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Bausteine
▪ Eine traditionelle Parabel
interpretieren
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Didaktische und methodische Aspekte
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Quicke: So interpretiert man eine traditionelle Parabel
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Überblick
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Aspekte der Schreibaufgabe
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Überblick
▪ Den
Bildbereich analysieren
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Elemente des Bildbereichs in einen Sachbereich übertragen
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Die Textinterpretation
strukturieren
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Formulierungshilfen
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Typische Schreibaufgaben
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Arbeitsschritte
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Musterbeispiele
Kalif1
Hakkam, der die Pracht liebte, wollte die Gärten seines Palastes
verschönern und erweitern. Er kaufte alle benachbarten Ländereien und
bezahlte den Eigentümern soviel dafür, als sie verlangten. Nur eine arme
Witwe fand sich, die das Erbteil ihrer Väter aus frommer
Gewissenhaftigkeit nicht veräußern wollte und alle Anerbietungen, die
man ihr machte, ausschlug. Den Aufseher der königlichen Gebäude verdross
der Eigensinn dieser Frau; er nahm ihr das kleine Land mit Gewalt weg,
und die arme Witwe kam weinend zum Richter.
Ibn Beschir war
Kadi2 in der Stadt. Er ließ sich den Fall vortragen und fand
ihn bedenklich; denn obschon die Gesetze der Witwe ausdrücklich recht
gaben, so war es doch nicht leicht, einen Fürsten, der gewohnt war,
seinen Willen für die vollkommene Gerechtigkeit zu halten, zur
freiwilligen Erfüllung eines veralteten Gesetzes zu bewegen.
Was also tat der gerechte
Kadi? Er sattelte seinen Esel, hing ihm einen großen Sack über den Hals
und ritt unverzüglich nach den Gärten des Palastes, wo der Kalif sich
eben in dem schönen Gebäude befand, das er auf dem Erbteil der Witwe
erbaut hatte.
Die Ankunft des Kadi mit
seinem Esel und Sacke setzte ihn in Verwunderung, und noch mehr
erstaunte er, als Ibn Beschir sich ihm zu Füßen warf und also
sagte: «Erlaube mir, Herr, dass ich diesen Sack mit Erde von diesem
Boden fülle!» Hakkam gab es zu. Als der Sack voll war, bat Ibn
Beschir den Kalifen, ihm den Sack auf den Esel heben zu helfen.
Hakkam fand dieses Verlangen noch sonderbarer, um aber zu sehen, was
der Mann vorhabe, griff er mit an. Allein der Sack war nicht zu bewegen,
und der Kalif sprach: «Die Bürde ist zu schwer, Kadi, zu gewichtig» –
«Herr», antwortete Ibn Beschir mit edler Dreistigkeit, «du
findest diese Bürde zu schwer, und sie enthält doch nur einen kleinen
Teil der Erde, die du ungerechterweise einer armen Witwe genommen hast.
Wie willst du denn das ganze geraubte Land tragen können, wenn es der
Richter der Welt am großen Gerichtstage auf deine Schultern legen wird?»
Der Kalif war betroffen;
er lobte die Herzhaftigkeit und Klugheit des Kadi und gab der Witwe das
Erbe zurück mit allen Gebäuden, die er hatte anlegen lassen.
Dieses Werk (Die ewige Bürde von Johann Gottfried Herder, das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
1 »Kalif:
Titel für religiös-politische Führer verwendet wird; im Islam ist damit
üblicherweise der Anspruch auf die Führung der gesamten »islamischen
Gemeinschaft verbunden.
2 »Kadi: Qādī
(arabisch Entscheider, Richter‘) ist nach der »islamischen
Staatslehre ein Rechtsgelehrter, der im Auftrag eines Kalifen vor allem »richterliche
Funktionen wahrnimmt.