Schulische Erzähltextanalyse und Kompetenzen
Die ▪ Erzähltextanalyse im
Literaturunterricht der Schule darf auf der einen Seite den
Anschluss an die Entwicklung der wissenschaftlichen
Erzähltheorie
(Narratologie)
nicht völlig verlieren, muss aber angesichts einer unter didaktischem
Blickwinkel zum Teil doch sehr "abgehoben" daherkommenden
neueren
Erzähltheorie ihren pädagogischen und kompetenzorientierten Zielen
im Zusammenhang
literarästhetischer Rezeptionskompetenz gerecht werden. Kurz gesagt:
erzähltheoretische "Moden" ebenso wie eine bis ins Detail ausgefeilte
narratologische Terminologie haben in diesem Zusammenhang wenig Platz.
Dennoch zeigen der schulische Literaturunterricht und die Lehrkräfte,
die ihn gestalten, eine vergleichsweise geringe Neigung, Ansätze und
Terminologie der neueren Erzählforschung in den Literaturunterricht
einzubringen. Weithin dominieren darin die zum Teil jedenfalls doch sehr
in die Jahre gekommenen Konzepte der
traditionellen (älteren,
vorstrukturalistischen)
Erzählforschung, allen voran »Franz
K. Stanzels (geb. 1924) ▪
Konzept der Erzählsituationen oder »Eberhard
Lämmerts (1924-2015)
Bauformen
des Erzählens (1952/55).* Bei
der schulischen ▪
Textinterpretation sind diese Konzepte weiterhin Standard.
Als Alternative dazu bietet sich, insbesondere unter
literaturdidaktischem Aspekt betrachtet, die ▪
Erzähltextanalyse nach Petersen(1993,
72006)
an, mit deren Hilfe sich mit einer beschränkten Anzahl von Kategorien in einer allgemein verständlichen
Terminologie wesentliche Erzählstrukturen in in ihrem
Funktionszusammenhang analysieren lassen. Darin wird Stanzels als
"geschlossene Typologie" konzipierte Erzählsituationen "durch einen
offeneren Merkmalskatalog ersetzt, der mehr (wenn auch nicht alle)
Kombinationsmöglichkeiten und damit eine feinere Klassifizierung
ermöglicht." (Jahraus
2009, S.228)
Um die verschiedenen erzähltheoretischen "Universen" zumindest in
Grundzügen mit ihren wichtigsten Strukturbegriffen abzubilden, werden
sie zunächst einmal jedes Universum für sich, zusammengefasst. Dabei ist
natürlich klar, das, um im Bild zu bleiben, jedes Universum für sich
wieder aus mehr oder weniger geschlossenen Galaxien und Sonnensystemen
besteht, die im Einzelnen zu separieren, Aufgabe der Erzählforschung
sind. Hier wird unterschieden zwischen
Ferner machen wir den Versuch mit einer eigenen ▪
Zusammenstellung wichtiger Strukturbegriffe
für die schulische Erzähltextanalyse (Standard-Auswahl) unter unter
literaturdidaktischem Vorzeichen eine Brücke zwischen den ▪
Strukturbegriffen der älteren und der ▪
neueren Erzähltheorie zu schlagen. Dabei
werden aus literaturdidaktischen und heuristischen Zwecken Begriffe
miteinander kombiniert, die systemisch zu einem jeweils anderen
erzähltheoretischen Ansatz gehören.
Ein solches Unterfangen ist nicht unproblematisch und
dennoch literaturdidaktisch notwendig, auch wenn der Aufschrei von Kritikern
aus den verschiedenen Ecken "reiner" Lehre, von Traditionalisten ebenso
wie von "Genettisten" oder "Schmidianer", groß sein wird.
Schulische Erzähltextanalyse und -interpretation ist der
"Werkzeugkasten-Fraktion" verbunden
Bei der ▪
schulischen Analyse und Interpretation
von Erzähltexten geht es
nicht um eine letztlich widerspruchsfreie, kategoriale
Terminologie in einem geschlossenen erzähltheoretischen Universum, schon
gar nicht um terminlogische Vorherrschaft im Bereich der Erzähltheorie,
was ohne "Begriffshuberei" anscheinend kaum zu schaffen ist,
sondern um den heuristischen Wert, den die Anwendung der
Strukturbegriffe für Schülerinnen und Schüler auf den ihnen angemessenen
Kompetenzniveaus besitzt.
Daher wird sie sich stets auch eher der sogenannten
"Werkzeugkasten-Fraktion" (Vogt
2011, S.10) verbunden zeigen, die ihre "allgemeinen Begriffe,
Kategorien und Unterscheidungen der Erzähltheorie [...] nicht in streng
systematischer Form [..]" vorstellt, "wohl aber kompakt und in einer Ordnung, die
sich sich den vergangenen Jahrzehnten als praktisch und gut handhabbar
bewährt hat. Das heißt auch dass sie aus verschiedenen Quellen oder
wissenschaftlichen Schulen stammen" (Vogt
2011, S.10f). Dieses durchaus eklektische Vorgehen passt dabei, da
ist Vogt voll und ganz zuzustimmen, in die "innerhalb der deutschen
Literaturwissenschaft [...] in den letzten Jahren doch immer stärker in
diese vernünftige Richtung eines entspannten Methodenpluralismus"
gegangene Entwicklung.
Es geht dabei gerade bei der Interpretation von literarischen Texten,
und das natürlich in besonderem für die schulische Textinterpretation
darum, erzähltheoretische Kategorien, "verstanden als begrifflicher
Werkzeugkasten" (Köppe/Kindt
2014, S.33) "im Rahmen unterschiedlich ausgerichteter
interpretativer Erschließungen von Erzähltexten" zu nutzen.
Dabei ist es gerade unter literaturdidaktischem Aspekt besonders von
Bedeutung, "dass die narratologische Beschreibung eines Textes für
dessen interpretative Erklärung weitgehend oder sogar vollkommen
irrelevant sein kann." (ebd,
S.30) Im Verhältnis von Narratologie (Erzähltheorie) und
Textdeutung (Interpretation) fungiert jedenfalls "die Erzähltheorie eben
nicht als methodischer Leitfaden, sondern nur als heuristischer
Bezugspunkt der Textdeutung [...]. Dass sich in einer Erzählung eine
bestimmte Perspektivgestaltung oder eine bestimmte Handlungskomposition
beobachten lässt, ist für ihre Bedeutung oftmals, aber nicht
notwendigerweise wichtig. Kurz gesagt: Die Textstrukturen, die sich mit
Hilfe des narratologischen Instrumentariums identifizieren lassen, haben
im Rahmen der Textinterpretation hohes Relevanzpotenzial, jedoch
keine Relevanzgarantie (ebd,
S.30). Ob bestimmte Strukturen des Erzählens für die Interpretation
eines Textes also wirklich von Bedeutung sind, hat grundsätzlich nichts
damit zu tun, dass es diese Strukturen (z. B. Zeit-, Raum- und
Figurengestaltung sowie Perspektiven) in einem erzählenden Text gibt.
Im literaturdidaktischen Setting sollte die Narratologie sich daher in
besonderem Maße dem Leser verpflichtet sehen, so wie es schon »Franz
K. Stanzel (geb. 1924) gefordert hat, der seine Theorie des
Erzählens als "Dienerin der Literaturkritik und Interpretation"
verstanden hat und seine Begriffe in einer Erzähltheorie für Leser den
Rang von "discovery tools" gegeben hat,
die "den Leser zu Einsichten führen, die ihm ohne dieses theoretische
Rüstzeug [...] nicht zugänglich geworden wären" (zit. n.
ebd, S.30). Nicht anders sehen dies auch »Gérard
Genette (1930-2018) und »Mieke
Bal (geb. 1946), die "ihre Beiträge zur Erzähltheorie als
»Entdeckungshilfe« und »Werkzeug der Beschreibung« bzw. als »Mittel zur
Erläuterung und Klärung von Lektüreeindrücken« einstufen." (ebd,
S.30)
Vielleicht ist es eine für die Literaturdidaktik durchaus brauchbare
Idee, wenn Vogt
(2011, S.10) vorschlägt zwischen den Begriffen Erzähltextanalyse und
Erzähltheorie wie folgt zu unterscheiden.
-
Erzähltextanalyse steht dann
für die Analyse von Texten im Dienst der Interpretation.
-
Erzähltheorie für die Analyse des
Erzählens mit seinen Strukturen, wobei der Text nur als Beispiel
dient.
In diesem Verständnis bliebt die Erzähltheorie "ein begrifflicher
Werkzeugkasten, durch dessen Nutzung sich zwar nicht zu einer
umfassenden Erschließung von Erzählungen gelangen lässt, wohl aber
zu Textbeobachtungen und Strukturbestimmungen, die zu einer solchen
Erschließung in unterschiedlicher Weise beizutragen vermögen: Sie
können etwa dazu dienen, Interpretationen einzelner Erzählungen
anzuregen, abzusichern oder in Frage zu stellen, sie können aber
auch helfen, Muster in umfangreicheren Textkorpora und
literaturgeschichtlichen Entwicklungsprozessen zu erkennen oder
Wirkungen und Wirkungspotenziale von Texten bzw. Textstrukturen zu
erläutern." (Köppe/Kindt
2014, S.28f.
Schulische Erzähltextanalyse umfasst auch weitere
Gesichtspunkte
Die schulische Erzähltextanalyse ist nicht auf den
narratologischen Gegenstand der Analyse beschränkt, sondern steht
meistens im Zusammenhang mit der Interpretation erzählender Texte.
Dementsprechend gehören zum Bereich "Wie wird erzählt?" im schulischen
Literaturunterricht auch sprachliche und stilistische Aspekte, die
"nicht notwendig an das Phänomen des Erzählens gebunden (sind), sondern
(...) die Gestaltung von Rede überhaupt (betreffen)" (Martinez/Scheffel,
10. Aufl. 2016, S. 32) * Auch teachSam
ist lange Jahre der traditionellen Erzähltheorie treu geblieben und hat sich
erst nach und nach aufgemacht, die neuere Erzähltheorie stärker in den
Aufbau und die Inhalte des Arbeitsbereichs Strukturen epischer Prosa zu
integrieren. Dieser Prozess ist ein längerfristig angelegter Umbau, der
noch im Gange ist. Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.05.2022
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