Die
Frage, woran man am Text erkennen kann, dass es sich um eine •
moderne Parabel handelt, ist gar nicht
so einfach zu beantworten.
Letzten Endes muss man ja erkennen, dass mit dem Gesagten etwas
anderes gemeint ist. Nur was das eigentlich sein soll, was uns
zweifelsfrei darauf aufmerksam machen soll, ist oft auf
Textebene gar nicht so leicht festzustellen.
Was aber, wenn
man sich einfach mit dem zufrieden gibt, was im Text steht und
gar nicht auf die Idee kommt, dass man das Ganze auf etwas
übertragen soll, das außerhalb des Textes liegt? Und was, wenn
man, das zwar durchaus tut, aber dann zu hören bekommt, es werde
dem Text nicht wirklich gerecht?
Das sind
Fragen, die Schülerinnen und Schüler immer wieder beschäftigen,
wenn sie in der Schule vor allem bei
Leistungsaufgaben wie z. B. Klassenarbeiten oder Klausuren mit
solchen Texten zu tun bekommen.
Auch wenn die
Sorgen, die hinter solchen Fragen stehen, durchaus
nachvollziehbar sind, ist es dabei aber nicht so, dass man in
einer Klausur quasi völlig unvorbereitet einen solchen Text vor
die Nase gesetzt bekommt. Gewöhnlich hat man es im Unterricht
schon mit anderen modernen Parabeln zu tun gehabt, an deren
Beispiel und im Vergleich miteinander bestimmte
Textsortenmerkmale der modernen Parabeln zum Thema gemacht
worden sind.
Und mit dem
Phänomen, dass etwas anders gemeint, als es gesagt wird, wenn
wir etwas ironisch meinen, auch hineichend Erfahrung im Alltag
gemacht. Das einzelne Wörter oder Wendungen im übertragenen Sinn
verwendet werden, kennen wir längst und haben den Umgang mit
Metaphern und ähnlichen rhetorischen Figuren gelernt. Und selbst
Texte, die als Ganzes etwas anderes meinen, als das, was sie
erzählen, ist uns nicht neu. Wir haben schon mit Fabeln zu tun
gehabt oder mit Gleichnissen bzw. traditionellen Parabeln, die
allerdings immer wieder mehr oder weniger klar vorgegeben oder
zumindest angedeutet haben, dass das, was im Text steht, eben
nicht alles ist, sondern sein eigentlicher Sinn außerhalb des
Textes zu suchen ist.
So weit so gut.
Das Problem ist aber, dass genau dies bei modernen Parabeln aus
verschiedenen Gründen nicht mehr der Fall ist. Hier findet sich
keine Instanz, die uns darauf aufmerksam macht, dass wir einen
Bedeutungstransfer vornehmen sollen. Und nicht nur das: Eine
moderne Parabel lässt uns geradezu auf dem Sinn sitzen, ohne
jeden Hinweis darauf, was denn gemeint sein könnte.
Und
genau deshalb stehen wir vor dem mit den obigen Fragen
aufgeworfenen Problem. Auch Literaturwissenschaftler*innen tun
sich schwer, auf der Textebene genau auszumachen, dass ein Text
dazu auffordert, seinen "eigentlichen" Sinn außerhalb des Textes
zu konstruieren. Bei modernen Parabeln fehlen eben einfach
solche expliziten Signale, sagt eben keiner, wo es langgehen
soll. Allenfalls gibt es
implizite
Transfersignale, über die erfahrene Leser*innen so stolpern,
dass sie daraus ableiten, dass sie ihre Spurensuche nach dem
Sinn des Ganzen außerhalb des Textes fortsetzen müssen, wenn sie
sich einen Reim auf den Text als Ganzes machen wollen. Solche
Stolpersteine im einzelnen nachweisen zu wollen, ist aber oft
recht schwierig. Zudem signalisieren sie einem ja nur,
vorausgesetzt man kommt beim Lesen überhaupt ins Stolpern, dass
das Dargestellte nicht das Gemeinte ist, aber nicht was das
Gemeinte selbst sein kann.
In gewisser
Hinsicht löst sich die Frage, woran erkennt man eigentlich auf
Textebene genau, dass es sich bei einem Text um eine moderne
Parabel handelt, für die schulische Textinterpretation
weitgehend in Luft auf. Das bedeutet aber nicht, dass wir mit
unserem Vorwissen, das wir über solche Texte erworben haben,
oder mit entsprechenden Kontextinformationen über den Autor/die
Autorin und eine Reihe • allgemeiner
Merkmale von modernen Parabeln, nicht Hinweise für die
konkrete Gattungszuordnung eines bestimmten Textes und mögliche
Ansätze für den Bedeutungstransfer bei der Interpretation
gewinnen können. Und natürlich kann auch der Vergleich mit einem
anderen Text, der als Prototyp einer modernen Parabel gilt, dazu
dienen, festzustellen, ob der gerade vorliegende Text diesem
ähnelt oder nicht. Wichtig ist allerdings, dass das Heranziehen
von Merkmallisten nicht zur "Erbsenzählerei" ausartet, bei der
möglichst lückenlos alle im konkreten Text vorkommenden Merkmale
identifiziert und hintereinander aufgelistet werden, sondern
stets ihre
Funktion
für die eigene Bedeutungskonstruktion sichtbar bleibt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.09.2024