Personales Erzählen: Die Geschichte aus dem
Wahrnehmungshorizont einer Figur
Die
▪
personale Erzählsituation
weist eine Reihe von charakteristischen Merkmalen auf, die sie von
anderen
▪
Erzählsituationen unterscheiden.
Die ▪ neutrale Erzählperspektive, mit der
sie viele Merkmale teilt, kann als Variante der personalen
Erzählperspektive aufgefasst werden.
»Personal« bedeutet dabei: aus dem Blickwinkel einer der
handelnden Figuren selbst betrachtet
Personales Erzählen "erzählt" die Geschichte nicht so "wie
sie sich in der Phantasie oder der Einbildung eines persönlichen, d. h. von
subjektiven Momenten bestimmten Erzählers einstellt, sondern Wirklichkeit
wird dargestellt, d. h. szenisch vorgeführt oder im Bewusstsein einer
Romanfigur gespiegelt." (Stanzel
1964/1979, S. 50) Der personale Erzähler wird daher auch als
Perspektiv- bzw. Reflektorfigur
bezeichnet.
Daher ist eine
Reflektorfigur, "in deren Bewusstsein man sich quasi befindet, [...]
kein Erzähler" (Bode
2005, S.151), sondern wir erleben in deren Bewusstsein nur eine
von diesem gespiegelte Welt.
Scheinbar erzählerloses Erzählen
Die personale Erzählperspektive wirkt oft quasi erzählerlos und findet
sich oft bei Texten mit einem sehr hohen Anteil
szenischer Darstellung). (vgl.
Bleissem u. a. 1996, S.74)
Im Ausschlussverfahren lässt sich oft feststellen, ob es sich um eine
solche Perspektive handelt: Wenn keine Ich-Erzählsituation und auch
keine auktoriale Erzählsituation vorliegt, dann handelt es sich um eine
personale Erzählsituation.
Das Ausschlussverfahren
sollte aber, wie
Bode
(2005, S.150) betont, nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Stattdessen gehe es darum zu verstehen, dass sich sich dabei nur um eine
"Illusion von Unmitttelbarbeit"
handle, "wenn der vermittelnde Erzähler zurücktritt oder ganz ausfällt."
(ebd.)
So definiere Stanzel
als Kernbereich der personalen Erzählsituation auch nicht vorrangig mit
an das Drama erinnernden Phänomene wie der
szenischen Darstellung oder dem
Showing, sondern
über "diejenige Situation, in der der Leser quasi im bewusstsein einer
Romanfigur, 'die denkt, fühlt, wahrnimmt', drinstgeckt, ohne dass aber
eigentlich erzählt, d. h. aufbereitet oder vermittelt wurde -
daher eben der (illusionäre) Eindruck einer Unmittelbarkeit der
Darstellung." (ebd.,
S.151)
Der Eindruck dieses scheinbar erzählerlosen Erzählens entsteht dadurch,
dass es keine erkennbare ▪
auktoriale Erzählerpersönlichkeit gibt, die
aus der ▪ Außenperspektive die Geschichte arrangiert und organisiert, in
das Innere aller Figuren sehen (Innensicht)
und sich im Modus des
Telling
nicht nur mit seinem summarischen
Erzählerbericht
i. e. S.,
sondern auch mit Erzählerkommentaren in das Geschehen
einmischt, das er im Übrigen durch
Vorausdeutungen
und
Rückwendungen
nach Belieben arrangieren kann.
Erzählerstandort: Mitten
im erzählten Geschehen
Der personale Erzähler
steht mitten im erzählten Geschehen und erzählt, was er von diesem
point of view
(Erzählerstandort) aus, wahrnimmt, denkt und fühlt. ( ▪
Innenperspektive)
Typisch für personales
Erzählen ist, dass sich das
Geschehen im Bewusstsein einer Figur (mitunter auch mehrerer
Figuren = personale Multiperspektive) spiegelt, der Erzähler also die Wahrnehmungsperspektive
(perzeptive
Perspektive) einer Figur im Hier und Jetzt einnimmt.
Damit eignet sich die
personale Erzählsituation besonders dafür, "Verhältnisse vorzuführen,
die noch nicht durchschaut und begriffen sind, die vorerst nur
(unmittelbar) registriert und reflektiert werden, vom Leser im
fingierten Medium eines Bewusstseins mitvollzogen werden. Weil die
erzählerische Aufbereitung fehlt, ist der Rezipient in eine Position
gedrängt, die der des Reflektors gleicht: Auch er muss sich auf das
Registrierte und Reflektierte erst einen Reim machen - und dann auch
noch einen auf die Deutungsversuche der Reflektorfigur." (Bode
2005, S.187)
Personales Erzählen im
Modus des Showing
Das Geschehen wird also im Modus des
Showing
erzählt. Dabei kann das Geschehen in personaler
Außensicht, aber auch in personaler
Innensicht,
(also mit Hilfe der Gedanken der Figur) dargeboten
werden.
-
In der personalen
Außensicht tauchen dabei z. B. längere Dialogpartien auf, bei der in
szenischer
Darstellung in
direkter
Rede wiedergegeben wird, was Figuren sagen.
-
Nimmt der personale
Erzähler dagegen die personale
Innensicht ein, bleibt sein
Wahrnehmungsfeld auf seine eigene, subjektiv-psychologische Perspektive
beschränkt.
-
Wird eine Geschichte in einer personalen
Multiperspektive erzählt, bleibt sie immer auf die Optik des jeweils
darbietenden personalen Erzählers beschränkt, die sich niemals mit
der einer anderen Perspektivfigur vermengen kann.
-
Kennzeichnend für die personale
Innensicht sind Darbietungsformen wie
die erlebte
Rede, der
innere
Monolog oder auch der
Bewusstseinsstrom (stream of consciousness).
Die innere Handlung der
Perspektivfigur(en) hat besonderes Gewicht
Bei der personalen
Erzählperspektive hat aus diesen Gründen sehr häufig die innere Handlung
(Gefühle, Gedanken, Erinnerungen) der Perspektivfigur (Reflektorfigur) besonderes
Gewicht. Ihre Gefühle, Gedanken, Erinnerungen usw. machen damit stets
einen großen Teil der erzählten Handlung aus.
Zugleich entfaltet dies
einen suggestiven "Sog", in den sich der Leser bzw. die Leserin eines
solches Textes hineinziehen lassen kann, der nur "durch die Brille" der
Perspektivfigur und ihrer Gefühle und Gedanken Zugang zur erzählten
Wirklichkeit erhält. (vgl.
Stanzel
1964/1979, S. 51, vgl.
Bleissem
u. a. 1996, S.73)
Dies führt geradezu zwangsläufig zu einer Identifizierung mit der Figur,
"steckt man doch quasi im Bewusstsein der Reflektorfigur." (Bode
2005, S.187) Das allerdings müsse, so fährt
Bode (ebd.)
fort, nicht unbedingt zur Folge haben, dass man sich auch haltungs- und
wertungsmäßig mit der Reflektorfigur 'identifizieren' können müsse,
zumal sich niemand gerne mit jemandem identifiziere, den er kritisch
sehe oder sogar ablehne.
Erzählsituationen können
sich auch innerhalb eines Textes ändern
Ein literarischer Text
muss keineswegs das Erzählte nur aus einer Erzählersituation darbieten, auch wenn viele Texte das tun. In der modernen Literatur
werden die Erzählperspektiven aber auch häufig innerhalb ein und
desselben Textes geändert. Daher lassen sich bestimmte
Erzählperspektiven oft auch nicht unbedingt zur Charakterisierung eines gesamten
Werkes oder auch nur eines größeren Abschnitts heranziehen, "sondern
lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten" (Vogt
1990, S. 52)
Dies gilt im Falle der personalen Erzählsituation in
besonderer Weise, weil sie, wenn der personale Erzähler sich einmal für
kürzere oder längere Zeit vollkommen zurückzieht, in ▪
neutrales Erzählen übergehen kann, also auch
zwischen beiden fluktuieren kann. Nichtzuletzt aus diesem Grunde sieht
Stanzel in dieser Art des Erzählens eine Variante der personalen
Erzählsituation.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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