserls hat mit
seiner Theorie der Werkerfassung die spätere
Rezeptionsästhetik
zwar beeinflusst, ohne dass seine Auffassungen jedoch in der
Rezeptionsästhetik münden.]
Roman Ingarden:
[Konkretisationen] (1968)
"Der Leser liest [...] gewissermaßen 'zwischen den Zeilen' und ergänzt
unwillkürlich, durch ein - wenn man so sagen darf - 'überexplicites'
Verstehen der Sätze und insbesondere der in ihnen auftretenden Namen,
manche von den Seiten der dargestellten Gegenständlichkeiten, die durch
den Text selbst nicht bestimmt sind. Dieses ergänzende Bestimmen nenne
ich das 'Konkretisieren' der dargestellten Gegenstände. Darin kommt die
eigene, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers zu Wort: aus eigener
Initiative und Einbildungskraft 'füllt' er verschiedene
Unbestimmtheitsstellen mit Momenten 'aus', die sozusagen aus vielen
möglichen, bzw. zulässigen gewählt werden, obwohl letzteres [...] nicht
notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese 'Wahl' ohne bewusste und
für sich gefasste Absicht des Lesers. Er lässt einfach seine Phantasie
frei walten [...] Wie dies im einzelnen Fall geschieht, hängt sowohl von
den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch vom Leser, dem Zustand,
bzw. der Einstellung ab, in der er sich gerade befindet. Infolgedessen
können zwischen den Konkretisationen desselben Werkes bedeutende
Unterschiede bestehen, auch dann, wenn sie vom selben Leser bei
verschiedenen Lektüren vollzogen werden.
Vom Standpunkt des ästhetischen Wertes des konkretisierten Werkes
aus sind jedoch nicht alle diese 'zulässigen' Konkretisationen in
gleicher Weise zu empfehlen. [...] Viele Unbestimmtheitsstellen, etwa
bezüglich des Charakters des Menschen, seines Empfindens, der Tiefe
seiner Denkweise und seiner Emotionalität, dürfen aber nicht auf eine
beliebige Weise ausgefüllt werden, da solche Ergänzungen von großer
Bedeutung für die betreffende dargestellte Person sind. Eine bestimmte
Weise des Ausfüllens kann das Werk sehr verflachen und banalisieren,
während eine andere es vertiefen und z.B. origineller machen wird - wie
man es oft bei der Aufführung eines Dramas im Theater erleben kann. [...]
Die Weise der Konkretisierung zeigt aber auch, inwiefern eine bestimmte
Konkretisation eines Werks 'im Geist' der künstlerischen Intentionen des
Verfassers ist, ihnen nahe steht oder im Gegenteil von ihnen abweicht.
Entweder ist das konkretisierte Werk dem Stil gemäß oder
verwandt, in welchem es - dem im Werk effektiv Vorhandenen entsprechend -
geschaffen wurde, oder es hat infolge einer bestimmten Art der
Konkretisation diesen Stil verloren. [...] Es ist also sowohl von dem
Gesichtspunkt der Richtigkeit oder Treue der Konkretisation des Werkes aus
nicht irrelevant, wie sich eine Konkretisation des Werkes tatsächlich
vollzogen hat. Und im Zusammenhang damit stehen die Fragen nach einer
adäquaten ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks
sowie - in der Folge - nach ihrer treffenden Bewertung."
(aus:
Roman
Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion 1968, in:
Warning
1975, S.46)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.02.2025