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Theaterformen im Überblick
Die dramaturgische Funktion des Chors
im Wandel
In der ursprünglichen Form der ▪
antiken griechischen Tragödie,
also ehe sich seit dem Beginn des 5. Jahrhundert die athenische
Tragödie aus den besonderen kultischen Festkontexten löste (vgl.
ebd.,
S.185), säkularisierte und allmählich verdrängt wurde, besaß der
Chor eine zentrale Bedeutung. Dies wird auch von ▪
Aristoteles so gesehen.
Der nach und nach sich entwickelnde
dramaturgische Bedeutungsverlust des Chores
korrespondiert dabei mit der Einführung, des zweiten
Schauspielers durch »Aischylos
(525-456 v. Chr.) in seiner Tragödie »Die
Perser (472 v. Chr.), mit der "dialogische Partien sowie ein
mehrfacher Wechsel zwischen Chor und Einzelrede möglich wurden."
(Schößler
2017, S.20)
Und »Euripides
(480-406 v. Chr.) führte dies fort, indem er in seinen
Tragödien (»Elektra
(um 413), »Orestes
(408 v. Chr.)...) einen weiteren, den dritten Schauspieler,
hinzufügte und zugleich, selbst wenn er die Strukturen insgesamt
kaum veränderte, die Tragödie "intellektualisierte und
psychologisierte". (ebd.)
Die Tendenz weg vom Chor, hin zum
Schauspieler in der Entwicklung der Tragödie in
Griechenland, bis im späten 5.
Jahrhundert "die Lieder des Chores nur noch Zutat zum Stück
waren, die nichts Wesentliches zum Gehalt beitrugen und
austauschbar - oder auslassbar - wurden" (Hose 2012,
S.180), hatte natürlich strukturelle Veränderungen der Tragödiendramaturgie
zur Folge. Dennoch ist die antike griechische Tragödie aber ohne Chor
nicht denkbar. Es war nämlich wohl vor allem der Chor, der
stets die
Brücke zu dem archaischen ▪
Dionysos-Kult schlug,
weil "Tanz und Gesang der Chöre (...) bei aller
Überformung die Bewegungsdynamik und musikalische Atmosphäre des
kultischen Brauchtums noch erahnen (ließen) ." (Brauneck
2012, S.20)
Funktionen des Chores
Der Chor erfüllte in der antiken Tragödie über die Zeit
hinweg mit unterschiedlicher Akzentuierung in der klassischen
und hellenistischen Zeit vor allem drei
Funktionen (Schößler
2017, S.20 unter Berufung auf
Zimmermann 2000, S.156f.), ):
-
Als eine
allwissende Instanz, die über Zukunft und Schicksal im
Bilde ist, kann er das Geschehen unter eine
verallgemeinernde Perspektive bringen.
-
Als
Vermittler von Informationen kann er, z. B. zu Beginn der
Tragödie, den Mythos, um den es darin geht, erzählen und
erläutern.
-
Als
parteiische Instanz
kann er aber auch eigene Positionen vertreten oder zur
Parteinahme durch die Figuren der Tragödie aufgefordert oder
veranlasst werden.
Die Zusammensetzung des Chores
Der Chor bestand gewöhnlich aus 15
Mitgliedern, den sogenannten Choreuten, und einem
Chorführer
bzw. Chor-Lehrer (chorodidaskalós) als einer Art Regisseur. Alle
Mitglieder des Chores waren Laien im Gegensatz zu den
Berufsschauspielern, und mussten wie die ▪
Choregen auch Bürger
der Polis sein. Die Stars unter den Berufsschauspielern durften
durchaus von außerhalb kommen.
Die ausschließlich männlichen
Choreuten und Schauspieler (nur Männer besaßen das Bürgerrecht)
studierten in monatelangen Proben,
für deren Teilnahme sie eine Art Aufwandsentschädigung von den
betuchten, antiken "Produzenten", den ▪
Choregen, erhielten,
die Gesänge und Tänze ein. Bei der Aufführung während der ▪
Dionysien waren auch Frauen und Kinder und sogar Sklaven als Zuschauer
zugelassen, so dass die Stücke vor der Kulisse tausender
Zuschauer und Zuschauerinnen vorgeführt
wurden.

Die Orchestra als Auftrittsraum des
Chores
Die Architektur des griechischen
Freilufttheaters stellte bestimmte Raumelemente in den Dienst
der Inszenierung des Chores.
Der Chor betrat die "Bühne" durch
die beiden seitlich gelegenen mächtigen Parodostore,
um auf seinen Auftrittsbereich, die kreisrunde oder
halbkreisförmige
Orchestra zu gelangen. Und durch die
gleichen Tore ging er am Ende, während des Exodos, wieder ab.
Der Ort, wo die Schauspieler spielten (Logeion), lag nur ein
wenig höher.
Die Inszenierung des Chores
Schon allein die Theaterarchitektur
mit den für die Auftritte und Abgänge des Chores vorgesehenen
mächtigen Parodostoren unterstrich die große Bedeutung des
Chores und machte den ohnehin spektakulären Ein- und Auszug des
Chores besonders effektvoll. Manchmal wurde der Chor für
bestimmte dramaturgische Zwecke in Chor und Gegenchor oder
auch anders untergliedert (z. B. Drittelchöre).
In der Orchestra war der Chor während der
gesamten Aufführung stets auf der Bühne präsent, dort sprach, sang und tanzte
er. Während des Spiels trugen auch die Choreuten oft
typisierende ▪ Masken, um eine
"zeichenhafte Identität" (ebd.)
anzunehmen, die auch noch die Zuschauer erkennen konnten, die
weitab von der Bühne in den oberen Rängen der Theater zusahen
und wohl kaum hören konnten, was da unten gesprochen und
gesungen wurde. Und, nur so am Rande: Digitale
Texteinblendungen, wie wir sie heute bei Open-Air-Opern kennen,
waren ja schließlich noch nicht erfunden.
Der Einzug des Chores in die
Orchestra, dramaturgisch der Parodos, durch eines der beiden
danach benannten seitlichen Tore war ebenso eine Tanzaufführung
wie der Auszug des Chores (Exodos) nach der Schlussszene des
Dramas. Beide Teile der episodischen Struktur der Tragödie
gehörten gewiss zu den Vorführungen in und um die Orchestra
herum, die den größten Eindruck auf die Zuschauer machten.
Das lag aber nicht nur an den
Tänzen, sondern auch der Tatsache, dass die Choreuten allesamt
Bürger der Polis waren und der Chor in der Tragödie meistens
einen "Blick »von außen«" (Brauneck
2012, S.38) auf das Geschehen hatte. Zudem stimmten die
Raisonnements und Kommentare, die der Chor im Monolog oder im
Dialog mit den handelnden Figuren abgab, im Allgemeinen mit den
Sichtweisen überein, die auch das Publikum einnahm.
Ebenso wichtig war aber auch, dass
der handelnde und tragisch scheiternde Heros ihnen wie als
mythische Gestalt aus einer anderen Zeitordnung "von
Götterwillkür und blinder Schicksalsfügung" (ebd.)
erschien, der ihnen "im Grunde fremd"
(ebd., S.44) war, aber dessen ungeachtet eine
"Projektionsfläche"
(ebd., S.46) anbot, mit dem er durch den "Blick in das
Chaos" der fiktionalen Welt des Theaters "das politische und
moralische Selbstverständnis"
(ebd.) der demokratisch verfassten Polis überprüfen konnte.
Und: Auf diese Weise konnten die Zuschauer und Zuschauerinnen
sich der Werten und der Rationalität ihrer eigenen
gesellschaftlichen und politischen Ordnung immer wieder aufs
Neue versichern. Dem grundlegenden Wirkungsmodell der Tragödie,
den Zuschauer durch mit eine besonderen Kombination von
"spezifischer Lust und Freude" (Schadewaldt
1970, S. 22, zit. n.
ebd.,
S.35) in einem als ▪
Katharsis bezeichneten "ganzheitlich verstandenen
Reinigungsprozess, der seelische Phänomene einschließt" (ebd.),
von den durch die tragische Handlung erregten Affekte wieder zu
befreien, tat dies freilich keinen Abbruch.
Die
Tänze, die der Chor, aber auch die Schauspieler, in der Tragödie
aufführten, waren stets den gesprochenen Worten (Logos)
untergeordnet, sie waren also keine unterhaltenden Tanzeinlagen,
auch wenn davon auszugehen ist, dass insbesondere das riesige
Publikum auf den oberen Rängen, weit ab vom Schuss wie man sagt,
vom gesprochenen Wort da unten ohnehin wenig mitbekommen hat und
damit wohl nur Zu-Schauen, statt auch Zu-hören konnte. Tanz und
Musik, das waren sicherlich die Schaueinlagen, die ihren
Bedürfnissen am ehesten entgegenkamen.
Was und wie der Chor tanzte, hing
dabei von der Sprache, ihren Ausdrucksformen beim Sprechen ab
und vor allem davon, welche geistige und psychische Wirkung man
dem Tanz im Zusammenspiel mit seiner musikalischen Begleitung
durch den zweirohrigen »Aulos,
einem nur für den Chor vorgesehenen »Rohrblattinstrument,
geben wollte. Man glaubte nämlich, dass bestimmte Tonarten,
Tonlagen und Rhythmen ganz bestimmte affektive Wirkungen hätten.
Bei der Tragödie und ihren von Trauer und Pathos gezeichneten
Heroen sollten daher tiefe Tonlagen verwendet werden. (ebd.,
S.32)
Für den Chor war Tanz aber nicht nur
beim Einzug und Auszug aus der Orchestra besonders wichtig. Auch
in der Kommunikation zwischen Chorführer und Chor kam es immer
wieder zu einem Wechselspiel zwischen Gesang und Tanz und, wenn
die Klage- und Trauerdialoge von Chor und Schauspieler
dargeboten wurden, rhythmisierte man diese sehr und trug sie
quasi tanzend, meistens auch mit einem lebhaften,
ausdrucksstarken und weithin im Rund sichtbaren Gebärdenspiel
vor (vgl.
ebd.,
S.33). Erst im Laufe der weiteren Tragödienentwicklung,
wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem
zunehmenden dramaturgischen Bedeutungsverlust des Chores,
wurde der Tanz eine eher situationsunabhängige Darbietung
mit zunehmender Virtuosität, die den Vorrang des gesprochenen
Wortes (Logos) wohl hinter sich ließ.
Andere, insgesamt dynamischere und von grotesken
Köperverrenkungen u. ä. mehr gekennzeichnete Tänze kamen
hingegen in den nach der Aufführung einer
Tragödientetralogie
vorgeführten »Satyrspielen
zum Zuge, denen die Aufgabe zufiel, dem Publikum nach all dem
tragischen Geschehen auf der Bühne, wieder "eine
burlesk-verspielte, optimistische Sicht auf die Welt der Heroen
und Götter" (ebd.,
S.39) zu vermitteln, durch Darbietungen, die dem Publikum einfach nur Spaß machen
und Entspannung bringen sollten. Von den Komödientänzen gar nicht
zu reden, die viel spektakulärer als die Tragödientänze waren,
dazu oft den Charakter situationsentbundener und aus der
Handlung herausgelöster Tanzeinlagen hatten und mit ihren
erotischen, frivol und anstößig geltenden Tänzen wie dem
allseits beliebten »Cordax
mit seinen heftigen fast obszön wirkenden Hüftbewegungen die
Aufmerksamkeit des Zuschauers auf ganz andere Dinge zu lenken
pflegten. Heute werden der spanische »Fandango
oder auch die »Tarantella
damit als moderne Ableger in Verbindung gebracht. In den "sexy
Dancemoves" der Musikvideoszene des digitalen Zeitalters lebt
der Cordax aber in jedem Fall fort.
Aristoteles, der Chor, der Tanz und die Schauspieler
Ob und inwieweit der Chor sich als Mithandelnder in das
dramatische Geschehen eingebracht hat, wie es
»Aristoteles
(384-322 v. Chr.)
in seiner »Poetik
fordert, hängt sicherlich von Stück zu
Stück ab und hat sich im Zuge der Entwicklung verändert.
Je mehr sich die
Handlung der Tragödien auf die Wechselrede der Schauspieler
verlagerte, desto mehr wurde der Chor ohnehin in die
Rolle eines mehr oder weniger passiven Beobachters gedrängt,
ohne damit, so lässt sich vermuten, seine eingangs erwähnte
Brückenfunktion zum
archaisch-kultisch-rituellen Ursprung ganz zu verlieren.
Da dieser Prozess weg vom Chor, hin zu den Schauspielern in
der Theaterrealität zu Lebzeiten von Aristoteles längst
angekommen war, schenkt Aristoteles wohl auch dem Chor, seiner
Funktion und seiner Inszenierung vergleichsweise wenig
Aufmerksamkeit. Neben seiner für den ▪
dramaturgischen Aufbau mit
Parodos, Stasimon, Exodos und Kommons strukturgebenden
Bedeutung, betont er vor allem, dass der Chor in der Tragödie
nicht nicht situationsentbunden agieren solle. Dazu heißt es in
seiner »Poetik
(ca.335 v. Chr.) ausdrücklich: "Den Chor muss man behandeln wie
einen Schauspieler. Er soll ein Teil des Ganzen sein und
mithandeln - nicht wie bei
Euripides,
sondern wie bei
Sophokles." (Aristoteles,
Poetik, Kap. 18, S.59)
Dem gestischen Spiel der Schauspieler aber stand »Aristoteles
(384-322 v. Chr.), da er der Überzeugung war, dass gute Tragödien
auch beim Lesen dieselbe Wirkung hätten wie die inszenierten und
damit der schauspielerischen Darstellung gar nicht bedürften
(vgl. Aristoteles,
Poetik, 26. Kap., S.25, S.95), mehr als skeptisch
gegenüber.
Der Vorrang der Handlung, des Mythos, wie sie von ihm
bezeichnet wurde, gegenüber den Charakteren, die diese
Handlungen darstellen
(vgl. ebd.,
S.21ff.) - eine der grundlegenden Konzepte seiner ▪
Tragödientheorie - wird
darin deutlich sichtbar. Dabei ist er sich allerdings auch der
Tatsache bewusst, dass die Inszenierung der Tragödie mit dem
darstellenden Spiel und der musikalischen Elemente zwar die
größte Publikumswirkung besaßen, aber mit der eigentlichen
tragischen Kunstform nichts zu tun hatten.
Mit diesen Überlegungen verwehrte er sich auch gegen die
These, dass die Epik, weil sie ohne jede Inszenierung auskomme,
deshalb auf ein gebildeteres Publikum ziele, als die Tragödie,
die mit ihrer mimetischen Kunst nur funktioniere, wenn die
Schauspieler, "in der Annahme, das Publikum könne nicht folgen,
wenn sie nicht von sich aus etwas hinzutun, in ständiger
Bewegung"
(ebd.)
seien.
Wer daraus ableite, die Tragödie bediene deshalb den
"vulgären"
(ebd.)
Publikumsgeschmack und sei aus diesem Grunde auch von geringerem
Wert als die Epik, verkenne dazu, dass es im Grunde nur bei
schlechten Schauspielern und Tänzern zu "Übertreibungen in den
Ausdrucksmitteln"
(ebd., S.97)
komme, ohne dass dies von der Tragödie als solcher herrühre.
Spielexterne und
spielinterne Episierung des Dramas durch den Chor
Darüber hinaus
kann der Chor aber auch als "Stellvertreter des Autors" (Asmuth
62004, S.59) fungieren, sofern er "als
Figurenkollektiv außerhalb der inneren Spielebene bleibt, die
Situationen des Spiels kommentiert, ohne in sie involviert zu
sein." (Pfister
1977, S.110). Diese "Episierung durch spieltexterne Figuren"
(ebd.,
S.109) wird insbesondere in Prologen und Epilogen sichtbar.
Meistens
allerdings ist er, wie auch in der ▪
Dramentheorie von Aristoteles
normativ gefordert,
in die Handlung eingebunden.
Allerdings
"(ginge) ein Chor, der streng diesen Forderungen entspricht,
(...) völlig in der inneren Spielebene als agierende Figur auf,
die sich nur in ihrer Kollektivität von den anderen Figuren
unterscheidet." (Pfister
1977, S.115). Dieses Mithandeln ist aber, wie
Pfister (1977, S.115) auch an der Tragödie »Oidipus
Tyrannos von »Sophokles
(497/496 - 406/405 v. Chr.) zeigt "fast immer auf die
Funktion eines interessierten, meist passiv reagierenden oder
allenfalls in Rat, Warnung oder Gebet verbal agierenden
Beobachters (beschränkt)" und kann sich stets wieder vom
dramatischen Geschehen distanzieren. Diese Fähigkeit zur
Einnahme einer situationsabstrakten Haltung ist damit stets der
mögliche Ansatzpunkt für eine "epische Vermittlungsfunktion" (ebd.)
des Chores. Selbst im Rahmen eines Dramas kann der Chor zwischen
einer spieltexternen und spieltinterenen Episierung variieren.
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Theaterformen im Überblick
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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