Eine Zweischichtenerzählung
Der biographische
Roman stellt einen
▪
Typus des Ich-Romans dar, bei dem in der Art einer Zweischichtenerzählung ein erzählendes Ich
den Lebensweg, d.h. die Biographie einer anderen Person darstellt.
Sie zeichnet sich nach Vogt (1996) durch die folgenden Merkmale aus:
-
Der Ich-Erzähler erzählt aus der
zeitlichen Retrospektive
seiner Erzähl- bzw. Schreibgegenwart.
-
Zweischichtenerzählung: Schreibgegenwart des Erzählers, der
mit persönlichen Urteilen und Wertungen und/oder
historisch-politischen Kommentaren eingreift und primäres
Erzählgeschehen aus dem Leben der Figur.
-
Allmählicher Abbau der epischen Distanz zwischen
eigentlicher Erzählhandlung und Schreibgegenwart des Erzählers.
Eigentliche Erzählhandlung erreicht häufig am Ende die Schreib- bzw.
Erzählgegenwart des Erzählers. In diesem Fall entsteht eine
Kombination von
Memoirenroman
und
Tagebuchroman.
-
Verschiebung des
point
of view von dem in der Vergangenheit kaum präsenten
erlebenden
Ich des Erzählers hin zur "biographierten" anderen
Person.
-
Dadurch gewinnt das
erzählende
Ich, das Ereignisse aus der Vergangenheit miterlebt hat, die Rolle
eines sich erinnernden Augenzeugen, der als besonders
glaubwürdiger Gewährsmann auftreten kann.
-
Grundsätzlich verbleibt das erzählende Ich jedoch in einer
Randstellung innerhalb des erzählten Geschehens. Dies ist bei
einer von einem Standpunkt außerhalb verfassten Biographie mit ihrer
quasi "objektiv-wissenschaftlichen" und aus historischer
Distanz erwachsenden Sicht eben nicht der Fall.
(vgl.
Vogt
1996, S.73-75)
Beispiele:
Beispiel 1:
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde
»Thomas Manns
(1875-1955) Roman »Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947)« greift auf den
Faust-Stoff in seiner ganzen literarischen Tradition zurück und gestaltet
ihn um.
In diesem biographischen Roman wird die Lebensgeschichte des
Komponisten Adrian Leverkühn erzählt, der wegen seiner Kunst und einer ihm
völlig ausweglos erscheinenden Kulturkrise einen Pakt mit dem Teufel
eingeht.
Das Leben Leverkühns lässt Thomas Mann von einem Ich-Erzähler
namens Serenus Zeitblom in der Rolleneinkleidung eines Freundes erzählen.
Dies sei, so hat Thomas Mann selbst ausgeführt, notwendig gewesen, um eine
"gewisse Durchheiterung des düsteren Stoffes zu erzielen. [...] Das
Dämonische durch ein exemplarisch undämonisches Mittel gehen zu lassen,
eine humanistisch fromme und schlichte, liebend verschreckte Seele mit
seiner Darstellung zu beauftragen, war an sich eine komische Idee." (zit.
n.
Hauptwerke der deutschen Literatur,
S.548).
Die Besonderheit dieses Erzählers besteht jedoch darin, dass er
von Anfang an auch selbst Romanfigur ist, mit der es Thomas Mann gelungen
ist, der Welt des Dämonischen eine zweite Welt entgegenzusetzen, die im
deutschen Humanismus wurzelt und zugleich eine "Kulturbürgerlichkeit und
Vernunftrechtschaffenheit" verkörpert, "der nichts ferner liegt, als sich
'mit den unteren Mächten einzulassen', die ihnen jedoch auch kaum etwas
entgegenstellen kann.
Es ist ein gleichsam hausbacken gewordener
Humanismus, der - im Unterschied zu Leverkühn - nicht mit dem Bösen
taktiert, trotz klarer Ablehnung aber ohnmächtig in dessen Bann gerät -
eine Hilflosigkeit, die noch im Stil zum Ausdruck kommt, dem uneigentlich
»parodistisch« verwendeten Humanistendeutsch, das Thomas Mann Zeitblom
schreiben lässt." (Henschen
ebd.)
Der nachfolgende Auszug aus dem Roman beginnt mit dem
Romananfang, der diesen erzählerischen Gestus verdeutlicht. Im zweiten
Teil (beginnend mit:
Ich weiß es, als wäre es gestern
gewesen) wird die Unterhaltung erzählt, die Leverkühn und
Zeitblom nach einem Vortrag von Wendell Kretzschmar über den Sektengründer
Johann Conrad Beißel und dessen Simplifizierung von Choralmelodien führen.
Der Roman weist dazu grundlegende Merkmale auf, die ihn als einen
biographischen Roman auffassen lassen.
Dafür steht zunächst die vom
Erzähler selbst ausgesprochene Bemerkung, dass es sich bei seinem Werk um
eine, wenn auch nur vorläufige, "Biographie"
handle. Sehr genau wird die zeitliche Retrospektive datiert, der Zeitpunkt
der Erzählergegenwart explizit genannt
(23. Mai 1943) und damit
zwei Jahre nach dem Tod von Leverkühn.
Deutlich auch die Strukturen einer
Zweischichtenerzählung, von
Anfang an ist der Erzähler mit seinen persönlichen Urteilen und Wertungen
präsent ( z. B. "teuren,
vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes
und genialen Musikers", "o
möge es so sein!", "Bei
so einem jungen Menschen [...] Sorge um sein Seelenheil einzuflößen."
Die
Offenlegung der Quellen versucht zwar ein wenig auf
die objektive Rolle eines Berichterstatters abzuheben und damit zugleich
die Legitimierung und die Kompetenz für das biographische Vorhaben
ausdrücken zu wollen, rückt aber angesichts der von Anfang an deutlichen
Einmischungen des Ich-Erzählers schnell in den Hintergrund.
"Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, dass es keineswegs aus dem
Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich
diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser
ersten und gewiss sehr vorläufigen
Biographie des teuren, vom Schicksal so
furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen
Musikers, einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse
vorausschicke. Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, dass der Leser - ich
sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch
nicht die
geringste Aussicht, dass meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit
erblicken könnte, - es sei denn dass sie durch ein Wunder unsere umdrohte
Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den
Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; - ich bitte wieder
ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, dass man wünschen wird,
über das Wer und Was des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu sein,
schicke ich diesen Eröffnungen einige Notizen über mein eigenes Individuum
voraus, - nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser
Zweifel zu erwecken, ob er sich auch in den richtigen Händen befindet,
will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine
Aufgabe bin, zu der vielleicht mehr das Herz als irgendwelche
berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht.
Ich überlese die vorstehenden Zeilen und kann nicht umhin, ihnen eine
gewisse Unruhe und Beschwertheit des Atemzuges anzumerken, die nur zu
bezeichnend ist für den Gemütszustand, in dem ich mich
heute, den 23. Mai
1943, zwei Jahre nach Leverkühns Tode, will sagen: zwei Jahre nachdem er
aus tiefer Nacht in die tiefste gegangen, in meinem langjährigen kleinen
Studierzimmer zu Freising an der Isar niedersetze, um mit der
Lebensbeschreibung meines in Gott ruhenden - o möge es so sein! - in
Gott ruhenden unglücklichen Freundes den Anfang zu machen, -
kennzeichnend, sage ich, für einen Gemütszustand, worin herzpochendes
Mitteilungsbedürfnis und tiefe Scheu vor dem Unzukömmlichen sich auf die
bedrängendste Weise vermischen.[...]
Ich bin aber ferner im Besitz von Papieren, unschätzbaren
Aufzeichnungen, die der Heimgegangene mir und keinem anderen in gesunden
Tagen oder, wenn ich so nicht sagen darf, in vergleichsweise und legaliter
gesunden Tagen letztwillig vermacht hat, und auf die ich mich bei meiner
Darstellung stützen werde, ja aus denen ich mit gebotener Auswahl einiges
direkt in dieselbe einzuschalten gedenke. Letzteres und erstens aber - und
diese Rechtfertigung war doch immer die gültigste, wenn nicht vor den
Menschen, so doch vor Gott: ich habe ihn geliebt - mit Entsetzen und
Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hingebender Bewunderung - und wenig dabei
gefragt, ob er im mindesten mir das Gefühl zurückgäbe. [...] (S.7 f.)
Ich weiß es, als wäre es gestern gewesen, wie ich mit Adrian aus diesem
Vortrag nach Hause ging. Obgleich wir nicht viel miteinander redeten,
mochten wir uns lange nicht trennen, und von Onkels Hause, wohin ich ihn
begleitet, gab er mir zur Apotheke das Geleit, worauf wieder ich in die
Parochialstraße mit ihm ging. So machten wir es übrigens öfters. Beide
erheiterten wir uns über den Mann Beißel, diesen Winkel-Diktator in seiner
belustigenden Tatkraft, und kamen überein, dass seine Musik-Reform stark
an die Stelle bei Terenz erinnere, wo es heißt: »Mit Vernunft albern zu
handeln.« Aber Adrians Verhalten zu der kuriosen Erscheinung unterschied
sich von meinem doch auf so kennzeichnende Art, dass sie mich bald mehr
beschäftigte als der Gegenstand selbst. Anders nämlich als ich, hielt er
darauf, sich im Spott die Freiheit zur Anerkennung zu salvieren, - auf das
Recht, um nicht zu sagen: das Vorrecht also, einen Abstand zu
wahren, der die Möglichkeiten des Geltenlassens, bedingter Zustimmung,
halber Bewunderung zusammen mit der Mokerie, dem Gelächter in sich
schließt. Ganz allgemein ist mir dieser Anspruch auf ironische
Distanzierung, auf eine Objektivität, der es sicherlich weniger um die der
freien Person zu tun ist, immer als ein Zeichen ungemeinen Hochmuts
erschienen.
Bei so einem jungen Menschen, wie Adrian es damals war, hat,
das wird man mir zugeben, diese Haltung etwas Ängstigendes und Vermessenes
und ist danach angetan,
Sorge um sein Seelenheil einzuflößen. Freilich ist sie auch wieder sehr
eindrucksvoll für den Kameraden von schlichterer Geistesform, und da ich
ihn liebte, liebte ich seinen Hochmut mit - vielleicht liebte ich ihn im
seinetwillen. Ja, es wird schon so sein, dass diese Hoffart das Hauptmotiv
der erschrockenen Liebe war, die ich zeit meines Lebens für ihn im Herzen
hegte.
»Lass mir«, sagte er, während wir, die Hände in unseren Manteltaschen, im
Winternebel, der die Gaslaternen umspann, zwischen unseren Wohnungen
hin und wider gingen, »lass mir den Kauz in Frieden, ich habe was für ihn
übrig. Wenigstens hatte er Ordnungssinn, sogar eine alberne Ordnung ist
immer noch besser als gar keine.«
»Du willst nicht im Ernst«, antwortete ich, »ein so absurdes
Ordnungsdiktat, einen so kindischen Rationalismus in Schutz nehmen, wie
die Erfindung der Herren und Diener. Stelle dir vor, wie diese
Beißel-Hymnen geklungen haben, in denen auf jede betonte Silbe ein Ton des
Dreiklangs fallen musste!«
»Jedenfalls nicht sentimental«, erwiderte er, »sondern streng gesetzmäßig,
und das lob' ich mir. Tröste dich damit, dass ja der Phantasie, die du
natürlich hoch über das Gesetz stellst, reichlicher Spielraum blieb bei
freier Benutzung der >Dienertöne<.«
Er musste lachen über das Wort, beugte sich vor im Gehen und lachte auf
das feuchte Trottoir hinab.
Komisch, sehr komisch ist es«, sagte er. »Aber eines wirst du mir
zugeben: Das Gesetz, jedes Gesetz, wirkt erkältend, und die Musik hat
soviel Eigenwärme, Stallwärme, Kuhwärme, möchte ich sagen, dass sie
allerlei gesetzliche Abkühlung brauchen kann - und auch selber immer
danach verlangt hat.« Daran mag etwas Wahres sein«, gab ich zu. [...]"
(S.70f.)
(aus: Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben
des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde,
Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch Verlag, 1982)
Beispiel 2:
Siegfried Lenz, Arnes Nachlaß
In dem Roman
▪ "Arnes Nachlaß" (1999) lässt
▪
Siegfried Lenz (geb.
17.03.1926) den jugendlichen Ich-Erzähler Hans Hellmer sein Leben mit Arne,
einem sehr begabten, aber auch äußerst sensiblen Einzelgänger erzählen, der
im Alter von zwölf Jahren nach dem tragischen Tod der eigenen Angehörigen in
die Familie des Ich-Erzählers aufgenommen wird.
Arne, der dieses Trauma nie
überwinden kann, wird von den den jüngeren Geschwistern und deren Freunden
als "Sonderling" ausgegrenzt und zerbricht letzten Endes daran und an seiner
unbewältigten Vergangenheit. Zwei Jahre nach seiner Aufnahme in die Familie
nimmt er sich selbst das Leben.
Als der Ich-Erzähler, der, obschon einige Jahre älter, über zwei Jahre lang,
sein Zimmer mit Arne geteilt hat, von seinen Eltern den Auftrag erhält,
Arnes Sachen (=
Arnes Nachlaß)
zusammenzupacken, erinnert er sich, während er dies tut, an verschiedene
Episoden ihres gemeinsamen Lebens.
Dabei sind diese Erinnerungen in der
Erzählergegenwart von einzelnen Szenen unterbrochen, die den Ich-Erzähler in
der Kommunikation mit seiner eigenen Familie über Arne zeigen.
In
melancholisch wirkender
Retrospektive, die durch die
häufig wiederkehrende
emphatische Ansprache des
Verstorbenen im
Erzählerbericht geprägt ist,
wird die Erzählung aber auch zu einer Art Selbstvergewisserung des
erzählenden Ichs über seine besondere, mitunter sehr fürsorgliche Beziehung
zu dem Jungen (z. B. "So,
wie du, Arne"). Zugleich wird damit auch der Charakter des Romans
als Zweischichten-Erzählung erkennbar.
"Sie
beauftragten mich, Arnes Nachlass
einzupacken. Einen ganzen Monat ließ ich verstreichen – einen Monat der
Ratlosigkeit und der verzweifelten Hoffnung -, bis sie mich an einem Abend
fragten, ob es nicht doch an der Zeit sei, seinen Nachlass einzusammeln
und zu verstauen, und so, wie meine Eltern fragten, musste ich es als
Auftrag verstehen. Ich versprach nichts; schweigend aß ich mein Abendbrot
zu Ende, rauchte zum letzten Glas Bier eine Zigarette, dann stieg ich
hinauf in mein Zimmer, das ich lange mit Arne geteilt hatte, setzte mich
auf einen Hocker und brauchte eine Weile, ehe ich mich entschloss, sein
ramponiertes Köfferchen zu holen und den Karton, den er damals mitbrachte.
Ich hob den Deckel vom Karton, ich öffnete das Köfferchen, und während ich
den Blick wandern ließ zu den offen daliegenden Sachen, die ihm gehörten,
glaubte ich auf einmal, Arnes Anwesenheit zu spüren, und hatte das Gefühl,
dass er mich, wie so manches Mal, dringend und fragend ansah. [...]
Ein Blick auf den kleinen, aus Holz geschnitzten und rotweiß gelackten
Modell-Leuchtturm, und unwillkürlich belebte und vertiefte sich
Erinnerung, ein Fenster öffnete sich, wieder herrschte Hafenwinter, ein
verhangener Tag mit beißender Klammheit, der Tag, an dem Arne zu uns
gebracht wurde.
[...] Wie leicht sich alles ergibt und anbiete, wie und gegenwärtig es
ist: die Abwrackwerft, wir, unsere Erwartung.
So, wie du, Arne, von uns erwartet wurdest, wurde wohl niemand zuvor
hier erwartet, so gespannt, so teilnahmsvoll, aber auch so skeptisch.
[...]
Damals,
Arne, an jenem Wintertag, sahen wir dich zum ersten
Mal, hatten nur Augen für dich, wie du dort standest im schmutzigen Schnee
vor dem Schuppen, ergeben, verloren, als hättest du dich in unsere Welt
verirrt. Meinem kleinen, immer spottbereiten Bruder Lars erschienst du als
Fragezeichen, abschätzig meinte er, dass mit dir wohl nicht viel
anzufangen sein, nicht hier, wo wir kurzweilige lebten, an diesem
entlegenen Hafenbecken, in dem alte, ausgemusterte Schiffe ihr Ende
fanden. Wiebke fiel aus der Ferne dein staksiger Gang auf, außerdem
glaubte sie erkannt zu haben, dass du dein Gesicht wie schuldbewusst
gesenkt hieltest; sie sagte es leise, als fürchtete sie, du könntest es
hören. Harmloser als du jedenfalls hätte es uns einer nicht vorkommen
können, nicht am Tage deiner Ankunft, und gewiss hätte niemand von uns
geglaubt, dass du uns einmal ein dauerhaftes Rätsel aufgeben und uns
zurücklassen würdest in Trauer und Bewunderung."
(aus: Siegfried Lenz, Arnes Nachlaß,
München, 3. Aufl., München: dtv, S.7-11 (gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.05.2022
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