In seiner autobiographischen Erzählung »"Demian" (1919) gestaltet
▪
Hermann Hesse
(1877-1962)
den Erzähler ▪
tendenziell auktorial.
Der Demian, der zunächst unter dem Pseudonym Emil Sinclair 1919
bei Fischer in Berlin erschien, traf mitten in das Zeit- und Lebensgefühl dieser Jahre.
Er entfaltete, wie Thomas Mann später festgestellt hat, eine "elektrisierende
Wirkung", da er "mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und
eine ganze Jugend [...] zu dankbarem Entzücken hinriss.“
Erst später
bekannte sich Hermann Hesse zu diesem erzählerischen Werk. Emil Sinclair,
der auktoriale Ich-Erzähler des Romans, erzählt von den Erlebnissen seiner
Jugend, schildert seinen Weg zum Erwachsenen mit all jenen Ängsten und
Nöten, die zu diesem Prozess gehören.
Schrittweise löst er sich aus der Enge
seines behüteten Elternhauses und entwickelt sich unter dem Einfluss von
Franz Kromer
zu einem Lügner und Dieb. Erst sein neuer Freund
Max Demian, eine irgendwie
unwirkliche Gestalt mit geheimnisvollen wie fast übermenschlichen Zügen,
kann ihn von diesem Einfluss befreien.
Demian weist Sinclair den Weg, die
Welt mit anderen Augen zu sehen und seine behütete Kindheit hinter sich zu
lassen. Doch dieser Weg bleibt nicht geradlinig.
Sein Ausbruchsversuch aus
dem heimischen Milieu misslingt und er schließt sich einer Gruppe von jungen
Leuten an, die ihr Gefühl von Nutzlosigkeit am liebsten im Alkohol
ertränken.
Auf Demians Einfluss ist es dann wieder zurückzuführen, dass es
Sinclair gelingt, damit Schluss zu machen. Mehr und mehr wandelt er sich zu
einem Menschen, der auf der Suche nach sich selbst ist.
Unter dem weiteren
Einfluss Demians und dessen Mutter, entwickelt er sich dabei zu "einem
'Gezeichneten', einem aus jener Schar Einzelner, die sich als eine geistige
Elite verstehen, die mit dem Massenmenschen nichts gemein hat.
'Ich war ein
Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu
Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen
in mir zu fühlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein
Beruf' so versteht sich Sinclair, darin sieht er den Sinn seines Lebens." (Fromm,
in: Berliner Lesezeichen 12/00)
Als Sinclair am Ende auch noch
lernt, seinem stärksten Traumbild, der Sehnsucht nach der Mutter, zu
entsagen, gelangt er zu Freiheit und Eigenverantwortung.
Dieser Prozess
Sinclairs zu sich selbst wird im Spiegel von Träumen und Bildern
dargestellt und trägt, da die die innere Symbolwelt bewusst gemacht wird,
zur Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit bei.
"Es
wäre Schönes, Zartes und Liebenswertes zu erzählen von meiner Kindheit,
von meinem Geborgensein bei Vater und Mutter, von Kindesliebe und genügsam
spielerischem Hinleben in sanften, lieben, lichten Umgebungen. Aber mich
interessieren nur die
Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen.
Alle die hübschen Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir
nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre
nicht, sie nochmals zu betreten.
Darum spreche ich, soweit ich noch bei meiner Knabenzeit verweile, nur von
dem, was Neues mir zukam, was vorwärts trieb, mich losriss.
Immer kamen
diese Anstöße von der «anderen Welt», immer brachten sie Angst, Zwang
und böses Gewissen mit sich, immer waren sie revolutionär und gefährdeten
den Frieden, in dem ich gern wohnen geblieben wäre.
Es kamen die Jahre, in welchen ich aufs
neue entdecken musste, dass in mir selbst ein Urtrieb
lebte, der in der erlaubten und lichten Welt sich verkriechen und
verstecken musste. Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das langsam
erwachende Gefühl des Geschlechts als ein Feind und Zerstörer an, als
Verbotenes, als Verführung und Sünde. Was meine Neugierde suchte, was mir
Träume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubertät, das passe
gar nicht in die umhegte Glückseligkeit meines Kinderfriedens. Ich tat wie
alle. Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist.
Mein Bewusstsein lebte im Heimischen und Erlaubten, mein Bewusstsein
leugnete die empordämmernde neue Welt. Daneben aber lebte ich in Wünschen
von unterirdischer Art, über welches jenes bewusste Leben sich immer
ängstlichere Brücken baute, denn die Kinderwelt in mir fiel zusammen. Wie
fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht den erwachenden
Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit
unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche
zu leugnen und in einer Kinderwelt weiter zu hausen, die immer unwirkliche
rund verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können,
und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir
fertig zu und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie
die meisten Wohlerzogenen.
Jeder Mensch durchlebt
diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist die der Punkt im
Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten mit der Umwelt in
Streit gerät, wo der Weg
vorwärts
am bittersten erkämpft werden muss. Viele erleben das Sterben und
Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben,
beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles
Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und
tödliche Kälte des Weltraums spüren. Und sehr viele bleiben für immer an
dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am
unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste
und mörderischste aller Träume ist.
Wenden wir uns zur
Geschichte zurück. Die
Empfindungen und Traumbilder, in denen sich mir das Ende der Kindheit
meldete, sind nicht wichtig genug, um erzählt zu werden. Das Wichtige
war: die »dunkle Welt«, die »andere
Welt« war wieder da. Was einst Franz Kromer gewesen war, das stak nun
in mir selber. Und damit gewann auch von außen her die »andere Welt«
wieder Macht über mich.
Es waren seit der Geschichte mit Kromer
mehrere Jahre vergangen. Jene
dramatische und
schuldvolle Zeit meines Lebens lag damals mir sehr fern und schien wie
ein kurzer Alptraum in nichts vergangen. Franz Kromer war längst aus
meinem Leben verschwunden, kaum dass ich es achtete, wenn er mir einmal
begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Tragödie aber,
Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem
Umkreis. Doch stand er lange Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht
wirksam. Erst allmählich trat er wieder näher, strahlte wieder Kräfte und
Einflüsse aus.
Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß.
Es mag sein, dass ich ein Jahr oder länger kein
einziges Mal mit ihm gesprochen habe. [...]"
(aus: Hermann Hesse, Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend,
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, S. 49ff., gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.05.2022