Um ein für die
Lektürepraxis der Dekonstruktion vertiefteres Verständnis zu
gewinnen, muss man sich vor allem mit dem Sprach- und
Zeichenverständnis »Jacques Derridas
(1939-2004) befassen. Es erklärt, worauf sich die
Vorstellung beruht, dass ein Text "weder seinen Sinn in sich
selber hat noch eine Bedeutung, die im vorausgeht" und "daher
auch nicht auf einen authentischen oder ursprünglichen Sinn hin
entziffert werden" kann (Bogdal
1996, S.152).
Für
Derrida besteht ein Zeichen zunächst einmal wie bei »Ferdinand de Saussure (1857-1913) und
im sprachwissenschaftlichen
»Strukturalismus
aus einer Einheit von
»Signifkant
und einem »Signifikat.
Anders ausgedrückt: ein Zeichen hat eine Ausdrucksebene (z. B.
als Lautfolge (Phonem) oder als Buchstabenfolge (Graphem).
Allerdings enden damit auch schon die Gemeinsamkeiten.
Saussure geht
davon aus, dass zwischen »Signifkant
und »Signifikat
ein willkürliche Beziehung besteht (Arbitrarität). Die Zeichen,
aber auch die übergeordneten Begriffe, die in verschiedenen
Sprachen unterschiedlich gebildet werden können, sind
voneinander klar abgrenzt. Jedes Zeichen trägt durch dieses
Abgrenztsein, das auf einer stabilen Beziehung zwischen zwischen
Signifikant und Signifikat seine Bedeutung (Differenzprinzip).
Derrida
hingegen nimmt eine ganz andere Abgrenzung vor. Zwar betont auch
er die "Differenz" der Begriffe, meint aber etwas ganz anderes.
Seiner Auffassung nach entsteht Bedeutung nicht auf der Ebene
des Zeichens selbst, sondern nur in Abgrenzung von anderen
Zeichen. Daher verneint er, dass es so etwas wie eine feste
Bedeutung eines sprachlichen Zeichens geben kann. Die Abgrenzung
von anderen Zeichen ist dabei nie abgeschlossen, dass in jedem
neuen begrifflichen Kontext wieder eine neue Bedeutung entsteht.
Daher kann sich auch keine bestimmte Bedeutung
herauskristallisieren und auf Dauer festigen, sondern sie
befindet sich quasi andauernd in Bewegung und verschiebt sich
ständig, weil immer wieder neue Begriffe zur Abgrenzung
auftauchen und herangezogen werden. Aber da jedes Zeichen die
"Spur" unterschiedlicher Bedeutungen in verschiedenen Kontexten
in sich trägt, lässt sich das fortdauernde Spiel der prinzipiell
instabilen Bedeutungseinheiten in ihrem offenen
Verweisungsuniversum mit seinem "prinzipiell unendlichen
Flottieren der Signifikanten" (Burkhart
2008, S.3390 bestenfalls protokollieren, aber eine von
den anderen Zeichen absolute Bedeutung niemals fixieren.
Bedeutung, Derrida benutzt hier den Neologismus "différance"
steht dabei für diese Art "Bewegung des Bedeutens", durch die
Bewegung in der Zeichenkette, in Verschiebungen und durch
Differenzen (vgl.
Welsch 1996,
S. 255), durch ein Netz von textlichen Verweisen auf andere Texte (vgl.
Derrida
1986a, S. 77)
Die
Dekonstruktion will "die Konstruktion der Texte in ihrer
grundsätzlich widersprüchlichen Anlage zeigen" (Jeßing/Köhnen
2007, S.314) und tut dies, indem sie ihre zeichenhafte
Konstruktion herausarbeitet.
Für die
Interpretation von Texten hat diese zeichentheoretische
Grundlegung die Konsequenz, dass auch diese, da sie aus
sprachlichen Zeichen bestehen, deren Bedeutungen quasi immer in
Bewegung sind, nicht auf eine Bedeutung/einen Sinn festgelegt
werden kann. Damit löst sich auch die Vorstellung von der
Werkeinheit auf und auch die Bedeutung des Autors für das
vermeintliche Werkganze verflüchtigt sich, weil auch dieser die
Bedeutung der sprachlichen Zeichen in seinem Text weder
kontrollieren noch festlegen kann. (vgl. Köppe/
Winko 2008, 7.3. Dekonstruktion 7.3.3. kindle-Version)
Da der Text
also keine eindeutige Bedeutung haben kann, ist auch das, was
gemeinhin unter der Interpretation literarischer Texte,
insbesondere bei hermeneutischen Modellen, verstanden wird,
unter dem Blickwinkel der Dekonstruktion unsinnig. Statt
Interpretation und einer Lektüre, die vorgibt, den einheitlichen
Sinn eines Textes ermitteln zu können, stellt die Dekonstruktion
einen Modus des Lesen dar, der den Texten "möglichst wenig
Gewalt antut. Möglichst wenig Gewalt im Sinne einer Zurichtung
und Reduktion auf die eigenen Begriffe, die man für die Lektüre
mitbringt und an den Text heranträgt. Aber auch möglichst wenig
Gewalt im Sinne der Ausrichtung der Lektüre auf ein Ziel." (Engelmann
1990, S.30f., zit. n.
Bogdal 2000, S.14) Dennoch "zielt" diese Lektüre auf
"eine Schicht des Textes, von der der Autor nichts weiß oder die
er zumindest nicht beherrscht und die den Zusammenhang des
Textes und damit eine Auffassung in Frage stellt, für die ein
Text nur eine ›transparente Folie‹ über Bedeutung und Sinn ist."
(Wegmann
2007, S.334)
Zudem geht, wie
Köppe/
Winko (2008, 7.3. Dekonstruktion 7.3.3. kindle-Version)
betonen, "wer eine Lektüre vornimmt, vom semantischen Verstehen
von Texten aus; jedoch wird in einem zweiten Schritt dieses
Verstehen in Frage gestellt, indem Konflikte oder Widersprüche
im Text ausgemacht werden, die das erste, ›naive‹ Verstehen
problematisieren".
Um die Textwidersprüche aufzudecken
bedient sie sich einer "Lektürestrategie, mit der versucht wird,
die linguistische Konstruktion eines Textes bloßzulegen und
zugleich in Widersprüche zu verstricken, um sie dadurch
aufzulösen." Dabei sollen Widersprechende, einander störende
Bedeutungslinien sollen bis auf Wort - und Buchstabenebene
zerlegt werden (Jeßing/Köhnen
2007, S.314) ),
um grundsätzlich ›die Geltungsansprüche einer auf Ermittlung von
Sinn ausgerichteten Interpretation zu unterlaufen‹ (Wegmann
1997, S.334)" (ebd.).
Gut nachvollziehbare Beispiele dafür liefern
Martyn (1992/82008) und
Köppe/
Winko (2008) im Anschluss an
Hiebel (2006), der •
Franz Kafkas Erzählung •"Ein
Landarzt" dekonstruiert.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.02.2025