Eine Zweischichtenerzählung
Der Brief- oder Tagebuchroman stellt einen
▪ Typus
des Ich-Romans dar, der als fiktionale Variante des Briefes lange Zeit
(18.-Mitte 19. Jh.) "als wirksames Medium zur Verbreitung und
Verfeinerung spezifisch bürgerlicher Normen, Denkweisen und Empfindungen
diente." (Vogt
1996, S.76)
Als quasi schriftliche Form direkter Rede zeichnet sie sich nach
Vogt (1996) durch die folgenden Merkmale aus:
Beispiele:
-
Samuel Richardson: Clarissa, or the History of a Young Lady (1748),
(Verführungsroman mit 537 Briefen in sieben Bänden einer der längsten
Romane in englischer Sprache)
-
Montesquieu: Persische Briefe (Lettres de persanes, 1721, erweitert
1754)
-
Jean-Jaques Rousseau: Julie oder die neue Heloise (La Nouvelle
Héloise (1761)
-
Johann Wolfgang von Goethe:
Die Leiden des jungen Werther (1774)
-
Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereueses (= Gefährliche
Liebschaften) (1782)
-
Hölderlin, Hyperion (1797)
Beispiel 1:
David Grossman, Sei du mir das Messer
In dem Briefroman »Sei du mir das Messer« des israelischen
Schriftstellers
David Grossman
(geb. 1954) geht es um eine zugleich komplizierte und
einfache Liebesgeschichte, die sich deshalb jenseits von Alltagsroutinen
bewegt, weil sie von den beiden Briefeschreibern keinerlei Verpflichtung und
Bekenntnis abverlangt.
Was sie über einander wissen, ist nur wenig und sehr
allgemein, nämlich Familienstand, Beruf und Adresse. Zugleich ermöglicht
diese Unkenntnis eine Distanz, die zugleich den Weg zu einer großen
gegenseitigen Offenheit weist.
Jair, der Mirjam nur ein einziges Mal
gesehen hat, schreibt ihr und schlägt ihr eine höchst unkonventionelle
Beziehung vor. Nur brieflich und ohne Verpflichtung, soll jeder der
beiden im Übrigen nach eigener Façon leben.
Mirjam erliegt der Faszination
der Worte Jairs und so erzählen sie einander Geschichten - bis ein Treffen
unvermeidbar scheint. Dabei reflektieren die sich zwischen innerem Monolog
und Tagebucheintragung bewegenden Briefe keine Handlung, sondern offenbaren
als "kleine psychologische Skizzen, in denen die Wirklichkeit als
Belästigung oder als Anekdote vorkommt", die Befindlichkeit der Figuren.
"Weil sie sich fremd wissen, vertrauen sie sich einander an. Die Liebenden
scheinen füreinander zugleich wirklich und imaginär zu sein: Er ist
Antiquar, und sie kennt seine Firma; sie ist Lehrerin, und er kennt das
Jerusalemer Gymnasium, an dem sie unterrichtet. Gleichzeitig stellen sie
füreinander das Ideal des verständnisvollen und anspruchslosen Partners dar.
In ihren Briefen legen sie ihre geheimen Wünsche und Ängste bloß,
verschönern ihren trockenen Alltag mit eingebildeten Erlebnissen, versuchen
in einer vorgetäuschten Vertraulichkeit der Wirklichkeit zu entfliehen." (Stefana
Sabin, in: Neue Zürcher Zeitung)
Die nachfolgenden Textauszüge
stammen aus dem Romananfang und geben wieder, wie die Kontaktaufnahme
zwischen Jair und Mirjam erfolgt. Zugleich ist Ihnen zu entnehmen, wie Jair
die briefliche Beziehung zu gestalten gedenkt und was er sich von ihr
erwartet.
"3.4.
Mirjam, Sie
kennen mich nicht, und beim Verfassen dieses Briefes kenne ich mich nur
schwerlich selbst. Ich habe mich wahrhaftig bemüht, mich von diesem
Schreiben abzuhalten, zwei Tage lang, und nun gebe ich mich geschlagen. Sie sind mir vorgestern auf dem Jahrestag des Gymnasiums aufgefallen. Sie,
ihrerseits, konnten mich nicht sehen, denn ich stand abseits, vermutlich
in ihrem blinden Fleck. Jemand nannte ihren Namen, ein paar Schüler
bezeichneten Sie als ihre Lehrerin, Sie waren in Begleitung eines
hochgewachsenen Mannes, Ihres Ehemannes, nehme ich an. Das ist alles, was
ich über Sie weiß, und schon die se spärlichen Informationen sind mir eine
Spur zuviel. Haben Sie keine Angst - ich will sie nicht treffen und auch
nicht in ihr gewohntes Leben eingreifen, doch ich wünschte, Sie würden mir
erlauben, Ihnen zu schreiben. Das heißt - mich Ihnen in Briefen
mitzuteilen (hin und wieder). Nicht daß mein Leben weiß Gott irgendwie
unterhaltsam wäre (es ist es nicht, ich trage es mit Fassung), ich möchte
Ihnen einfach geben, was ich sonst niemandem geben kann. Ich meine die Art
von Dingen, von denen ich nicht einmal ahnte, daß ich sie jemals mit einem
anderen würde teilen können oder teilen wollen. Natürlich würde es Sie zu
nichts verpflichten, Sie müßten nicht reagieren (ich bin mir nahezu
sicher, daß Sie nicht antworten), aber für den Fall, daß Sie dennoch
irgendwann signalisieren wollen, daß Sie meine Briefe lesen, geben ich
Ihnen die Nummer eines Postfachs, das ich heute morgen eigens für Sie
eingerichtet habe. Sollten Erklärungen notwendig sein, hat die Sache keinen Sinn, Sie müssen
dann nicht antworten, denn dann habe ich mich offenbar in Ihnen geirrt.
Doch wenn Sie diejenige sein sollten, die ich dort sah, die Frau, die die
Arme um sich schlug und etwas gebrochen lächelte, glaube ich, dass Sie
wissen, was ich meine. Jair W.
7.4.
Liebe Mirjam, seit Ihrem Brief bin ich handlungsunfähig, arbeite nicht, lebe nicht,
kreise nur um Sie und brülle innerlich Ihren Namen [...] (Sie haben mir
geantwortet! Schon nach einem Tag! Sie haben nicht über den Irren gelacht,
der da auf einmal vor Ihnen auftauchte) [...]
7.4.
[...] Nein. mich schreckt die Fremdheit zwischen uns nicht. Im Gegenteil,
ganz im Gegenteil - sagen Sie mir, was gibt es Verlockenderes und
Verrückteres als die Gelegenheit, etwas überaus Kostbares zu vergeben, das
Teuerste an sich, ein Geheimnis oder eine Schwachstelle, oder eine ganz
und gar unerhörte Bitte auszusprechen, wie die, mit der ich mich an Sie
gewandt habe, und dieses Kleinod einem vollkommen Fremden in die Hände zu
legen (gerade einem Fremden!), und sich dabei vor Scham und Schande zu
verzehren [...] Ich wünsche mir, daß Sie es verstehen, ich spreche tatsächlich nur von
Briefen, nicht von einem Treffen, nie von Physis, kein Fleisch, nicht mit
Ihnen, das ist mir nach Ihrem Brief durch und durch klargeworden, nur
Worte. Von Angesicht zu Angesicht würde uns verderben, würde sogleich in
die gängigen Bahnen abgleiten. Und selbstverständlich streng vertraulich,
ohne einen Dritten einzuweihen, damit sich unsere Worte nicht von außen
gegen uns richten. Nur meine Worte werden Ihren Worten begegnen, und wir
werden spüren, wie sich ganz allmählich der Rhythmus unserer Atemzüge
angleicht. [...]
7.4.
[...] Zwei vollkommen Fremde sollen die Fremdheit per se besiegen, das
enorme deterministische Prinzip der Fremdheit, inklusive der gesamten
übersättigten Kremelspitze tief im Innern, wir sollten zwei sein, die sich
Wahrheitsinjektionen verabreichen, damit sie endlich aussprechen müssen,
die Wahrheit, ich will mir versichern können: »Mit ihr habe ich Wahrheit
geblutet«, ja, das ist es, was ich möchte, daß Sie mir das Messer sind und
ich Ihnen, aber ein barmherziges, eines Ihrer Worte [...] Jair"
Beispiel 2:
Amos Oz, Black Box
Der u. a. 1992 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels
ausgezeichnete israelische Schriftsteller »Amos Oz (1939-2018) setzt sich in seinem Roman in Briefen »Black Box« mit dem
israelischen Leben der Gegenwart auseinander.
Die Hauptfigur, der
internationale angesehene Dr. Alexander A. Gideon, hat mit einer Studie zum
Thema Fanatismus Aufsehen erregt. Dabei repräsentiert er letztlich selbst
einen derartigen Charakter. Nach außer hin zeigt er sich unbeugsam und
polarisiert unentwegt, während er zugleich immer wieder von Gefühlen
übermannt wird.
Er korrespondiert abwechselnd mit seiner geschiedenen Frau Ilana, die ihm masochistisch ergeben ist, seinem gewitzten alten Mentor und
Anwalt Sackheim, seinem Sohn Boas und Michael Sono, dem zweiten Mann Ilanas
und frommen Juden.
Wie aus alten Welten kommen noch dazu: sein Vater
Alexander, der in einem Alterheim lebt und Rachel die Schwester Ilanas, die
ein bürgerliches Leben im Kibbuz führt.
Der nachfolgende Auszug weist die für diesen Roman in Briefen typische
multiperspektivische Struktur auf, in drei Briefen äußern sich der mit
Ilana in zweiter Ehe verheiratete
Michel Sommo, dessen
Stiefsohn Boas
aus Ilanas erster Ehe mit Alexander Gideon und
Ilana selbst.
Schon die
äußere Form der Briefgestaltung stellt eine indirekte Charakterisierung der
Figuren dar. Die
Datumsangabe und das Voranstellen eines
religiösen Spruchs verweisen im Brief von Michel Sommo auf seine
jüdisch-orthodoxe und zionistische Grundeinstellung.
Sprachstil und die zahlreichen Verstöße
gegen die Sprachrichtigkeit, die den Brief von Boas kennzeichnen,
sind dazu ein deutlicher Hinweis auf die rebellische Widerspenstigkeit von
Boas gegen Person und Überzeugungen seines Stiefvaters.
Schließlich weist
die Kürze der Ausführungen von Ilana, die zudem von Michel als lediglich "ein
paar Zeilen" angekündigt werden, dass sie sich im Konflikt
zwischen Michel und Boas ohne ernsthafte Einflussmöglichkeiten sieht.
Durch
die den jeweiligen Verfasser selbst charakterisierende Briefform gewinnt das
darin zum Ausdruck Gebrachte eine hohe Authentizität.
Die Multiperspektivität ist dabei mit
rein impliziter Informationsvergabe
über das Geschehen verbunden, die an den Leser die Anforderung stellt, die
Geschichte aus den verschiedenen Briefen zu konstruieren.
"Michel
Sommo Tarnas 7 Jerusalem
Ahalan Michel, das hier schreib ich dir von Sichron. Meinetwegen kanns Ilana auch lesen,
aber du sollst zuerst. Sicher bist du böse und hältst mich für irre
undankbar weil du
hunterprozentig okee warst mit mir und ich glatt über deinen Kopp rüber
bin und über Amerika organisirt hab, das ich hier nach Sichron komm
gegen deine gesammelten Pläne. Wenn du ne Stinkwut auf mich hast wirf
diesen Brief einfach innen Müll und schreib keine Antwort, blos das du
nicht wieder mit Moralpredigten anfängst- Du bist nicht Gott Michel und
ich bin nicht dein Lackel. Und überhaupt isses blöd einer dem anderen nen
ganzen Tag zu sagen was er zu tun hat im Leben, da ja und das nee. Aber
dieser Brief ist nicht um dich zu ändern bin überhaupt gegen leuteändern.
Also wozu dann der Brief? Ilana. Hör mal Michael. Nach meiner Meinung geht die Ilana nen Berg runter. Das
ham wir ihr angesehn als sie bei uns auf Besuch war. Hunterprozentig
normal ist die ja nie gewesen aber jetzt isse vielleicht unter
fünfzigprozent abgesackt. Ich würd vorschlagen sie und Jifat kommen fürne
zeitlang hier nach Sichron, da kannsen bischen rumputzen oder im
Gemüsegarten arbeiten und sich mal kurz von deiner Frömmigkeit ausruhen.
[...] Was sagst du Michel? Ich hab das dir geschrieben weil du bei euch der Boss
bist und alles bestimmst aber es macht mir nix aus wenn Ilana das auch
liest. Ich will mit Dank und Alleachtung schliessen weil du nemlich
insgesamt ziemlich okee bist Michel.[....]
Mit Hochachtung und Dank.
Boas. B.
An Boas Brandstetter Haus Gideon Sichron Jaakov (Süd)
Mit Gottes
Hilfe Jerusalem, 19. AW- 53736 (15.8.)
Lieber Boas, Deine Mutter und ich haben Deinen Brief zweimal nacheinander gelesen, ohne
unsere Augen zu trauen. Ich werde ihn dir Punkt für Punkt beantworten.
Zuerst möchte ich Dir mitteilen, Boas, dass ich wegen Deiner Undankbarkeit
keinen Groll gegen Dich hege (man sagt »sehr undankbar« und nicht »irre
undankbar«, Du ungebildeter Wirrkopf!). Aber das Blatt reicht nicht aus,
all Deine Rechtschreibfehler und den mangelhaften Satzbau zu korrigieren.
Es ist nicht an mir, die Aufgabe zu vollenden, wie unsere Weisen sagen.
[...] Einige Punkte in Deinem Brief sind uns sehr zu Herzen gegangen, darunter
an erster Stelle, daß du mir schreibst, ich hätte mich Dir gegenüber
hunderprozentig richtig verhalten. Du hast mich wohlwollend beurteilt,
Boas, und das werde ich nicht vergessen. Wie du weißt, haben wir ein gutes
Gedächtnis. Aber, was soll ich sagen? Gebe Gott, es wäre wahr! [...]
Möglicherweise wäre es von Anfang an, seit dem Tag, an dem es mir vergönnt
war, Deine teure Mutter zur Frau zu nehmen, meine heilige Pflicht gewesen,
Dich an einem sehr kurzen Zügel zu halten, statt schweigend darüber
hinwegzusehen, als Du die Zügel durchtrenntest und das Joch von Tora und
Sitte abwarfst. Dich mit Skorpionen zu züchtigen, bis Du auf den geraden
Weg zurückgekehrt wärst. Doch ich in meiner Sündhaftigkeit bin davor
zurückgeschreckt. Dich streng anzupacken, aus Furcht, Du könntest dann
zuweit gehen. Ich hatte Erbarmen mit den Tränen Deiner Mutter und sparte
mit der Rute bei Dir. Vielleicht habe ich übel gehandelt, als ich Dir
gegen meinen Willen erlaubte, Deine Lehrjahre in einer äußerst
fragwürdigen weltlichen Anstalt zu verbringen, in der man Dir nicht einmal
Lesen und Schreiben und das Gebot, Vater und Mutter zu ehre, beigebracht
hat. [...] Was Deine Mutter und Deine Schwester angeht - vielleicht werden wir alle
drei auf einen kurzen Besuch zu Dir kommen, aber nur unter der Bedingung,
daß Du vorher anfängst, über Schabbat wieder zu uns nach Jerusalem zu
kommen. [...] Du bist mir lieb wie ein eigener Sohn. Ich lege dem Brief die Klebebilder
Deiner Schwester bei, die sie mir mit den Worten, »Schick das Boas«,
überreicht hat. [...] Wir haben Sehnsucht nach Dir und beten, daß du immer
das Gute wählen mögest. Hab keinerlei Scham und laß uns wissen, wenn Du
etwas brauchst, auch wenn es um ein wenig Geld geht, wir werden dann
sehen, was wir tun können. [...]
In Zuneigung
Dein Michel
PS. [...] Deine Mutter möchte Dir auch ein paar
Zeilen schreiben.
15.8.
Lieber Boas, ich habe nicht gelesen, was Dir Michel geschrieben hat. Aber
Deinen Brief habe ich gelesen, weil Du es mir erlaubt hast. Alles, was Du
dort in Großvaters Haus tust, finde ich wunderbar. Du bist besser als wir
alle. Ich kann nicht mit Jifat zu Dir kommen, ohne Michel zu verletzen.
[...] Ich habe in allem versagt, Boas. Voll und ganz. Nur ist auch eine
Versagerin, ja sogar eine nicht ganz normale Frau fähig, zu lieben und
sich zu sehnen. Und sei es nur eine kümmerliche Liebe. Du haßt mich nicht, und ich wundere ich, wie das angeht. Was würde ich
nicht für die mir verschlossene Möglichkeit hingeben, Dir etwas zu
schenken. Dir wenigstens die Kleidung zu flicken und Deine Wäsche zu
waschen. Du brauchst nicht zu antworten. Wenn du kannst, versuch mich
nicht zu verachten. Du bist besser und reiner als wir alle. Paß sehr auf
Dich auf.
Mutter.
Michel und Ilana Sommo Tarnas 7 Jerusalem
Schalom Michel und Ilana und meine süße Jifat ich hab euern Brief und das Geld gkriegt. Schade das ihr euch sorgt und
solch einen Aufrur um mich macht. Mir gehts hunderprozentig und ihr
braucht euch nicht zu sorgen. Deine Diskussionen Michel machen mir Kopfwee
und ich habe bschlossen damit aufzuhörn. [...]
Von Boas B.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.05.2022
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