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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Zwei Bier und einmal Pizza picante. Nein, Regina, wollte nichts essen,
meinte, sie sei satt. Markus überlegte, ob er seine Pizza auch wieder
abbestellen sollte, denn der Gedanke, vor ihren Augen allein diesen
belegten Hefeteig vertilgen zu müssen, verunsicherte ihn sehr. Doch der
Kellner war bereits in der Küche verschwunden.
Das Bier kam, Regina drehte sich eine Zigarette, und sie begannen zu
fachsimpeln. Markus wollte erst mal Sympathien einfahren und versuchte,
möglichst einfühlsam zu reden. Er wollte auf keinen Fall das sagen, was
Regina sowieso von einem Mann erwartete.
Er war ganz zufrieden mit sich. Doch dann kam die Pizza. "Willst du
nicht wenigstens mal probieren?" fragte er, um Regina doch noch in
die Speiseverrichtung einzubeziehen, die nun bevorstand. Aber sie lehnte
weiterhin ab, jetzt schon fast genervt. So stach er nur für sich in den
harten Teig und musste aufpassen, dass der Teller dabei nicht kippte.
"Wie kann man eine so große Pizza nur auf einem Teller servieren,
die gehört auf ein Holzbrett", suchte Markus nach einer
Entschuldigung und erschrak über das Messer, das über das Porzellan
quiekte. Das war ein viel versprechender Start. Er traute sich jetzt nicht,
Regina anzusehen. Wahrscheinlich saß sie da, nippte genüsslich an ihrem
Bier und freute sich auf das tolle Programm, das gerade erst begonnen
hatte: Ein Mann und seine Pizza. Dreidimensional. Regina in der ersten
Reihe, ganz dicht dran. Life.
Der Schnitt war nicht tief genug. Markus zerrte das angeschnittene Stück
mit der Gabel vom Pizzarund, auf das er das Messer presste um die
notwendige Gegenkraft aufbringen zu können. Jetzt quiekte die Gabel. Es
gab einen Ruck und beinahe hätte er das große Stück mit dem Messer vom
Teller gefegt. Er hatte noch nichts gegessen, und trotzdem arbeiteten
seine Schweißdrüsen schon mit voller Kraft. Markus führte die Gabel
möglichst ruhig vor seinen Mund, den er sehr spät und nur leicht
öffnete. Unauffällig wollte er das Stück in den elegant wartenden
Mundwinkel schieben. Er wollte den Eindruck vermitteln, als sei es für
ihn völlig selbstverständlich, vor einer wildfremden Frau zu sitzen, um
vor ihren prüfenden Augen eine Pizza zu verspeisen.
Jetzt machte er sich Sorgen um seine Kaugeräusche. Er kaute so langsam
und so wenig wie möglich, und dennoch erreichte sein Schmatzen Regina
sicherlich im Dolby-Stereo-Sound. Was sollte er machen. Einspeicheln ist
wichtig. Kräftiges Einspeicheln verhindert magenbedingten Mundgeruch. Er
war in einer Zwickmühle und hoffte nur, dass kein Tomatenmark an seinem
Kinn hängen geblieben war.
Dann plötzlich dieses Brennen im Hals, das runterwandert bis zum Magen
und die Speiseröhre zum Kochen bringt. Die Spur einer Peperoni, die
Markus gedankenverloren auf die Gabel gespießt hatte, ohne an den
Beinamen seiner Pizza zu denken, der ihm aber jetzt schweißnass aus den
Augen quoll: picante! Das Bier, denkt Markus, das könnte mich retten. Er
greift zu dem Glas und nimmt einen kräftigen Schluck, um das tobende
Feuer in seiner Brust zu löschen. Doch das Bier kommt nicht weit,
vielleicht bis zum ersten Halswirbel. Da stemmt sich ihm ein Schluckauf
entgegen, der die Speiseröhre versperrt. Und zurück mit dem Schluck
durch Nase und Mund. Markus prustet fürchterlich, und nicht alles an
Regina vorbei.
Er läuft rot an und weiß, dass er den Peperonivorfall jetzt nicht
länger für sich behalten kann. Und weil nun sowieso alles egal ist,
stürzt er zur Toilette und lässt sich das Chlorwasser durch Schlund und
Kehle laufen. Er kühlt seine Stirn, schaut verlegen in den Spiegel,
wünscht, Ruth säße nebenan am Tisch und wischte sich sein Bier aus dem
Haar.
Mit Ruth wäre das alles kein Problem. Da würde er jetzt ganz locker
zurückgehen und weiter essen. Und ihr sagen, sie solle nicht so blöd
kichern, und sich so lange über ihr Kichern aufregen, bis klar war, dass
sie die Schuld an seinem Schluckauf trug.
Oder Ruth würde ihn trösten, ihn streicheln und trösten, und gemeinsam
würden sie den Schluckauf besiegen.
Doch nebenan saß eine Emanze aus der Frauengruppe und lachte sicherlich
hemmungslos. Lachte sich kaputt über die Männer, diese fresssüchtigen
Tiere, die alles in sich hineinstopfen, unterschiedslos, die ganze Welt
mit ihrer Gier überziehen und selbst vor einer Peperoni nicht Halt
machen.
Jetzt würde endlich einer an seinem Schluckauf verrecken, endlich die
Erde von einem dieser Gierhälse befreit, und dann wäre der Tag nicht
mehr weit, an dem die Frauen die Macht übernähmen. Alle geschundenen
Kreaturen würden befreit, die Legehennen aus ihren Batterien, und hinein
kämen die Männer zur Samenproduktion. Und auf den Tisch kämen Müsli,
Gemüse und Obst, von wegen Pizza picante. Oder vielleicht doch?
Als Markus wieder zu Regina an den Tisch kam, hatte sie große Pizza in
handliche Stücke zerschnitten und die Peperonis aussortiert. Sie ließ
sich sogar überreden, ein kleines Stück mit zu essen. Das verstand
Markus in diesem Moment als schwesterliche Solidarität.
Wochen später beichtete sie ihm, dass sie an diesem Abend einen geradezu
tierischen Hunger gehabt hatte. Am liebsten wäre sie über die Pizza
hergefallen wie Max über die Graupen. Hätte sie runtergeschlungen
mitsamt der Peperonis und wäre immer noch nicht satt gewesen. Aber da sie
zu stolz war, sich von ihm einladen zu lassen, musste sie ihren Magen mit
kleinen, wohldosierten Schlucken aus dem Bierglas besänftigen und
mit ansehen, wie Markus Stück für Stück der Pizza verdrückte, am
Schluckauf vorbei. Denn ihr Geld hatte sie in die Kinokarte investiert,
blieben gerade noch eine Mark zwanzig für ein Bier.
Aber genascht hatte sie, nachdem Markus puterrot zur Toilette gestürzt
war. Deshalb hatte sie die Pizza in Dreiecke zerschnitten - da fiel das
nicht so auf.
(Michael Lamprecht, Die Gegenwart der Vergangenheit der
Liebe, 1987, S.58-61)
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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023
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