Stellenwert,
Auswahlkriterien und Organisation des Dramenunterrichts in der Schule werden
im Allgemeinen ziemlich kontrovers diskutiert. Die entsprechenden
Grundpositionen der Dramendidaktik und
dramendidaktischen Konzepte müssen sich dabei auch mit Fragen
auseinander setzen, wie
-
Welche dramatischen Texte
sollte ein Schüler bzw. eine Schülerin im Laufe seiner Schulzeit im
Unterricht gelesen haben?
-
Wie viele Dramentexte sollen
im Vergleich mit epischen und lyrischen Texten im Literaturunterricht
behandelt werden?
-
Auf welcher Klassenstufe
sollen diese Dramen Unterrichtsgegenstand werden?
Die Debatte darüber,
welche Dramen im Unterricht behandelt werden sollen, kreiste lange Zeit um
Vorstellungen eines festgeschriebenen Kanons zeitlos gültiger Werke, die zur
(bürgerlichen) Bildung gehörten.
Mit der Erosion der diesen Kanon zimmernden
Werteordnung durch die gesellschaftlichen Veränderungen glaubte man zunächst
daran, dass ein zeitgemäßerer Kanon, mehr oder weniger austariert zwischen
den Polen Aktualität und Historizität, den Dramenunterricht modernisieren
könne.
Und im Zusammenhang mit den strukturell-deskriptiven Konzepten
schließlich versank die Zusammenstellung des Dramenkanons endgültig in
Beliebigkeit.
Franz-Josef
Payrhuber (1998,
S. 653-660) hält für die Dramenauswahl drei Kriterien für maßgeblich:
Das
Metzler Literatur-Lexikon (21990, S.232) versteht unter einem
Kanon "die Auswahl der für eine bestimmte Zeit
jeweils als wesentl., normsetzend, zeitüberdauernd, d. h. »klassisch«
erachteten künstler. Werke, deren Kenntnis für eine gewisse Bildungsstufe
vorausgesetzt wird (z. B. in Lehrplänen)."
Während der gymnasiale
Literarunterricht sich noch bis in die fünfziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts hinein streng an kanonischen Vorgaben orientierte, die vor
allem von Tradition und "Überlieferung" geprägt und vom Prinzip der
Klassizität geleitet gewesen ist, gibt es heute für Schule und Studium
gleichermaßen keinen unumstrittenen Literatur-Kanon mehr. (vgl.
Paefgen
22006, S.55)
An die Stelle des mit höchstem
normativen und präskriptiven Anspruch auftretenden Lektürekanons sind
mittlerweile
Leselisten, Lektüreverzeichnisse oder kommentierte Empfehlungslisten
getreten. In dieser "Zeit der Lektüre-Empfehlungen" (ebd.)
laufen freilich auch diese Zusammenstellungen Gefahr, indirekt zur
Herausbildung von Standardlektüren beizutragen.
Neben den
Lektüreempfehlungen hat sich aber, zumindest in der gymnasialen Oberstufe,
ein faktischer Kanon der am meisten
gelesenen Lektüren herausgebildet, der auch modernere Kanonbildungen
praktisch ignoriert.
So haben
Bogdal/Kammler (2000; S. 9ff.) ermittelt, dass dramatische Texte im
faktischen Kanon eindeutig in der Minderzahl sind. Folgende Dramen gehören
zu diesem faktischen Kanon
Nun muss nicht jede Lektüreempfehlung, die sich der Aufgabe verpflichtet
sieht, eine Auswahl von Texten zu bestimmten Zwecken anzubieten, zugleich
Kanoncharakter mit normativ-präskriptivem Anspruch haben.
Manche haben wie
z. B. die 2002 von dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki angestoßene
Kanon-Debatte mit ihren geschickt vermarkteten Buchkassetten wohl auch nur
"Event-Charakter" (vgl.
Paefgen
22006, S.68). Reich-Ranickis "Ghettoblaster" der
deutschsprachigen Literatur sei, so Thomas Steinfeld (2002) in der
Süddeutschen Zeitung, begründe auch keinen Kanon, sondern sei "beim besten
Willen nicht mehr als eine knappe Liste mit persönlichen Empfehlungen".
Und
hinsichtlich der Gründe für derartige Verlagsproduktionen, die letztlich auf
Hochstapelei fußten, führt er aus:
"Mag sein, dass sich die beteiligten Verlage darüber freuen, ein paar in
jüngster Zeit nicht mehr sonderlich erfolgreiche Titel aus ihrer backlist
neu unter das Volk bringen zu können. [...]
Dieser 'Kanon' ist [...] eine Entscheidung wider das schlechte Gewissen,
wider das ungute Gefühl, das den stets nur halb gebildeten Menschen
angesichts so vieler ungelesener Werke, so vieler ungehörter Konzerte, so
vieler unbesuchter Theateraufführungen überkommt. Dass es gerade diese
Bücher und nicht mehr sein sollen – das heißt für den Leser: Alles andere
kannst Du vergessen, alles andere macht Dich nur verrückt, alles andere ist
womöglich nur Ballast. Nimm mich mit, spricht diese literarische
Kompaktanlage zu ihrem potentiellen Leser, nimm mich mit, das Leben ist
kurz, aber siehe Du zu, dass Du nicht ungebildet ins letzte Hemd steigst.
Ich bin Dein Weg und Deine Chance. Dieser 'Kanon' ist daher eine ebenso
billige wie falsche Anbiederung an die Endlichkeit."
Kurz: dieser "Kanon" ist das typische Produkt einer Gesellschaft, die sich
von einem internationalen Vergleich angeblich lebenspraktisch entscheidender
Kenntnisse so sehr hat erschrecken lassen, dass sie den "Bildungsnotstand"
ausgerufen hat und nun Rettung sucht in allerhand Veranstaltungen, in denen
mehr oder minder nutzlose Kenntnisse mit Bildung verwechselt werden.
Solche "Ghettoblaster" passen heute ins Bild einer Medienlandschaft und der
Medienkonvergenz, dem zunehmenden Verschmelzen aller Medien miteinander.
Und
so ist auch der Hinweis Steinfelds nicht von der Hand zu weisen, dass diese
und ähnliche "Kanon"-Bildungen eine auffallende Affinität zu bekannten
Fernsehformaten wie z. B. "Wer wird Millionär? aufweisen. Sieht man sich die
seitdem erschienenen zahlreichen Editionen von Verlagen aller Art an,
die marktschreierisch diese oder jene "100 wichtigsten" Bücher, Dramen,
Filme etc. anpreisen, wird die Konvergenz noch viel deutlicher.
Die
vermeintlich "100 wichtigsten Werke" der deutschsprachigen Literatur reihen
sich dabei nahtlos ein in Sendungen, die die angeblich "100 beliebtesten
Deutschen", die angeblich "100 wichtigsten Deutschen", die angeblichen "100
besten Hits seit den siebziger Jahren" etc.
Diese Fernsehformate, "Chart-Shows"
für alle möglichen Schichten der Gesellschaft, lassen auch solche
persönlichen Empfehlungslisten und Verlagseditionen als mehr oder
weniger beliebige "Lektüre-Charts" eines
lesenden oder zum Lesen anzuregenden Publikums erscheinen, die als eine per
TED-Umfrage ermittelte Longseller-Liste zum Kauf ganzer Editionen verführen
sollen.
Die Frage ist indessen, ob ein solcherart totemistisches Umgehen mit
Bildungsgütern, die im Regal stehend auf den Geist ihres Besitzers
"abfärben" sollen, nicht gerade im Gegenteil jenen Leser/Käufer ausweist,
der bis dahin seinen Weg zu den von anderen als unverzichtbar angesehenen
Werken der Weltliteratur überhaupt noch nicht gefunden hat. In einem solchen
Fall könnte die "gut aussehende" Buchedition den Käufer u. U. auch als
ignoranten Nicht-Leser stigmatisieren.
Trotzdem: Die Übergänge sind wohl fließend, und so ist auch nicht
auszuschließen, dass solche Empfehlungslisten und Editionen in dieser oder jener Form
subtil Einfluss auf die schulische Lektüreauswahl
nehmen. Wenn sie "Lesefreude und Leseinteresse wecken" (Bildungsplan
Deutsch, Gymnasien Baden-Württemberg 2004) lässt sich natürlich auch nicht
wirklich etwas gegen das Geschäft mit den Lektüre-Charts einwenden. Eine
Renaissance des alten Kanons jedenfalls entsteht daraus nicht. (vgl.
Paefgen
22006, S.67).
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023