Die
▪ auktoriale
Ich-Erzählperspektive (Erzählsituation, Erzählhaltung) besitzt
eine Reihe von Merkmalen, die sie von anderen unterscheidet.
In seinem Roman
»"Homo
faber" (1962) gestaltet »Max
Frisch (1911-1991)
den Erzähler ▪
tendenziell auktorial.
In Max Frischs Roman "Homo faber" ist die
Ich-Erzählsituation besonders kunstvoll gestaltet.
In einem im Großen und
Ganzen chronologisch angelegten Erzählstrang, der allerdings durch
zahlreiche
Rückwendungen (Analepsen) und
Vorgriffe (Prolepsen) unterbrochen wird, erzählt Walter Faber
im Rückblick Ereignisse, die sich in den vergangenen fünf Monaten abgespielt
haben und eine merkwürdige Verkettung miteinander aufweisen.
Nach einer
Notlandung während einer Flugreise lernt er den Bruder seines
Jugendfreundes Joachim kennen und erfährt einiges über diesen und seine
Beziehung zu seiner eigenen Jugendfreundin Hanna.
Mit dem Bruder macht er
sich zu einer Suchaktion auf, um Joachim, der im Dschungel verschollen ist,
zu finden, entdeckt aber am Ende lediglich dessen Leiche.
Auf einer
Schiffsreise nach Europa lernt Walter Faber eine Studentin namens Sabeth
kennen. Die sich entwickelnde Beziehung endet allerdings mit dem tödlichen
Unfall der jungen Frau, die wie sich allmählich herausstellt, Fabers eigene
Tochter ist.
Nach ihrem Tod kommt es zu einer Begegnung Fabers mit Sabeths
Mutter Hanna, die einstmals seine eigene Jugendfreundin gewesen ist.
Von
Schmerzen im Magen während dieser Zeit schon schwer beeinträchtigt, muss
sich Faber am Ende einer Operation unterziehen und stirbt.
In diesem Roman kommt es zu einer sehr wirkungsvollen Verschachtelung von
Ich-Erzählperspektiven. Zum einen überlagern sich zwei auktoriale
Ich-Erzählperspektiven und zum anderen kommt noch zusätzlich eine personale
Ich-Erzählperspektive hinzu.
So ist das
erzählende Ich in der so
genannten "Ersten Station", einem der beiden großen Teile des
Romans, in dem die Reisen Fabers in Amerika, seine Schiffsreise nach Europa
und seine Reisen in Europa dargestellt werden, gleichzeitig
erlebendes Ich im Reisetagebuch
der "zweiten Station", die seine zweite Amerikareise, Reisen in
Europa und seinen Aufenthalt in Athen
darstellt.
Der nachfolgende Textauszug setzt nach der Notlandung der
Super-Constellation auf dem Flug von New York nach Caracas in der
mexikanischen Wüste von Taumalipas ein.
Zunächst berichtet das erlebende Ich
in sachlich nüchternen Worten über die landschaftlichen
Gegebenheiten der Umgebung und die ersten
Maßnahmen der
Flugzeugbesatzung nach der Notlandung.
Aber schon bald meldet
sich das auktoriale Erzähler-Ich zu Wort, indem es über
Fügung, Schicksal und den Zufall
räsoniert.
Die dadurch konstituierte
zweipolige Ich-ich-Struktur bestimmt auch die Struktur des
weiteren Romanauszuges. Sie wird insbesondere noch einmal sichtbar an den
Ausführungen über das
Schachspiel, einer Beschäftigung im Übrigen, der alle
im Roman vorkommenden Repräsentanten der technisch-"männlichen"
Lebenskonzeption gerne frönen.
Was zunächst wie die Erzählung
eines einfachen Zeitvertreibs nach der Notlandung daherkommt, entpuppt sich
durch die nachgeholten Kommentare und Reflexionen des auktorialen
Erzähler-Ichs als Ausdruck eines männlichen Rationalismus und männlicher
Beziehungslosigkeit ("Ich
schätze das Schach, weil man Stunden lang nichts zu reden braucht")
Der point of view
des auktorialen Ich-Erzählers lässt auch jene
Vorausdeutungen (Vorgriffe)
auf späteres Geschehen zu, die in diesem Auszug erwähnt werden ("Ohne
die Notlandung in Taumalipas (26. III.) wäre alles anders gekommen"
...)
"Ringsum nichts als Agaven, Sand, die rötlichen Gebirge in der Ferne,
ferner als man vorher geschätzt hat, vor allem Sand und nochmals Sand,
gelblich, das Flimmern der heißen Luft darüber, Luft wie flüssiges Glas. -
Zeit: 11:05 Uhr.
Ich zog meine Uhr auf -
Die Besatzung holte Wolldecken heraus, um die Pneus vor der Sonne zu
schützen, während wir in
unseren grünen Schwimmwesten umherstanden,
untätig. Ich weiß nicht, warum niemand
die Schwimmweste auszog.
Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt
mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Wieso Fügung? Ich gebe
zu: Ohne die Notlandung in Taumalipas (26. III.) wäre alles anders
gekommen; ich hätte diesen jungen Hencke nicht kennen gelernt, ich hätte
vielleicht nie wieder von Hanna gehört, ich wüsste heute nicht, dass ich
Vater bin. Es ist nicht auszudenken, wie anders alles gekommen wäre ohne
diese Notlandung in Taumalipas. Vielleicht würde Sabeth noch leben. Ich
bestreite nicht: Es war mehr als ein
Zufall, dass alles so gekommen ist,
es war eine ganze Kette von Zufällen. Aber wieso Fügung? Ich brauche, um
das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei
Mystik; Mathematik genügt mir. [...]
Unser Aufenthalt in der Wüste von Taumalipas, Mexiko, dauerte vier Tage
und drei Nächte, worüber es wenig zu berichten gibt - ein grandioses
Erlebnis (wie jedermann zu erwarten scheint, wenn ich davon spreche) war
es nicht. Dazu viel zu heiß. [...]
Es blieb uns nichts als Warten.
Das erste, was ich in der Wüste von Taumalipas tat: ich stellte mich dem
Düsseldorfer vor, denn er interessierte sich für meine Kamera, ich
erläuterte ihm meine Optik.
Andere lasen.
Zum Glück, wie sich bald herausstellte, spielte er auch
Schach, und da ich stets mit einem Steck-Schach reise, waren wir
gerettet; er organisierte sofort zwei leere Coaca-Cola-Kistchen, wir
setzten uns abseits, um das allgemeine Gerede nicht hören zu müssen, in
den Schatten unter dem Schwanzsteuer - kleiderlos, bloß in Schuhen (wegen
der Hitze des Sandes) und in Jockey-Unterhosen.
Unser Nachmittag verging im Nu -
Kurz vor Einbruch der Dämmerung erschien ein Flugzeug, Militär, es kreiste
lange über uns, ohne etwas abzuwerfen, und verschwand (was ich gefilmt
habe) gegen Norden, Richtung Monterrey.
Abendessen: ein Käse-Sandwich, eine halbe Banane.
Ich schätze das Schach, weil man
Stunden lang nichts zu reden braucht. Man braucht nicht einmal zu hören,
wenn der andere redet. Man blickt auf das Brett, und es ist keineswegs
unhöflich, wenn man kein Bedürfnis nach persönlicher Bekanntschaft zeigt,
sondern mit ganzem
Ernst bei der Sache ist -
»Sie sind am Zug!«, sagte er -
Die Entdeckung, dass er Joachim, meinen Freund, der
seit mindestens zwanzig Jahren einfach verstummt war, nicht nur kennt,
sondern dass er geradezu ein Bruder ist, ergab sich durch
Zufalll ... Als der Mond aufging (was ich ebenfalls gefilmt habe)
zwischen schwarzen Agaven am Horizont, hätte man noch immer Schach spielen
können, so hell war es, aber plötzlich zu kalt; wir waren hinausgestapft,
um eine Zigarette zu rauchen, hinaus in den San, wo ich gestand, dass ich
mir aus Landschaften nichts mache, geschweige denn aus einer Wüste.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
sagte er.
Er fand es ein Erlebnis.
»Gehen wir schlafen!« sagte ich, »- Hotel Super-Constellation, Holiday in
Desert With All Accomodations!«
Ich fand es kalt."
(aus: Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht 1957/1977, Frankfurt/M.:
Suhrkamp S. 21-24, gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023