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Bausteine
▪ Eine traditionelle Parabel
interpretieren
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Didaktische und methodische Aspekte
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Quicke: So interpretiert man eine traditionelle Parabel
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Überblick
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Aspekte der Schreibaufgabe
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Überblick
▪ Den
Bildbereich analysieren
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Elemente des Bildbereichs in einen Sachbereich übertragen
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Die Textinterpretation
strukturieren
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Formulierungshilfen
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Typische Schreibaufgaben
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Arbeitsschritte
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Musterbeispiele
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Textauswahl
Parabel aus dem
siebzehnten Jahrhundert
Ein reicher Hausvater
hatte einen einzigen Sohn, der seine Verlassenschaft erben sollte. Er
hätte ihn gar gern glücklich verheiratet gesehen, aber der Sohn war
schwer zu befriedigen, oder vielmehr gar nicht; denn er konnte sich auf
keine Weise entscheiden und schwankte immer von einer Braut zur andern.
Darüber war der Vater ungeduldig und sprach: "Jetzt, mein lieber Sohn,
führe ich dir zum letzten Mal vier schmucke Bräute hintereinander vor,
aber mit der Bedingung, dass du zu der, welcher du einmal den Korb
gegeben, nicht wieder zurückkehren kannst; auch will ich sie dir nicht
zugleich vorstellen, sondern eine nach der andern. Siehe zu, dass du die
beste erwählest!" Der Sohn versprach, sein möglichstes zu tun. Da führte
ihm der Vater zuerst eine schöne junge Dirne vor in einem grün und gelb
bekleeten Röcklein; sie hatte veilchenblaue, sehnsüchtige Augen und
einen Blütenkranz in den geringelten fliegenden Locken, ihre Wangen
glühten wie die Wangen eines Kindes, das aus dem Schlaf erwacht, ihr
Herzchen pochte freudig und kindisch, sie trat so leis einher, dass sie
kein Gräschen krümmte, und die Nachtigall, die sie auf der Hand trug,
sang überaus lieblich den Bräutigam an, der unentschlossen um die
Jungfrau herumging und, als der Vater sagte: "Munter, munter! Willst du
sie oder willst du sie nicht?", antwortete: "Ich zweifle, ob ihre
Schönheit Bestand haben wird; sie ist zwar sehr schön, aber sie könnte
doch bald verwelken." – So blieb er unentschieden, und die liebe
Jungfrau ging von dannen. Nun ließ der Vater eine andere hereintreten,
die war nicht minder schön, aber voller und freudiger; sie hatte ein
grünes Kleid an, mit Rosen gestickt, ihre Wangen glühten wie rote Äpfel,
ihre Lippen schimmerten wie Kirschen; sie trug einen Kranz von Ähren,
mit breitem schattenden Laub durchwunden, auf den schwarzen Flechten,
und ihre dunklen Augen blickten feurig umher, in der Hand aber hatte sie
eine blanke Sichel, die in der Sonne blitzte. Der Sohn konnte sich
wieder auf keine Weise entscheiden; er meinte, sie scheine ihm gar zu
glänzend, sie möge der Pracht zu sehr ergeben sein, sie möge viel
verschwenden; die erste sei doch wohl liebenswürdiger gewesen, sie
gefalle ihm zwar ganz unendlich, aber – und in diesem Aber verließ ihn
auch die zweite Jungfrau, und die dritte trat vor ihn hin. Sie war wohl
nicht mehr so jung als die erste, nicht so freudig und strahlend als die
zweite, aber schön war sie doch in ihrer reichen Mitgift, wie eine
melancholische Braut. Sie trug einen vollen Fruchtkranz in ihren braunen
Haaren, ein feierliches gelbes Gewand bedeckte ihren edlen Leib und war
mit grünem und rötlichem Weinlaub gestickt; in der einen Hand trug sie
einen goldenen Becher und drückte mit der andern ein Traube hinein. Ihr
Blick war schwermütig, aber mild und betrachtungsvoll, ihre Wangen waren
blass, und eine schnelle Röte flog über sie hin. Der Jüngling musterte
sie von allen Seiten, er fand sie unvergleichlich, aber doch eigentlich
noch mehr interessant als schön; er konnte sich auch zu ihr nicht
entschließen, und meinte, er wolle sich doch lieber die vierte besehen;
das Beste müsse wohl zuletzt kommen. Da sah ihn die Braut mit einem
bedauernden, strafenden Blick an und verließ ihn. Nun trat die vierte
Braut daher; sie kam mit einem großen Gebraus, trüb und stürmisch war
ihr Wesen, sie trug eine Dornenkrone; ihr Angesicht wat bleich, sie
klapperte mit den Zähnen, sie schimmerte von fern, als sei sie in
Silberstücke gekleidet, aber es war alles Reif, Schnee, Eis und Kälte.
Der Jüngling erschrak und sprach zurücktretend: "Weiche von mir" Ich
zweifle sehr, ob du meine Braut bist!" Sie aber fasste ihn mit beiden
Armen und sagte: "Nein, mein Geliebter! Es ist kein Zweifel, dass ich
der Winter bin und deine Braut dazu; mir ist ganz verzweifelt kalt, und
du sollst mich wärmen!" – Da sprach der Hausvater den Segen über die
beiden, und der Zweifel musste die alte dürre, kalte, zänkische Frau
haben sein Leben hindurch.
So geht es allen Freunden
des Zweifels; sie müssen endlich bei dem Winter vorliebnehmen und zu
Gast gehen!
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