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Erzählerbericht und Figurenrede (Ältere
Erzähltheorie)
Mit dem Begriff Bewusstseinsstrom bezeichnet man eine Form der
Figuren-/Personenrede,
die von Édouard Dujardin (1887) und James Joyce (1882-1941)
entwickelt wurde und in der modernen Erzähltechnik unterschiedliche
Bedeutungen besitzt.
Entweder steht der
Begriff synonym für ▪
inneren
Monolog oder er wird als Begriff verwendet, der sich von diesem
deutlich abgrenzen soll.
Für
Vogt
(1990) stellt der Bewusstseinsstrom eine von verschiedenen
stilistisch-grammatischen Techniken dar, mit denen die Gedankenwiedergabe
als
stumme Rede
erzähltechnisch realisiert werden kann. Dabei orientiert er sich an
Dorrit
Cohns Unterscheidung von "quoted
monologue" (zitierter Monolog) und "free direct
monologue" (freie und stumme direkte Gedankenwiedergabe), wobei
letztere Form auch "metaphorisch" stream of consciousness
genannt werden könne (vgl.
Vogt
1990, S.192, Anm.32).
Merkmale
-
1. Pers. Indikativ Präsens oder ohne Person
-
Innensicht ohne kommentierende Einmischung des Erzählers bzw. der
Erzählinstanz;
-
unvollständige grammatische Form, persönliche Idioms,
willkürliche Wortbildungen, Lautmalerei, Sprachspiele, assoziative
Verknüpfungen und meist ohne Zeichensetzung
-
unmittelbar protokollhafte Wiedergabe
von Bewusstseinsinhalten
-
fast suggestive Unmittelbarkeit
-
inhaltlich: Folge von assoziativ verknüpften Bewusstseinsinhalten
"in denen Empfindungen, Ressentiments, Erinnerungen, sich
überlagernde Reflexionen, Wahrnehmungen und subjektive Reaktionen auf
Umwelteindrücke ungeschieden durcheinander gleiten." (Metzler
Literaturlexikon, 1990, S.446)
Beispiel 1
In
seinem Roman »"Ulysses"
(1922, dt. 1927)
entwickelt »James Joyce
(1882-1941) die Erzähltechnik des
inneren
Monologs radikal zum
Bewusstseinsstrom
(stream of consciousness) weiter; der über 1000 Seiten zählende
labyrinthisch konstruierte Roman umfasst von der Handlung her
betrachtet den Ablauf eines einzigen Tages des jüdischen
Anzeigenvermittlers Leopold Bloom, seiner ihn betrügenden Frau
Molly und des jungen Dichters Stephen Dedalus.
Im Roman von James Joyce
(1882-1941), "der die stream of consciousness-Technik wie
kein anderer bekannt gemacht und zu ihrer Nachahmung angeregt hat" (Vogt
1990, S.183), wird die Geschichte dieses einzigen Tages, der 16. Juni
1904, des Protagonisten Leopold Blum erzählt. Unter Anspielung auf »Homers
»Irrfahrten
des Odysseus (=Odysseus) schildert der Erzähler in 18 Episoden, was
ihm beim Erleben des großstädtischen Lebens an diesem Tag widerfährt, genauer gesagt, durch den Kopf geht. In der
hier zitierten Stelle des Schlusskapitels des - je nach Ausgabe - über
tausend Seiten langen Romans, erinnert sich die
Ich-Erzählerin Molly Bloom inmitten der Nacht in einer Art
Halbschlaf, in dem alle Gedanken frei fließen, -
ca. 25.000 ohne Punkt und Komma im Schlusskapitel! - an den Tag, an dem ihr von ihrem Mann, Leopold
Bloom, ein Heiratsantrag gemacht worden ist. Der Auszug ist zugleich das
Ende des Romans. In einem
sprechgestaltenden Vortrag erschließt sich dem Leser und Zuhörer in
besonderer Weise die Wirkung der Erzähltechnik.
"…die Sonne
die scheint für dich allein hat er damals gesagt an dem Tag wo wir unter
den Rhododendren lagen oben auf dem Howth in dem grauen Tweedanzug und mit
dem Strohhut an dem Tag wo ich ihn so weit kriegte dass er mir einen
Antrag gemacht hat ja zuerst hab ich ihm ein bisschen von dem Mohnkuchen
aus meinem Mund gegeben und es war Schaltjahr wie jetzt ja vor 16 Jahren
mein Gott nach dem langen Kuss ist mir fast die Luft ausgegangen ja er
sagte ich wäre eine Blume des Berges ja da hat er wirklich einmal was
Wahres gesagt in seinem Leben und die Sonne die scheint für dich allein
heute ja deswegen hab ich ihn auch gemocht weil ich gesehn hab er versteht
oder kann nachfühlen was eine Frau ist und ich hab auch gewusst ich kann
ihn immer um den Finger wickeln und da hab ich ihm die ganze Lust gegeben
die ich konnte und hab ihn so weit gebracht dass er mich gebeten hat ja zu
sagen und zuerst hab ich gar keine Antwort gegeben hab bloß rausgeschaut
aufs Meer und über den Himmel ich musste an so viele Sachen denken von
denen er gar nichts wusste Mulvey und Mr. Stanhope und Hester und Vater
und der alte Captain Groves und die Matrosen die alle Vögel fliegen hoch
und ich ruf bückt euch und Geschirrspülen wie sie das nannten spielten
wie am Pier und die Wache vor dem Haus des Gouverneurs mit dem runden Ding
um den weißen Helm der arme Teufel halb gebraten war er und die
spanischen Mädchen wie sie immer am lachen waren in ihren Schals und mit
den großen Kämmen und die Versteigerung morgens immer die Griechen und
Juden und Araber und weiß der Teufel wer sonst noch alles von allen Enden
Europas und die Duke Street und der Geflügelmarkt wie das alles am
gackern war vor Larby Sharon und die armen Eselchen wie die halb im Schlaf
da langschlichen und die Gammelbrüder mit den Mänteln die auf den
Treppenstufen schliefen im Schatten und die großen Räder der
Ochsenkarren und das alte Schloss Tausende von Jahren alt schon ja und die
hübschen Mauren alle ganz in weiß und mit Turbanen wie Könige wie sie
einen baten man soll doch Platz nehmen in ihren winzig kleinen Lädchen
und Ronda mit den alten Fenstern der posadas hinterm Gitter zweier Augen
Glanz für ihren Liebhaber dass er das Eisen küsst und die Weinhandlungen
die immer halb offen hatten nachts und die Kastagnetten und an dem Abend
wo wird das Fährschiff in Algeciras verpasst hatten der Wächter wie er
so heiter und alles in Ordnung herumging mit seiner Laterne und oh der reißend
tiefe Strom oh und das Meer das Meer glührot manchmal wie Feuer und die
herrlichen Sonnenuntergänge und die Feigenbäume in den Alamedagärten ja
und die ganzen komischen kleinen Straßen und Gässchen und rosa und
blauen und gelben Häuser und die Rosengärten und der Jasmin und die
Geranien und Kaktusse und Gibraltar als kleines Mädchen wo ich eine Blume
des Berges war ja wie ich mir die Rose ins Haar gesteckt hab wie die
andalusischen Mädchen immer machten oder soll ich eine rote tragen ja und
wie er mich geküsst hat unter der maurischen Mauer und ich habe gedacht
na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er
soll doch noch mal fragen ja und dann hat er mich gefragt ob ich will ja
sag ja meine Bergblume und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt
und ihn zu mir niedergezogen dass er meine Brüste fühlen konnte wie sie
dufteten ja und das Herz ging mir wie verrückt ich hab ja gesagt ja ich
will Ja."
(Ulysses. Deutsche Übersetzung von Hans Wollschläger
(1975). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996)
Beispiel 2:
In
seiner Erzählung "Du musst nur die Laufrichtung ändern" (1978), mit deren
Titel »Hermann
Kinder (geb. 1948) wörtlich auf die "Kleine
Fabel" von Franz Kafka
(1893-1924 ) Bezug nimmt, schildert der Erzähler, ein Studienrat,
seine Rückfahrt auf der Autobahn aus dem Norden nach Süddeutschland
zurück. In dem teils als
innerer
Monolog, teils als
Bewusstseinsstrom
dargebotenen äußeren und inneren
Geschehen, das Erinnerungsfetzen, Ängste und Träume ebenso wie sein
bildungsbürgerliches Wissen und Wahrnehmung zur Darstellung bringt,
verarbeitet der Ich-Erzähler den Gegensatz, den er zwischen seiner
eigenen emotionalen Befindlichkeit und dem sieht, was vor allem junge
Menschen, seien es Schüler oder Studenten, ausstrahlen. Deren
Lebensgenuss und Lebensfreude, die dem Ich-Erzähler nicht entgeht, zeigt
sich dazu jenseits aller bildungsbürgerlicher Horizonte, die Leben und
Denken des Lehrers prägen. Und so zeigt er wenig Sympathie für "diese
Anfälle von Mut" und das "blinde Prinzip Hoffung", das er zur Basis des
jugendlichen Lebensgefühls erklärt. Trotzdem erkennt er auch, dass die
jungen Menschen dabei eine Sicht auf die Welt haben, die "realistischer"
kaum sein kann. Dies wird am Beispiel einer Schülerarbeit, einem
Interpretationsaufsatz, zu Kafkas "Kleiner Fabel" verdeutlicht. Die
Deutung der Geschichte durch den Schüler ist existenziell, und
zwar in einem ganz handfesten Sinn, ist: Der/die Interpret/in bezieht
nämlich das, was der Maus widerfährt, auf seine eigene Zukunft, in der,
analog zur aussichtslosen Lage der Maus, alle Anstrengungen durch
den Numerus Clausus, die an Leistungsnoten orientierte
Zugangsbeschränkung an Universitäten, enttäuscht werden. Am Ende, so
heißt es in diesem Interpretationsaufsatz, nach einem kritischen Blick
auf das ausschließlich von Arbeit geprägte Dasein der Menschen, sei eben
"alles für die Katz", weil "der Staat und seine Institutionen"
dem einzelnen in seinem Streben nach einem erfüllten Leben "Steine
und Mauern" in den Weg legen. Für den Ich-Erzähler ist hingegen
längst klar, dass der vom kapitalistischen System geförderte Egoismus
die Ursache von Pessimus und Lebensüberdruss ist, Gefühlen denen er nur
im Traum begegnen kann, wer sich einer Gewaltfantasie hingibt, die alles
zerstört, was ihn angeblich selbst kaputt macht. So bleiben die
Vorstellungen von einem anderen Leben für ihn nicht mehr als ein
Projektion. Die Verheißung von Glück dadurch, dass man einfach die
Laufrichtung seines Lebens ändert, bleibt damit ähnlich wie bei Kafkas
Maus in der "Kleinen Fabel" eine Illusion.
"In Göttingen
verlasse ich die Autobahn und fahre in die Stadt. Hinaus aus der
Individualkonserve, tanken und die Benzinkutsche abstellen. an
frischer Luft für eine halbe Stunde das Sausen der Mittellinie, das
ästhetisch unverbindliche Schwingen der Perspektiven zum Stillstand
bringen, mich selbständig bewegen im gemächlichen Auf und Ab der
Schritte über das fest gefügte Pflaster eines alten Bürgersteiges
[…]
Durch die Stadt trödeln die Schulmädchen mit ihren Strickbeuteln und
Basttaschen, sie werfen die Haare hinter sich und sehen schnell
hinüber zu den Typen in ausgefransten Jeans und abgelatschten Boots,
die auf dem von Kaugummis gesprenkelten Pflaster hocken und durch
den Rauch der Selbstgedrehten die Brüste taxieren und die Falten im
Schritt. Die Mädchen spielen mit den Hüften, strecken den Busen,
wölben das Hohlkreuzbäuchlein, schwenken die Jeans-hintern, die vom
straffen Slip schräggeteilten Doppelbirnen, wie sie girren und
hastig Schokoknusper, Leckerschmecker und die neueste spanische
Eiskreation in sich hineinstopfen, wie sie sich in Schwung schmecken
und topfit lutschen, alles, alles finden sie in Africola, auch
unsere Wünsche und Ängste sind ökonomisch geschaltet, wie sie sich
so ungewiss sind zwischen den Blicken der Jungen und den
pickelfreien, braunen, schlanken Zigarettenmädchen auf der
Reklamewand, wie sie plötzlich Tschüüß flöten und hektisch
davonspringen, alles möchte so locker und leicht sein, seht mich an,
seht diesen Schwung in mir, wie ich die Welt noch unter meinen
federnden Füßen habe, und ich kann noch auf dem Kopf laufen,
vorwärts und fast fliegend. Diese Anfälle von Mut. Dieses bisschen
Seelenaufwind. Das blinde Prinzip Hoffnung als Überlebensstrategie
für daheim. Gegen besseres Wissen. Meiner Klasse 12 habe ich eine
Geschichte zur Interpretation vorgelegt: »Ach«, sagte die Maus,
»die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass
ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich
rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern
eilen so schnell aufeinander zu, das ich schon im letzten Zimmer
bin, und dort im Winkel steht die Falle.«
»Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze zur Maus
und fraß sie. Meine 12. Klasse schrieb: Selbst wenn der
Mensch ein anderes Ziel anstrebt, ist es doch nur eine Täuschung. Er
kann dieses Ziel nicht erreichen, weil es immer eine Katze gibt, die
die Maus frisst. / Die Falle des Numerus Claus wartet im letzten
Zimmer. / Die Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitiger Sicherheit
kann nie auf Dauer erfüllt werden. / Wir leben nur noch um zu
arbeiten. Ein letzter Versuch, dieser Welt zu entfliehen. misslingt,
der Staat und seine Institutionen, von allen Seiten treten uns
Steine und Mauern in den Weg, es war alles für die Katz.
Wie haben wir die Menschheit uns Macht‑ und Besitzneurotikern in den
Hintern geschmiert! Unsere Geschichte ist nur in guten Büchern die
Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Dabei wissen wir
es ja längst: Das moderne Leben beruht auf der kapitalistischen
Produktionsweise, welche sich moralisch äußert in der Betätigung der
egoistischen Triebe des Menschen nach der Theorie, welche den Kampf
ums Dasein auch in die Menschenwelt überträgt, und im Pessimismus
und Lebensüberdruss, welcher die Frucht einer derartigen Praxis ist.
(P. Ernst 1889)
Die Leute gehen
in diesen Göttinger Kaufhof hinein, die Leute kommen aus diesem
Göttinger Kaufhof heraus, natürlich geht es uns gut, Glückseligkeit
wäre ja auch ein bisschen zu viel verlangt, dieser Gefühlsmüll und
Charakterschrott in uns ist der Preis der Wohlfahrt, dafür werden
wir in kaputte Seele und Sozialversicherung zweigeteilten Lenor
Menschen nicht erschlagen wie in Afrika, müssen nicht verhungern,
ich muss da trotzdem wieder raus, erst drücke ich die Fingerspitzen
gegeneinander, dann kneife ich mir ins Bein, dann balle ich die
Faust, dann laufe ich los, renne über den Rathausplatz, rasch zum
Auto, nur fort hier, wieder in Bewegung und gen Süden, hinter den
Bergen muss die Freiheit wohnen, atemlos ins Auto, so schnell es
geht durch alle Gänge und mit Karacho wieder in die Autobahn
eingefädelt, überholen, was in die Quere kommt, nur ein bisschen Mut
und Freibeutertum, Lust am Risiko, alles locker und leicht, auch ich
kann noch auf dem Kopf laufen, vorwärts und fast fliegend, ich fahre
den R 4 aus, nicht daran denken, dass das Rad abbrechen und die
Achse auf der Fahrbahn Funken schlagen könnte, dass man wie ein
Hackfleisch Sandwich zwischen eingeknicktem Dach und zerfetztem
Polster liegen könnte, wie einem das Lenkrad durch die Brust
gefahren ist und die in vielen Waldläufen rosig gehaltene Lunge auf
die Rückbank geschmiert, während die Kopfstütze das Auge von hinten
ausgestochen hat, nein, denk nicht dran, auf die Technik ist
Verlass, dies Auto ist meine sichere schnelle Bewegung, die
Schultern über das Lenkrad gebeugt und die Nase im Fahrtwind fege
ich über die Autobahn, ein schneller Film läuft mir durch den Kopf,
da sehe ich mich mit dem Fahrrad um die Erde radeln und auf dem Dach
der Welt eine Flasche Roten trinken, das ist es, eines Mannes
Selbstbestimmung! Hinter den Bergen muss die Freiheit wohnen.
Endlich alle Ketten zerreißen. Einfach auf und davon. […]
Wenn nur dies lästige Ekzem hinter dem Ohr nicht wäre und der
Fußpilz, die Falten unter den kleinen Zehen sind rot eingerissen.
Und kein Tonoftal, kein Pimafucin zur Hand.[…]."
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Erzählerbericht und Figurenrede (Ältere
Erzähltheorie)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.02.2023
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