"Über naive und sentimentalische Dichtung ist eine
dichtungstheoretische Abhandlung von Friedrich Schiller aus dem Jahre
1795. In ihr beschreibt Schiller verschiedene Typen dichterischen
Weltverhältnisses.
Die Schrift ist eingebettet in eine Geschichtsphilosophie (Natur -
Kultur - Ideal) und Kulturkritik. Die Gegenwart, das Stadium der Kultur,
wird als kritisch und überwindenswert dargestellt. Wie in den
Ästhetischen Briefen kreisen Schillers Überlegungen um die Frage, ob in
der Kunst ein Potential zur Überwindung des Ganzheitlichkeitsverlusts
und der Naturwidrigkeit des gegenwärtigen Zeitalters bereitliegt. Den
angestrebten Zustand nennt Schiller „Ideal“. Die Instanzen, in denen es
zur Darstellung gelangt, sind die „Natur“ in der Form des „Naiven“ und
die „sentimentalische“ Dichtung.
Im Fortgang der Schrift zeigt sich, dass das Naive in der Gegenwart
nicht wiederholbar ist – eigentlich ist es selbst schon eine Projektion
des sentimentalischen Bewusstseins –, auf der anderen Seite die
sentimentalische Dichtung unter den schwierigen Bedingungen der
Gegenwart letztlich nicht gelingen kann. Dies gilt für alle drei
Unterarten der sentimentalischen Dichtung – Satire, Elegie und Idylle.
Selbst die Idylle, die den „Vorschein“ des Ideals leisten könnte,
scheitert daran, dass in ihrer konkreten Darstellung „die Wirklichkeit
mit ihren Schranken und die Kultur mit ihrer Künstelei“ zutage tritt.
Sie kann die Abweichung zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht aufheben,
sondern nur reproduzieren." (aus:
Wikipedia, 9.9.2014)
"Es gibt Augenblicke in
unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren,
Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten
des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut,
auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von
beiden kann oft das Gegenteil statt finden), sondern bloß weil sie
Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder
feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt
dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich
bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in
künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der
einfältigen Natur überrascht wird. Dieses nicht selten zum Bedürfnis
erhöhte Interesse ist es, was vielen unserer Liebhabereien für Blumen
und Thierse, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und
seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Altertums u. dgl. zum
Grunde liegt; Vorausgesetzt, dass weder Affektation, noch sonst ein
zufälliges Interesse dabei im Spiele sei. Diese Art des Interesse an der
Natur findet aber nur unter zwei Bedingungen statt. Fürs erst ist es
durchaus nötig, dass der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur
sei oder doch von uns dafür gehalten werde; zweitens, dass er (in
weitester Bedeutung des Wortes) naiv sei, d. h., dass die Natur mit der
Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme. Sobald das Letzte zu dem
Ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.
Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts andres, als das
freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die
Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen.
Diese Vorstellung ist schlechterdings nötig, wenn wir an dergleichen
Erscheinungen Interesse nehmen sollten. Könnte man einer gemachten Blume
den Schein der Natur mit der vollkommensten Täuschung geben, könnte man
die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur höchsten Illusion
treiben, so würde die Entdeckung, dass es Nachahmung sei, das Gefühl, von
dem die Rede ist, gänzlich vernichten.1
Daraus erhellet, dass diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein
ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee
vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es
sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Form. Was hätte auch eine
unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooster Stein, das Gezwitscher
der Vögel, das Summen der Bienen u. s. w. für sich selbst so Gefälliges
für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es
sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee,
was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende
Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen
Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.
Sie
sind, was wir waren, sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir
waren Natur, wie sie, und
unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der
Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also
zugleich Darstellung unsrer verlornen Kindheit, die uns ewig das
Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen.
Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale,
daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.
Aber ihr Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk
ihrer Wahl ist. Sie gewähren uns also die ganz eigene Lust, dass sie,
ohne uns zu beschämen, unsere Muster sind. Eine beständige
Göttererscheinung, umgeben sie uns, aber mehr erquickend als blendend.
Was ihren Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner
Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was
ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt. Wir sind frei, und sie sind
notwendig; wir wechseln, sie bleiben Eins. Aber nur, wenn beides sich
mit einander verbindet – wenn der Wille das Gesetz der
Notwendigkeit
frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel
behauptet, geht das Göttliche oder das Ideale hervor.
Wir erblicken
in
ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefordert sind
zu ringen, und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals erreichen, doch
in einem unendlichen Fortschritte zu nähern hoffen dürfen. Wir erblicken
in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt
niemals, wie das Vernunftlose, oder nicht anders, als indem sie unsern
Weg gehen, wie die Kindheit, teilhaftig werden können. Sie verschaffen
uns daher den süßesten Genus unsrer Menschheit als Idee, ob sie uns
gleich in Rücksicht auf jeden bestimmten Zustand unserer Menschheit
notwendig demütigen müssen.
Da sich dieses Interesse für Natur auf eine Idee gründet, so kann es
sich nur in Gemütern zeigen, welche für Ideen empfänglich sind, d. h.
in moralischen.
Bei weitem die mehresten Menschen affektieren es bloß,
und die Allgemeinheit diese sentimentalischen Geschmacks zu unsern
Zeiten, welcher sich, besonders seit der Erscheinung gewisser Schriften,
in
empfindsamen Reisen, dergleichen Gärten, Spaziergängen und andern
Liebhabereien dieser Art äußert, ist noch ganz und gar kein Beweis für
die Allgemeinheit dieser Empfindungsweise. Doch wird die Natur auch auf
den Gefühllosesten immer etwas von dieser Wirkung äußern, weil schon die
allen Menschen gemeine Anlage zum Sittlichen dazu hinreichend ist und
wir alle ohne Unterschied, bei noch so großer Entfernung unserer
Taten
von der Einfalt und Wahrheit der Natur, in der Idee dazu hingetrieben
werden. Besonders stark und am allgemeinsten äußert sich diese
Empfindsamkeit für Natur auf Veranlassung solcher Gegenstände, welche in
einer engern Verbindung mit uns stehen und uns den Rückblick auf uns
selbst und die Unnatur in uns näher legen, wie z. B. bei Kindern und
kindlichen Völkern. Man irrt, wenn man glaubt, dass es bloß die
Vorstellung der Hilflosigkeit sei, welche macht, dass wir in gewissen
Augenblicken mit so viel Rührung bei Kindern verweilen. Das mag bei
denjenigen vielleicht der Fall sein, welche der Schwäche gegenüber nie
etwas anders als ihre eigene Überlegenheit zu empfinden pflegen. Aber
das Gefühl, von dem ich rede (es findet nur in ganz eigenen moralischen
Stimmungen statt und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches
die fröhliche Tätigkeit der Kinder in uns erregt), ist eher
demütigend
als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn ja ein Vorzug dabei in
Betrachtung kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite.
Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das
Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unsers
Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben,
unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und
zu seiner reinen Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung, und
unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer
gewissen Wehmut gemischt, als dass sich diese Quelle desselben verkennen
ließe. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die
Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener
zurückbleibt.
Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals,
nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also
keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist
ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft,
seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von
Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger
Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee
jede Größe der Erfahrung vernichtet, und der, was er auch in der
Beurteilung des Verstandes verlieren mag, in der Beurteilung der
Vernunft wieder in reichem Maße gewinnt.
Eben aus diesem
Widerspruch zwischen dem
Urteile der Vernunft und des
Verstandes geht die ganz eigene
Erscheinung des gemischten Gefühls
hervor, welches das Naive der Denkart in uns erregt. Es verbindet die
kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die letztere gibt es dem
Verstand eine Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsere
(theoretische) Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache
haben, zu glauben, dass die kindische Einfalt zugleich eine kindliche
sei, dass folglich nicht Unverstand, nicht Unvermögen, sondern eine
höhere (praktische) Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit, die
Quelle davon sei, welches die Hilfe der Kunst aus innerer Größe
verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott
über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir
fühlen uns genötigt, den Gegenstand zu achten, über den wir vorher
gelächelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst
werfen, uns zu beklagen, dass wir demselben nicht ähnlich sind. So
entsteht die ganz eigene Erscheinung eines Gefühls, in welchem
fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmut zusammenfließen
.2 Zum
Naiven wird erfordert, dass die Natur über die Kunst den Sieg davon
trage,3 es geschehe dies nun wider Wissen und Willen der Person
oder mit völligem Bewusstsein derselben. In dem ersten Fall ist es das
Naive der Überraschung und belustigt, in dem andern ist es das Naive
der Gesinnung und rührt.
Bei dem Naiven der Überraschung muss die Person moralisch fähig sein,
die Natur zu verleugnen; bei dem Naiven der Gesinnung darf sie es nicht
sein, doch dürfen wir sie uns nicht als physisch unfähig dazu denken,
wenn es als naiv auf uns wirken soll. Die Handlungen und Reden der
Kinder geben uns daher auch nur so lange den reinen Eindruck des Naiven,
als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern und überhaupt nur
auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns
Rücksicht nehmen.
Das Naive ist eine
Kindlichkeit, wo sie nicht mehr
erwartet wird, und kann eben deswegen der wirklichen Kindheit in
strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden.
In beiden Fällen aber, beim Naiven der Überraschung, wie bei dem der
Gesinnung, muss die Natur Recht, die Kunst aber Unrecht haben.
Erst durch diese letzte Bestimmung wird der Begriff des Naiven
vollendet. Der Affekt ist auch Natur, und die Regel der Anständigkeit
ist etwas Künstliches; dennoch ist der Sieg des Affekts über die
Anständigkeit nichts weniger als naiv. Siegt hingegen derselbe Affekt
über die Künstelei, über die falsche Anständigkeit, über die
Verstellung, so tragen wir keine Bedenken, es naiv zu nennen.4
Es wird also erfordert, dass die Natur nicht durch ihre blinde Gewalt als
dynamische, sondern dass sie durch ihre Form als moralische Größe, kurz,
dass sie nicht als Notdurft, sondern als innere Notwendigkeit über die
Kunst triumphiere. Nicht die Unzulänglichkeit, sondern die
Unstatthaftigkeit der letztern muss der erstern den Sieg verschafft
haben, denn jene ist Mangel, und nichts, was aus Mangel entspringt, kann
Achtung erzeugen.
Zwar ist es bei dem Naiven der
Überraschung immer die
Übermacht des Affekts und ein Mangel an Besinnung, was die Natur
bekennen macht; aber dieser Mangel und jene Übermacht machen das Naive
noch gar nicht aus, sondern geben bloß Gelegenheit, dass die Natur ihrer
moralischen Beschaffenheit, das heißt, dem Gesetze der
Übereinstimmung
ungehindert folgt.
Das Naive der Überraschung kann nur dem Menschen, und zwar dem Menschen
nur, insofern er in diesem Augenblicke nicht mehr reine und unschuldige
Natur ist, zukommen. Es setzt einen Willen voraus, der mit dem, was die
Natur auf ihre eigene Hand taut, nicht übereinstimmt. Eine solche Person
wird, wenn man sie zur Besinnung bringt, über sich selbst erschrecken;
die naiv gesinnte hingegen wird sich über die Menschen und über ihr
Erstaunen verwundern. Da also hier nicht der persönliche und moralische
Charakter, sondern bloß der durch den Affekt freigelassene natürliche
Charakter die Wahrheit bekennt, so machen wir dem Menschen aus dieser
Aufrichtigkeit kein Verdienst, und unser Lachen ist verdienter Spott,
der durch keine persönliche Hochschätzung desselben zurückgehalten wird.
Weil es aber doch auch hier die Aufrichtigkeit der Natur ist, die durch
den Schleier der Falschheit hindurchbricht, so verbindet sich eine
Zufriedenheit höherer Art mit der Schadenfreude, einen Menschen ertappt
zu haben; denn die Natur im Gegensatz gegen die Künstelei und die
Wahrheit im Gegensatz gegen den Betrug muss jederzeit Achtung erregen.
Wir empfinden also auch über das Naive der Überraschung ein wirklich
moralisches Vergnügen, obgleich nicht über einen moralischen Charakter.5
Bei dem Naiven der Überraschung achten wir zwar immer die Natur, weil
wir die Wahrheit achten müssen; bei dem Naiven der Gesinnung achten wir
hingegen die Person und genießen also nicht bloß ein moralisches
Vergnügen, sondern auch über einen moralischen Gegenstand. In dem einen
wie in dem andern Falle hat die Natur Recht, dass sie die Wahrheit sagt;
aber in dem letztern Fall hat die Natur nicht bloß Recht, sondern die
Person hat auch Ehre. In dem ersten Falle gereicht die Aufrichtigkeit
der Natur der Person immer zur Schande, weil sie unfreiwillig ist; in
dem zweiten gereicht sie ihr immer zum Verdienst, gesetzt auch, dass
dasjenige, was sie aussagt, ihr Schande brächte.
Wir schreiben einem Menschen eine naive Gesinnung zu, wenn er in seinen
Urteilen von den Dingen ihre gekünstelten und gesuchten Verhältnisse
übersieht und sich bloß an die einfache Natur hält. Alles, was innerhalb
der gesunden Natur davon geurteilt werden kann, fordern wir von ihm und
erlassen ihm schlechterdings nur das, was eine Entfernung von der Natur,
es sei nun im Denken oder im Empfinden, wenigstens Bekanntschaft
derselben voraussetzt.
Wenn ein Vater seinem Kinde erzählt, dass dieser oder jener Mann vor
Armut verschmachte, und das Kind hingeht und dem armen Mann seines
Vaters Geldbörse zuträgt, so ist diese Handlung naiv; denn die gesunde
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo die gesunde Natur
herrschte, würde es vollkommen recht gehabt haben, so zu verfahren. Es
sieht bloß auf das Bedürfnis und auf das nächste Mittel, es zu
befriedigen; eine solche Ausdehnung des Eigentumsrechtes, wobei ein
Teil der Menschen zu Grunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht
gegründet. Die Handlung des Kindes ist also eine Beschämung der
wirklichen Welt, und das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen,
welches es über jene Handlung empfindet.
Wenn ein Mensch ohne Weltkenntnis, sonst aber von gutem Verstande, einem
andern, der ihn betrügt, sich aber geschickt zu verstellen weiß, seine
Geheimnisse berichtet und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die
Mittel leiht, ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir lachen ihn
aus, aber können uns doch nicht erwehren, ihn deswegen hochzuschätzen.
Denn sein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit seiner
eigenen Gesinnungen; wenigstens ist er nur insoweit naiv, als dieses der
Fall ist.
Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Eigenschaft verdorbener
Menschen sein, sondern nur Kindern und kindlich gesinnten Menschen
zukommen. Diese Letztern handeln und denken oft mitten unter den
gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen aus
eigener schöner Menschlichkeit, dass sie es mit einer verderbten Welt zu
tun haben, und betragen sich selbst an den Höfen der Könige mit einer
Ingenuität und Unschuld, wie man sie nur in einer Schäferwelt findet.
Es ist übrigens gar nicht so leicht, die kindische Unschuld von der
kindlichen immer richtig zu unterscheiden, indem es Handlungen gibt,
welche auf der äußersten Grenze zwischen beiden schweben, und bei denen
wir schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Einfältigkeit
belachen oder die edle Einfalt hochschätzen sollen. Ein sehr
merkwürdiges Beispiel dieser Art findet man in der Regierungsgeschichte
des Papstes Adrian VI., die uns Herr Schröckh mit der ihm eigenen
Gründlichkeit und pragmatischen Wahrheit beschrieben hat. Dieser Papst,
ein Niederländer von Geburt, verwaltete das Pontifikat in einem der
kritischsten Augenblicke für die Hierarchie, wo eine erbitterte Partei
die Blößen der römischen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte und die
Gegenpartei im höchsten Grad interessiert war, sie zuzudecken. Was der
wahrhaft naive Charakter, wenn ja ein solcher sich auf den Stuhl des
heiligen Petrus verirrte, in diesem Falle zu tun hatte, ist keine
Frage; wohl aber, wie weit eine solche Naivität der Gesinnung mit der
Rolle eines Papstes verträglich sein möchte. Dies war es übrigens, was
die Vorgänger und die Nachfolger Adrians in die geringste Verlegenheit
setzte. Mit Gleichförmigkeit befolgten sie das einmal angenommene
römische System, überall nichts einzuräumen. Aber Adrian hatte wirklich
den geraden Charakter seiner Nation und die Unschuld seines ehemaligen
Standes. Aus der engen Sphäre des Gelehrten war er zu seinem erhabenen
Posten emporgestiegen und selbst auf der Höhe seiner neuen Würde jenem
einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die Missbräuche in der Kirche
rührten ihn, und er war viel zu redlich, öffentlich zu dissimulieren,
was er im Stillen sich eingestand. Dieser Denkart gemäß ließ er sich in
der Instruktion, die er seinem Legaten nach Deutschland mitgab, zu
Geständnissen verleiten, die noch bei keinem Papste erhört gewesen waren
und den Grundsätzen dieses Hofes schnurgerade zuwiderliefen. »Wir wissen
es wohl,« hieß es unter andern, dass an diesem heiligen Stuhl schon seit
mehreren Jahren viel Abscheuliches vorgegangen; kein Wunder, wenn sich
der kranke Zustand von dem Haupt auf die Glieder, von dem Papst auf die
Prälaten fortgeerbt hat. Wir alle sind abgewichen, und schon seit lange
ist Keiner unter uns gewesen, der etwas Gutes getan hätte, auch nicht
Einer.« Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten, in seinem Namen zu
erklären, »dass er, Adrian, wegen dessen, was vor ihm von den Päpsten
geschehen, nicht dürfe getadelt werden, und dass dergleichen
Ausschweifungen, auch da er noch in einem geringen Stande gelebt, ihm
immer missfallen hätten u. s. f.« Man kann leicht denken, wie eine solche
Naivität des Papstes von der römischen Klerisei mag aufgenommen worden
sein; das Wenigste, was man ihm Schuld gab, war, dass er die Kirche an
die Ketzer verraten habe. Dieser höchst unkluge Schritt des Papstes
würde indessen unserer ganzen Achtung und Bewunderung wert sein, wenn
wir uns nur überzeugen könnten, dass er wirklich naiv gewesen, d. h.,
dass
er ihm bloß durch die natürliche Wahrheit seines Charakters ohne alle
Rücksicht auf die möglichen Folgen abgenötigt worden sei, und dass er
ihn nicht weniger getan haben würde, wenn er die begangene
Unschicklichkeit in ihrem ganzen Umfang eingesehen hätte. Aber wir haben
einige Ursache, zu glauben, dass er diesen Schritt für gar nicht so
unpolitisch hielt und in seiner Unschuld so weit ging, zu hoffen, durch
seine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas sehr Wichtiges für den
Vorteil seiner Kirche gewonnen zu haben. Er bildete sich nicht bloß
ein, diesen Schritt als redlicher Mann tun zu müssen, sondern, ihn auch
als Papst verantworten zu können, und indem er vergaß, dass das
künstlichste aller Gebäude schlechterdings nur durch eine fortgesetzte
Verleugnung der Wahrheit erhalten werden könnte, beging er den
unverzeihlichen Fehler, Verhaltungsregeln, die in natürlichen
Verhältnissen sich bewährt haben möchten, in einer ganz
entgegengesetzten Lage zu befolgen. Dies verändert allerdings unser
Urteil sehr; und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus dem
jene Handlung floss, unsere Achtung nicht versagen können, so wird diese
letztere nicht wenig durch die Betrachtung geschwächt, dass die Natur an
der Kunst und das Herz an dem Kopf einen zu schwachen Gegner gehabt
haben.
Naiv muss jedes wahre
Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivität allein macht es zum
Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im
Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der
Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur
oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und
sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchen, wenn
es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie
unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb
des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern,
ohne über sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den
größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen
Augenblicke haben, wo die schützende Natur sie verlässt, weil die Macht
des Beispiels sie hinreißt oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit sie
verleitet.
Die verwickeltsten Aufgaben muss das Genie mit anspruchloser Simplizität
und Leichtigkeit lösen; das Ei des Columbus gilt von jeder genialischen
Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, dass es durch
Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach
erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine
Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles, was die gesunde Natur
taut, ist göttlich), seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für
alle Geschlechter der Menschen.
Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt, zeigt
es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist schamhaft,
weil die Natur dies immer ist; aber es ist nicht dezent, weil nur die
Verderbnis dezent ist. Es ist verständig, denn die Natur kann nie das
Gegenteil sein; aber es ist nicht listig, denn das kann nur die Kunst
sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen treu, aber nicht
sowohl, weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bei allem Schwanken
immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das alte Bedürfnis
zurückbringt. Es ist bescheiden, ja blöde, weil das Genie immer sich
selbst ein Geheimnis bleibt; aber es ist nicht ängstlich, weil es die
Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir wissen wenig von dem
Privatleben der größten Genies, aber auch das Wenige, was uns z. B. von
Sophokles, von Archimed, von Hippokrates und aus neuern Zeiten von
Ariost, Dante und Tasso, von Raphael, von Albrecht Dürer, Cervantes,
Shakespeare, von Fielding, Sterne und Andern aufbewahrt worden ist,
bestätigt diese Behauptung.
Ja, was noch weit mehr Schwierigkeit zu haben scheint, selbst der große
Staatsmann und Feldherr werden, sobald sie durch ihr Genie groß sind,
einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an
Epaminondas und Julius Cäsar, unter den Neuern nur an Heinrich IV. von
Frankreich, Gustav Adolph von Schweden und den Zar Peter den Großen
erinnern. Der Herzog von Marlborough, Turenne, Vendome zeigen uns alle
diesen Charakter. Dem andern Geschlecht hat die Natur in dem naiven
Charakter seine höchste Vollkommenheit angewiesen. Nach nichts ringt die
weibliche Gefallsucht so sehr als nach dem Schein des Naiven; Beweis
genug, wenn man auch sonst keinen hätte, dass die größte Macht des
Geschlechts auf dieser Eigenschaft beruht. Weil aber die herrschenden
Grundsätze bei der weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem
Streit liegen, so ist es dem Weibe im Moralischen eben so schwer als dem
Mann im Intellektuellen, mit den Vorteilen der guten Erziehung jenes
herrliche Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die
mit eine geschickten Betragen für die große Welt dieses Naive der Sitten
verknüpft, ist eben so hochachtungswürdig, als der Gelehrte, der mit der
ganzen Strenge der Schule genialische Freiheit des Denkens verbindet.
Aus der naiven Denkart fließt notwendiger Weise auch ein naiver
Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen, und er ist das wichtigste
Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drück das Genie seine
erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche aus dem
Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor Irrtum bange,
seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik
schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu sein, viele Worte
macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den
Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt,
so gibt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen
Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freien
Umriss.
Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt,
so springt hier wie durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem
Gedanken hervor und ist so sehr Eins mit demselben, dass selbst unter der
körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art
des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und
wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend
lässt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu
verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und
geistreich nennt.
Frei und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt sich
die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich ist man
im gesellschaftlichen Leben von der Simplizität und strengen Wahrheit
des Ausdrucks in demselben Verhältnis, wie von der Einfalt der
Gesinnungen, abgekommen, und die leicht zu verwundende Schuld, so wie
die leicht zu verführende Einbildungskraft, haben einen ängstlichen
Anstand notwendig gemacht. Ohne falsch zu sein, redet man öfters
anders, als man denkt; man muss Umschweife nehmen, um Dinge zu sagen, die
nur einer kranken Eigenliebe Schmerz bereiten, nur einer verderbten
Phantasie Gefahr bringen können. Eine Unkunde dieser konventionellen
Gesetze, verbunden mit natürlicher Aufrichtigkeit, welche jede Krümme
und jeden Schein von Falschheit verachtet (nicht Rohheit, welche sich
darüber, weil sie ihr lästig sind, hinwegsetzt), erzeugen ein Naives des
Ausdrucks im Umgang, welches darin besteht, Dinge, die man entweder gar
nicht oder nur künstlich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Namen und
auf dem kürzesten Wege zu benennen. Von der Art sind die gewöhnlichen
Ausdrücke der Kinder. Sie erregen Lachen durch ihren Kontrast mit den
Sitten, doch wird man sich immer im Herzen gestehen, dass das Kind Recht
habe.
Das Naive der Gesinnung kann zwar, eigentlich genommen, auch nur dem
Menschen als einem der Natur nicht schlechterdings unterworfenen Wesen
beigelegt werden, obgleich nur insofern, als wirklich noch die reine
Natur aus ihm handelt; aber durch einen Effekt der poetisierenden
Einbildungskraft wird es öfters von dem Vernünftigen auf das
Vernunftlose übertragen. So legen wir öfters einem Thierse, einer
Landschaft, einem Gebäude, ja, der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen
die Willkür und die phantastischen Begriffe des Menschen, einen naiven
Charakter bei. Dies erfordert aber immer, dass wir dem Willenlosen in
unsern Gedanken einen Willen leihen und auf die strenge Richtung
desselben nach dem Gesetz der Notwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit
über unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freiheit und über die
in unserm Handeln vermisste sittliche Harmonie führt leicht eine solche
Stimmung herbei, in der wir das Vernunftlose wie eine Person anreden und
demselben, als wenn es wirklich mit einer Versuchung zum Gegenteil zu
kämpfen gehabt hätte, seine ewige Gleichförmigkeit zum Verdienst machen,
seine ruhige Haltung beneiden. Es steht uns in einem solchen Augenblicke
wohl an, dass wir das Prärogativ unserer Vernunft für einen Fluch und für
ein Übel halten und über dem lebhaften Gefühl der Unvollkommenheit
unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und
Bestimmung aus den Augen setzen.
Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere
Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im
Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit
schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir
angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören im fernen
Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme. So lange wir bloße
Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei
geworden und haben Beides verloren. Daraus entspringt eine doppelte und
sehr ungleich Sehnsucht nach der Natur, eine Sehnsucht nach ihrer
Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verlust
der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern
kann nur der moralische trauern.
Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Natur, ob deine Trägheit
nach ihrer Ruhe, ob deine beleidigte Sittlichkeit nach ihrer
Übereinstimmung schmachtet? Frage dich wohl, wenn die Kunst dich
anekelt und die Missbräuche in der Gesellschaft dich zu der leblosen
Natur in die Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubungen, ihre Lasten,
ihre Unordnungen sind, die du an ihr verabscheust? In jene muss dein Muth
sich mit Freuden stürzen, und dein Ersatz muss die Freiheit selbst sein,
aus der sie fließen. Wohl darfst du dir das ruhige Naturglück zum Ziel
in der Ferne aufstecken, aber nur jenes, welches der Preis deiner
Würdigkeit ist. Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens,
über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Verhältnisse,
über die Unsicherheit des Besitzes, über Undank, Unterdrückung,
Verfolgung; allen Übeln der Kultur musst du mit freier Resignation dich
unterwerfen, musst sie als die Naturbedingungen des Einzigguten
respektieren; nur das Böse derselben musst du, aber nicht bloß mit
schlaffen Tränen, beklagen. Sorge vielmehr dafür, dass du selbst unter
jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frei, unter jenem
launischen Wechsel beständig, unter jener Anarchie gesetzmäßig handelst.
Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außer dir, aber vor der Verwirrung
in dir; strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit;
strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den
Stillstand deiner Tätigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftlosen
beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht wert. Sie liegt hinter
dir, sie muss ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich
trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freiem
Bewusstsein
und Willen das Gesetz zu ergreifen oder rettungslos in eine bodenlose
Tiefe zu fallen.
Aber wenn du über das verlorene Glück der Natur getröstet bist, so
las
ihr Vollkommenheit deinem Herzen zum Muster dienen. Trittst du heraus zu
ihr aus deinem künstlichen Kreis, steht sie vor dir in ihrer großen
Ruhe, in ihrer naiven Schönheit, in ihrer kindlichen Unschuld und
Einfalt, dann verweile bei diesem Bilde, pflege dieses Gefühl, es ist
deiner herrlichsten Menschheit würdig. Las dir nicht mehr einfallen, mit
ihr tauschen zu wollen, aber nimm sie in dich auf und strebe, ihren
unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Prärogativ zu
vermählen und aus Beidem das Göttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich ei
eine liebliche Idylle, in der du dich selbst immer wieder findest aus
den Verirrungen der Kunst, bei der du Muth und neues Vertrauen sammelst
zum Laufe und die Flamme des Ideals, die in den Stürmen des Lebens so
leicht erlischt, in deinem Herzen von neuem entzündest.
Wenn man sich der schönen Natur erinnert, welche die alten Griechen
umgab; wenn man nachdenkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem
glücklichen Himmel mit der freien Natur leben konnte, wie sehr viel
näher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweite, seine Sitten der
einfältigen Natur lagen, und welche in treuer Abdruck derselben seine
Dichterwerke sind, so muss die Bemerkung befremden, dass man so wenige
Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neuern an
Naturszenen und an Naturcharakteren hangen können, bei demselben
antrifft. Der Grieche ist zwar im höchsten Grade genau, treu,
umständlich in Beschreibung derselben, aber doch gerade nicht mehr und
mit keinem vorzüglichern Herzensanteil, als er es auch in Beschreibung
eines Anzuges, eines Schildes, einer Rüstung, eines Hausgerätes oder
irgend eines mechanischen Produktes ist. Er scheint in seiner Liebe für
das Objekt keinen Unterschied zwischen demjenigen zu machen, was durch
sich selbst, und dem, was durch die Kunst und durch den menschlichen
Willen ist. Die Natur scheint mehr seinen Verstand und seine
Wissbegierde
als sein moralisches Gefühl zu interessieren; er hängt nicht mit
Innigkeit, mit Empfindsamkeit, mit süßer Wehmut an derselben, wie wir
Neuern. Ja, indem er sie in ihren einzelnen Erscheinungen personifiziert
und vergöttert und ihre Wirkungen als Handlungen freier Wesen darstellt,
hebt er die ruhige Notwendigkeit in ihr auf, durch welche sie für uns
gerade so anziehend ist. Seine ungeduldige Phantasie führt ihn über sie
hinweg zum Drama des menschlichen Lebens. Nur das Lebendige und Freie,
nur Charaktere, Handlungen, Schicksale und Sitten befriedigen ihn, und
wenn wir in gewissen moralischen Stimmungen der Gemüts wünschen können,
den Vorzug unserer Willensfreiheit, der uns so vielem Streit mit uns
selbst, so vielen Unruhen und Verwirrungen aussetzt, gegen die wahllose,
aber ruhige Notwendigkeit der Vernunftlosen hinzugeben, so ist, gerade
umgekehrt, die Phantasie des Griechen geschäftig, die menschliche Natur
schon in der unbeseelten Welt anzufangen und da, wo eine blinde
Notwendigkeit herrscht, dem Willen Einfluss zu geben.
Woher wohl dieser verschiedene Geist? Wie kommt, dass wir, die in allem,
was Natur ist, von den Alten so unendlich weit übertroffen werden,
gerade hier der Natur in einem höhern Grade huldigen, mit Innigkeit an
ihr hangen und selbst die leblose Welt mit der wärmsten Empfindung
umfassen können? Daher kommt es, weil die Natur bei uns aus der
Menschheit verschwunden ist und wir sie nur außerhalb dieser, in der
unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unsere
größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unserer
Verhältnisse, Zustände und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe
nach Wahrheit und Simplizität, der, wie die moralische Anlage, aus
welcher er fließet, unbestechlich und unaustilgbar in allen menschlichen
Herzen liegt, in der physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen,
die in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das Gefühl,
womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so verwandt, womit wir das
entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen.
Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der
kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn
uns jede Fußstapfe der Natur außer uns auf unsere Kindheit zurückführt.
Sehr viel anders war es mit den alten Griechen.6 Bei diesen
artete die Kultur nicht so weit aus, dass die Natur darüber verlassen
wurde. Der ganze Bau ihres gesellschaftlichen Lebens war auf
Empfindungen, nicht auf einem Machwerk der Kunst errichtet; ihre
Götterlehre selbst war die Eingebung eines naiven Gefühls, die Geburt
einer fröhlichen Einbildungskraft, nicht der grübelnden Vernunft, wie
der Kirchenglaube der neuern Nationen; da also der Grieche die Natur in
der Menschheit nicht verloren hatte, so konnte er außerhalb dieser auch
nicht von ihr überrascht werden und kein so dringendes Bedürfnis nach
Gegenständen haben, in denen er sie wieder fand. Einig mit sich selbst
und glücklich im Gefühl seiner Menschheit, musste er bei dieser als
seinem Maximum stille stehen und alles Andre derselben zu nähern bemüht
sein, wenn wir, uneinig mit uns selbst und unglücklich in unsern
Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus
derselben herauszufliehen und eine so misslungene Form aus unsern Augen
zu rücken.
Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten
hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die
Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Es
war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als
er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirten ließ, als was die
Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen
Gesellschaft diesen Gesang las. Unser Gefühl für Natur gleicht der
Empfindung des Kranken für die Gesundheit.
So wie nach und nach die Natur anfing, aus dem menschlichen Leben als
Erfahrung und als das (handelnde und empfindende) Subjekt zu
verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als
Gegenstand aufgehen.
Diejenige Nation, welche es zugleich in der Unnatur
und in der Reflexion darüber am weitesten gebracht hatte, musste zuerst
von dem Phänomen des Naiven am stärksten gerührt werden und demselben
einen Namen geben. Diese Nation waren, soviel ich weiß, die Franzosen.
Aber die Empfindung des Naiven und das Interesse an demselben ist
natürlicher Weise viel älter und datiert sich schon von dem Anfang der
moralischen und ästhetischen Verderbnis. Diese Veränderung in der
Empfindungsweise ist zum Beispiel schon äußerst auffallend im Euripides,
wenn man diesen mit seinen Vorgängern, besonders dem Aeschylus,
vergleicht, und doch war jener Dichter der Günstling seiner Zeit. Die
nämliche Revolution lässt sich auch unter den alten Historikern
nachweisen. Horaz, der Dichter eines kultivierten und verdorbenen
Weltalters, preist die ruhige Glückseligkeit in seinem Tibur, und ihn
könnte man als den wahren Stifter dieser sentimentalischen Dichtungsart
nennen, so wie er auch in derselben ein noch nicht übertroffenes Muster
ist. Auch im Properz, Virgil u. A. findet man Spuren dieser
Empfindungsweise, weniger beim Ovid, dem es dazu an Fülle des Herzens
fehlte und der in seinem Exil zu Tomi die Glückseligkeit schmerzlich
vermisst, die Horaz in seinem Tibur so gern entbehrte.
Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der
Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können und schon in sich
selbst den zerstörenden Einfluss willkürlicher und künstlicher Formen
erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie
als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten. Sie werden also
entweder die Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus
entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das
ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird. Alle Dichter,
die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in der
sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung und auf
ihre vorübergehende Gemütsstimmung Einfluss haben, entweder zu den
naiven oder zu den sentimentalischen gehören.
Der Dichter einer naiven und geistreichen Jugendwelt, so wie derjenige,
der in den Zeitaltern künstlicher Kultur ihm am nächsten kommt, ist
streng und spröde, wie die jungfräuliche Diana in ihren Wäldern; ohne
alle Vertraulichkeit entflieht er dem Herzen, das ihn sucht, dem
Verlangen, das ihn umfassen will. Die trockene Wahrheit, womit er den
Gegenstand behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlichkeit. Das
Objekt besitzt ihn gänzlich, sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes
Metall gleich unter der Oberfläche, sondern will wie das Gold in der
Tiefe gesucht sein. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er
hinter seinem Werk; er ist das Werk, und das Werk ist er; man muss des
erstern schon nicht wert oder nicht mächtig oder schon satt sein, um
nach ihm zu fragen.
So zeigt sich z. B. Homer unter den Alten und Shakespeare unter den
Neuern: zwei höchst verschiedene, durch den unermesslichen Abstand der
Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in diesem Charakterzuge völlig
Eins. Als ich in einem sehr frühen Alter den letztern Dichter zuerst
kennen lernte, empörte mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die
ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen, die herzzerschneidenden
Auftritte im Hamlet, im König Lear, im Macbeth u. s. f. durch einen
Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo meine Empfindung
forteilte, bald da kaltherzig fortriss, wo das Herz so gern still
gestanden wäre. Durch die Bekanntschaft mit neuern Poeten verleitet, in
dem Werke den Dichter zuerst aufzusuchen, seinem Herzen zu begegnen,
mit
ihm gemeinschaftlich über seinen Gegenstand zu reflektieren, kurz, das
Objekt in dem Subjekt anzuschauen, war es mir unerträglich, dass der Poet
sich hier gar nirgends fassen ließ und mir nirgends Rede stehen wollte.
Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Verehrung und war mein Studium,
ehe ich sein Individuum lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht fähig,
die Natur aus der ersten Hand zu verstehen. Nur ihr durch den Verstand
reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich
ertragen, und dazu waren die sentimentalischen Dichter der Franzosen und
auch der Deutschen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade die
rechten Subjekte. Übrigens schäme ich mich dieses Kinderurteils nicht,
da die bejahrte Kritik ein ähnliches fällte und naiv genug war, es in
die Welt hineinzuschreiben.
Dasselbe ist mir auch mit dem Homer begegnet, den ich in einer noch
spätern Periode kennen lernte. Ich erinnere mich jetzt der merkwürdigen
Stelle im sechsten Buch der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht
aufeinander stoßen und, nachdem sie sich als Gastfreunde erkannt,
einander Geschenke geben. Diesem rührenden Gemälde der Pietät, mit der
die Gesetze des Gastrechts selbst im Kriege beobachtet wurden, kann eine
Schilderung des ritterlichen Edelmuts im Ariost an die Seite gestellt
werden, wo zwei Ritter und Nebenbuhler, Ferrau und Rinald, dieser ein
Christ, jener ein Sarazene, nach einem heftigen Kampf und mit Wunden
bedeckt, Friede machen und, um die flüchtige Angelika einzuholen, das
nämliche Pferd besteigen. Beide Beispiele, so verschieden sie übrigens
sein mögen, kommen einander in der Wirkung auf unser Herz beinahe
gleich, weil beide den schönen Sieg der Sitten über die Leidenschaft
malen und uns durch Naivität der Gesinnungen rühren. Aber wie ganz
verschieden nehmen sich die Dichter bei Beschreibung dieser ähnlichen
Handlung. Ariost, der Bürger einer spätern und von der Einfalt der
Sitten abgekommenen Welt, kann bei der Erzählung dieses Vorfalls seine
eigene Verwunderung, seine Rührung nicht verbergen. Das Gefühl des
Abstandes jener Sitten von denjenigen, die sein Zeitalter
charakterisieren, überwältigt ihn. Er verlässt auf einmal das Gemälde des
Gegenstandes und erscheint in eigener Person. Man kennt die schöne
Stanze und hat sie immer vorzüglich bewundert:
O Edelmut der alten Rittersitten!
Die Nebenbuhler waren, die entzweit,
Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
Am ganzen Leib vom feindlich wilden Streit,
Frei von Verdacht und in Gemeinschaft ritten
Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
Das
Ross, getrieben von vier Sporen, eilte,
Bis wo der Weg sich in zwei Straßen
teilte.7
Und nun der alte Homer! Kaum erfährt Diomed aus Glaukus', seines
Gegner, Erzählung, dass dieser von Väterzeiten her ein Gastfreund seines
Geschlechts ist, so steckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich
mit ihm und macht mit ihm aus, dass sie einander im Gefechte künftig
ausweichen wollen. Doch man höre den Homer selbst:
»Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos,
Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich besuche.
Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel.
Viel ja find der Troer mir selbst und der rühmlichen Helfer,
Dass ich tönte, wen Gott mir gewährt und die Schenkel erreichen;
Viel auch der Achaier, dass, welchen du kannst, du erlegst.
Aber die Rüstungen Beide vertauschen wir, dass auch die Andern
Schaun, wie wir Gäste zu sein aus Väterzeiten uns rühmen.
Also redeten Jene, herab von den Wagen sich schwingend,
Fassten sie Beide einander die Händ' und gelobten sich Freundschaft.«
Schwerlich dürfte ein moderner Dichter (wenigstens schwerlich einer,
der es in der moralischen Bedeutung dieses Wortes ist) auch nur bis hieher gewartet haben, um seine Freude an dieser Handlung zu bezeugen.
Wir würden es ihm um so leichter verzeihen, da auch unser Herz beim
Lesen einen Stillstand macht und sich von dem Objekte gern entfernt, um
in sich selbst zu schauen. Aber von allem diesem keine Spur im Homer;
als ob er etwas Alltägliches berichtet hätte, ja, als ob er selbst kein
Herz im Busen trüge, fährt er in seiner trockenen Wahrhaftigkeit fort:
»Doch den Glaukus erregete Zeus, dass er ohne Besinnung
Gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit ehrnen,
Wechselte, hundert Farren wert, neun Farren die andern.«8
Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter
nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben kaum
mehr möglich, wenigstens auf keine andere Weise möglich, als dass sie in
ihrem Zeitalter wild laufen und durch ein günstiges Geschick vor dem
verstümmelnden Einfluss desselben geborgen werden. Aus der Societät
selbst können sie nie und nimmer hervorgehen; aber außerhalb derselben
erscheinen sie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge, die man
anstaunt, und als ungezogene Söhne der Natur, an denen man sich ärgert.
So wohltätige Erscheinungen sie für den Künstler sind, der sie
studiert, und für den echten Kenner, der sie zu würdigen versteht, so
wenig Glück machen sie im Ganzen und bei ihrem Jahrhundert. Das Siegel
des Herrschers ruht auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Musen
gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den eigentlichen
Zaunhütern des Geschmacks, werden sie als Grenzstörer gehasst, die man
lieber unterdrücken möchte; denn selbst Homer dürfte es bloß der Kraft
eines mehr als tausendjährigen Zeugnisses zu verdanken haben, dass ihn
diese Geschmacksrichter gelten lassen; auch wird es ihnen sauer genug,
ihre Regeln gegen sein Beispiel, und sein Ansehen gegen ihre Regeln zu
behaupten.
Die sentimentalischen Dichter.
Der Dichter, sagte ich, ist entweder Natur, oder er wird sie suchen,
Jenes macht den naiven, diesen den sentimentalischen Dichter.
Der dichterische Geist ist unsterblich und unverlierbar in der
Menschheit; er kann nicht anders als zugleich mit derselben und mit der
Anlage zu ihr sich verlieren. Denn, entfernt sich gleich der Mensch
durch die Freiheit seiner Phantasie und seines Verstandes von der
Einfalt, Wahrheit und Notwendigkeit der Natur, so steht ihm doch nicht
nur der Pfad zu derselben immer offen, sondern ein mächtiger und
unvertilgbarer Trieb, der moralische, treibt ihn auch unaufhörlich zu
ihr zurück, und eben mit diesem Triebe steht das Dichtungsvermögen in
der engsten Verwandtschaft. Dieses verliert sich also nicht auch
zugleich mit der natürlichen Einfalt, sondern wirkt nur nach einer
andern Richtung.
Auch jetzt ist die Natur noch die einzige Flamme, an der sich der
Dichtergeist nähret; aus ihr allein schöpft er seine ganze Macht, zu ihr
allein spricht er auch in dem künstlichen, in der Kultur begriffenen
Menschen. Jede andere Art, zu wirken, ist dem poetischen Geiste fremd;
daher, beiläufig zu sagen, alle sogenannten Werke des Witzes ganz mit
Unrecht poetisch heißen, ob wir sie gleich lange Zeit, durch das Ansehen
der französischen Literatur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur,
sage ich, ist es auch noch jetzt, in dem künstlichen Zustande der
Kultur, wodurch der Dichtergeist mächtig ist; nur steht er jetzt in
einem ganz andern Verhältnis zu derselben.
So lange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht rohe Natur ist,
wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit und als ein harmonierendes
Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttätiges Vermögen,
haben sich in ihrem Geschäfte noch nicht getrennt, viel weniger stehen
sie im Widerspruch mit einander. Seine Empfindungen sind nicht das
formlose Spiel des Zufalls, seine Gedanken nicht das gehaltlose Spiel
der Vorstellungskraft; aus dem Gesetz der Notwendigkeit gehen jene, aus
der Wirklichkeit gehen diese hervor. Ist der Mensch in den Stand der
Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene
sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als
moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend sich äußern. Die
Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten
Zustande wirklich statt fand, existiert jetzt bloß idealisch; sie ist
nicht mehr in ihm, sondern außer ihm, als ein Gedanke, der erst
realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens. Wendet
man nun den Begriff der Poesie, der kein anderer ist,
als der Menschheit
ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben, auf jene beiden
Zustände an, so ergibt sich, dass dort in einem Zustande natürlicher
Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen seinen Kräften zugleich, als
harmonische Einheit wirkt, wo mithin das Ganze seiner Natur sich in der
Wirklichkeit vollständig ausdrückt, die möglichst vollständige
Nachahmung des Wirklichen – dass hingegen hier in dem Zustande der
Kultur, wo jenes harmonische Zusammenwirken seiner ganzen Natur bloß
eine Idee ist, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf
Eins hinausläuft, die
Darstellung des Ideals den Dichter machen muss. Und
dies sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der
poetische Genius äußern kann. Sie sind, wie man sieht, äußerst von
einander verschieden; aber es gibt einen höhern Begriff, der sie beide
unter sich fasst, und es darf gar nicht befremden, wenn dieser Begriff
mit der Idee der Menschheit in Eins zusammentrifft.
Es ist hier der Ort nicht, diesen Gedanken, den nur eine eigene
Ausführung in sein volles Licht setzen kann, weiter zu verfolgen. Wer
aber nur irgend, dem Geiste nach und nicht bloß nach zufälligen Formen,
eine Vergleichung zwischen alten und modernen Dichtern9
anzustellen versteht, wird sich leicht von der Wahrheit desselben
überzeugen können. Jene rühren uns durch Natur, durch sinnliche
Wahrheit, durch lebendige Gegenwart; diese rühren uns durch Ideen.
Dieser Weg, den die neuern Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der
Mensch überhaupt sowohl im Einzelnen als im Ganzen einschlagen muss. Die
Natur macht ihn mit sich Eins, die Kunst trennt und entzweit ihn, durch
das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. Weil aber das Ideal ein
Unendliches ist, das er niemals erreicht, so kann der kultivierte Mensch
in seiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natürliche Mensch
es in der seinigen zu werden vermag. Er müsste also dem letztern an
Vollkommenheit unendlich nachstehen, wenn bloß auf das Verhältnis, in
welchem beide zu ihrer Art und zu ihrem Maximum stehen, geachtet wird.
Vergleicht man hingegen die Arten selbst mit einander, so zeigt sich,
dass das Ziel, zu welchem der Mensch durch Kultur strebt, demjenigen,
welches er durch Natur erreicht, unendlich vorzuziehen ist. Der eine
erhält also seinen Werth durch absolute Erreichung einer endlichen, der
andere erlangt ihn durch Annäherung zu einer unendlichen Größe. Weil
aber nur die letztere Grade und einen Fortschritt hat, so ist der
relative Werth des Menschen, der in der Kultur begriffen ist, im Ganzen
genommen, niemals bestimmbar, obgleich derselbe, im Einzelnen
betrachtet, sich in einem notwendigen Nachtheil gegen denjenigen
befindet, in welchem die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt.
Insofern aber das letzte Ziel der Menschheit nicht anders als durch jene
Fortschreitung zu erreichen ist und der letztere nicht anders
fortschreiten kann, als indem er sich kultiviert und folglich in den erstern übergeht, so ist keine Frage, welchem von beiden in Rücksicht
auf jenes letzte Ziel der Vorzug gebührt.
Dasselbe, was hier von den zwei verschiedenen Formen der Menschheit
gesagt wird, lässt sich auch auf jene beiden, ihnen entsprechenden
Dichterformen anwenden.
Man hätte deswegen alte und moderne – naive und sentimentalische –
Dichter entweder gar nicht oder nur unter einem gemeinschaftlichen
höhern Begriff (einen solchen gibt es wirklich) mit einander vergleichen
sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor
einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter,
aber auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen.
Wenn man nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige
Natur gleichförmig wirkt, so kann es nicht anders sein, als dass man den
neuern Poeten gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den
Namen der Dichter wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur
zu dem Zögling der Kunst sprechen und der einfältigen Natur nichts zu
sagen haben.10 Wessen Gemüt nicht schon zubereitet ist, über
die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen, für den wird der
reichste Gehalt leerer Schein und der höchste Dichterschwung
Überspannung sein. Keinem Vernünftigen kann es einfallen, in
demjenigen, worin Homer groß ist, irgend einen Neuern ihm an die Seite
stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn man einen Milton
oder Klopstock mit dem Namen eines neuern Homer beehrt sieht. Eben so
wenig aber wird irgend ein alter Dichter und am wenigsten Homer in
demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch auszeichnet, die
Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener, möchte ich es
ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung; dieser ist es
durch die Kunst des Unendlichen.
Und eben daraus, dass die Stärke des alten Künstlers (denn was hier von
den Dichtern gesagt worden, kann unter den Einschränkungen, die sich von
selbst ergeben, auch auf den schönen Künstler überhaupt ausgedehnt
werden) in der Begrenzung besteht, erklärt sich der hohe Vorzug, den die
bildende Kunst des Altertums über die der neuern Zeiten behauptet, und
überhaupt das ungleiche Verhältnis des Werths, in welchem moderne
Dichtkunst und moderne bildende Kunst zu beiden Kunstgattungen im
Altertum stehen. Ein Werk für das Auge findet nur in der Begrenzung
seine Vollkommenheit; ein Werk für die Einbildungskraft kann sie auch
durch das Unbegrenzte erreichen. In plastischen Werken hilft daher dem
Neuern seine Überlegenheit in Ideen wenig; hier ist er genötigt, das
Bild seiner Einbildungskraft auf das genaueste im Raum zu bestimmen und
sich folglich mit dem alten Künstler gerade in derjenigen Eigenschaft zu
messen, worin dieser seinen unabstreitbaren Vorzug hat. In poetischen
Werken ist es anders; und siegen gleich die alten Dichter auch hier in
der Einfalt der Formen und in dem, was sinnlich darstellbar und
körperlich ist, so kann der neuere sie wieder im Reichtum des Stoffes,
in dem, was undarstellbar und unaussprechlich ist, kurz, in dem, was man
in Kunstwerken Geist nennt, hinter sich lassen.
Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt und
sich bloß auf Nachahmungen der Wirklichkeit beschränkt, so kann er zu
seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältnis haben, und es gibt,
in dieser Rücksicht, für ihn keine Wahl der Behandlung. Der verschiedene
Eindruck naiver Dichtung beruht (vorausgesetzt, dass man alles hinwegdenkt, was daran dem Inhalt gehört, und jenen Eindruck nur als das
reine Werk der poetischen Behandlung betrachtet), beruht, sage ich, bloß
auf dem verschiedenen Grad einer und derselben Empfindungsweise; selbst
die Verschiedenheit in den äußeren Formen kann in der Qualität jenes
ästhetischen Eindrucks keine Veränderung machen. Die Form sei lyrisch
oder episch, dramatisch oder beschreibend; wir können wohl schwächer und
stärker, aber (sobald von dem Stoff abstrahiert wird) nie
verschiedenartig gerührt werden. Unser Gefühl ist durchgängig dasselbe,
ganz aus einem Element, so dass wir nichts darin zu unterscheiden
vermögen. Selbst der Unterschied der Sprachen und Zeitalter ändert hier
nichts, denn eben diese reine Einheit ihres Ursprungs und ihres Effekts
ist ein Charakter der naiven Dichtung.
Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser
reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und
nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst
versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee
bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.
Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden
Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit
seiner Idee als dem Unendlichen zu tun, und das gemischte Gefühl, das
er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.11 Da
also hier eine Mehrheit der Prinzipien statt findet, so kommt es darauf
an, welches von beiden in der Empfindung des Dichters und in seiner
Darstellung überwiegen wird, und es ist folglich eine Verschiedenheit in
der Behandlung möglich. Denn nun entsteht die Frage, ob er mehr bei der
Wirklichkeit, ob er mehr bei dem Ideale verweilen – ob er jene als einen
Gegenstand der Abneigung, ob er diese als einen Gegenstand der Zuneigung
ausführen will. Seine Darstellung wird also entweder satirisch, oder sie
wird (in einer weitern Bedeutung dieses Worts, die sich nachher erklären
wird) elegisch sein; an eine von diesen beiden Empfindungsarten wird
jeder sentimentalische Dichter sich halten.
Satirische Dichtung.
Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den
Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das
Gemüt kommt Beides auf Eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht. Dies
kann er aber sowohl ernsthaft und mit Affekt, als scherzhaft und mit
Heiterkeit ausführen, je nachdem er entweder im Gebiete des Willens oder
im Gebiete des Verstandes verweilt. Jenes geschieht durch die strafende
oder pathetische, dieses durch die scherzhafte Satire.
Streng genommen verträgt zwar der Zweck des Dichters weder den Ton der
Strafe, noch den der Belustigung. Jener ist zu ernst für das Spiel, was
die Poesie immer sein soll; dieser ist zu frivol für den Ernst, der
allem poetischen Spiele zum Grunde liegen soll. Moralische Widersprüche
interessieren notwendig unser Herz und rauben also dem Gemüt seine
Freiheit, und doch soll aus poetischen Rührungen alles eigentliche
Interesse, d. h. alle Beziehung auf ein Bedürfnis verbannt sein.
Verstandeswidersprüche hingegen lassen das Herz gleichgültig, und doch
hat es der Dichter mit dem höchsten Anliegen des Herzens, mit der Natur
und dem Ideal, zu tun. Es ist daher keine geringe Aufgabe für ihn, in
der pathetischen Satire nicht die poetische Form zu verletzen, welche in
der Freiheit des Spiels besteht, in der scherzhaften Satire nicht den
poetischen Gehalt zu verfehlen, welcher immer das Unendliche sein muss.
Diese Aufgabe kann nur auf eine einzige Art gelöst werden. Die strafende
Satire erlangt poetische Freiheit, indem sie ins Erhabene übergeht; die
lachende Satire erhält poetischen Gehalt, indem sie ihren Gegenstand mit
Schönheit behandelt.
In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der
höchsten Realität gegenüber gestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig,
dass das Letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt
zu erwecken weiß; dies muss er aber schlechterdings, oder er wird gar
nicht poetisch wirken. Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges
Objekt der Abneigung; aber, worauf hier alles ankömmt, diese Abneigung
selbst muss wieder notwendig aus dem entgegenstehenden Ideal
entspringen. Sie könnte nämlich auch eine bloß sinnliche Quelle haben
und lediglich in Bedürfnis gegründet sein, mit welchem die Wirklichkeit
streitet; und häufig genug glauben wir einen moralischen Unwillen über
die Welt zu empfinden, wenn uns bloß der Widerstreit derselben mit
unserer Neigung erbittert. Dieses materielle Interesse ist es, was der
gemeine Satiriker ins Spiel bringt, und weil es ihm auf diesem Wege gar
nicht fehl schlägt, uns in Affekt zu versetzen, so glaubt er unser Herz
in seiner Gewalt zu haben und im Pathetischen Meister zu sein. Aber
jedes Pathos aus dieser Quelle ist der Dichtkunst unwürdig, die uns nur
durch Ideen rühren und nur durch die Vernunft zu unserm Herzen den Weg
nehmen darf. Auch wird sich dieses unreine und materielle Pathos
jederzeit durch ein Übergewicht des Leidens und durch eine peinliche
Befangenheit des Gemüts offenbaren, da im Gegenteil das wahrhaft
poetische Pathos an einem Übergewicht der Selbsttätigkeit und an
einer, auch im Affekte noch bestehenden Gemütsfreiheit zu erkennen ist.
Entspringt nämlich die Rührung aus dem der Wirklichkeit
gegenüberstehenden Ideale, so verliert sich in der Erhabenheit des
letztern jedes einengende Gefühl, und die Größe der Idee, von der wir
erfüllt sind, erhebt uns über alle Schranken der Erfahrung. Bei der
Darstellung empörender Wirklichkeit kommt daher alles darauf an, dass das
Notwendige der Grund sei, auf welchem der Dichter oder der Erzähler das
Wirkliche aufträgt, dass er unser Gemüt für Ideen zu stimmen wisse.
Stehen wir nur hoch in der Beurteilung, so hat es nichts zu sagen, wenn
auch der Gegenstand tief und niedrig unter uns zurückbleibt. Wenn uns
der Geschichtsschreiber Tacitus den tiefsten Verfall der Römer des ersten
Jahrhunderts schildert, so ist es ein hoher Geist, der auf das Niedrige
herabblicke, und unsere Stimmung ist wahrhaft poetisch, weil nur die
Höhe, worauf er selbst steht und zu der er uns zu erheben wusste, seinen
Gegenstand niedrig machte.
Die pathetische Satire muss also jederzeit aus einem Gemüte fließen,
welches von dem Ideale lebhaft durchdrungen ist. Nur ein herrschender
Trieb nach Übereinstimmung kann und darf jenes tiefe Gefühl moralischer
Widersprüche und jenen glühenden Unwillen gegen moralische Verkehrtheit
erzeugen, welcher in einem Juvenal, Swift, Rousseau, Haller und Andern
zur Begeisterung wird. Die nämlichen Dichter würden und müssten mit
demselben Glück auch in den rührenden und zärtlichen Gattungen gedichtet
haben, wenn nicht zufällige Ursachen ihrem Gemüt frühe diese bestimmte
Richtung gegeben hätten; auch haben sie es zum Teil wirklich getan.
Alle die hier genannten lebten entweder in einem ausgearteten Zeitalter
und hatten eine schauderhafte Erfahrung moralischer Verderbnis vor
Augen, oder eigene Schicksale hatten Bitterkeit in ihre Seele gestreut.
Auch der philosophische Geist, da er mit unerbittlicher Strenge den
Schein von dem Wesen trennt und in die Tiefen der Dinge dringet, neigt
das Gemüt zu dieser Härte und Austerität, mit welcher Rousseau, Haller
und Andere die Wirklichkeit malen. Aber diese äußeren und zufälligen
Einflüsse, welche immer einschränkend wirken, dürfen höchstens nur die
Richtung bestimmen, niemals den Inhalt der Begeisterung hergeben. Dieser
muss in allen derselbe sein und, rein von jedem äußern Bedürfnis, aus
einem glühenden Triebe für das Ideal hervorfließen, welcher durchaus der
einzig wahre Beruf zu dem satirischen wie überhaupt zu dem
sentimentalischen Dichter ist.
Wenn die pathetische Satire nur
erhabene Seelen kleidet, so kann die
spottende Satire nur einem schönen Herzen gelingen. Denn jene ist schon
durch ihren ernsten Gegenstand vor der Frivolität gesichert; aber diese,
die nur einen moralisch gleichgültigen Stoff behandeln darf, würde
unvermeidlich darein verfallen und jede poetische Würde verlieren, wenn
hier nicht die Behandlung den Inhalt veredelte und das Subjekt des
Dichters nicht sein Objekt verträte. Aber nur dem schönen Herzen ist es
verliehen, unabhängig von dem Gegenstand seines Wirkens in jeder seiner
Äußerungen ein vollendetes Bild von sich selbst abzuprägen. Der
erhabene Charakter kann sich nur in einzelnen Siegen über den Widerstand
der Sinne, nur in gewissen Momenten des Schwunges und einer
augenblicklichen Anstrengung kund tun; in der schönen Seele hingegen
wirkt das Ideal als Natur, also gleichförmig, und kann mithin auch in
einem Zustand der Ruhe sich zeigen. Das tiefe Meer erscheint am
erhabensten in seiner Bewegung, der klare Bach am schönsten in seinem
ruhigen Lauf.
Es ist mehrmals darüber gestritten worden, welche von beiden, die
Tragödie oder die Komödie, vor der andern den Rang verdiene. Wird damit
bloß gefragt, welche von beiden das wichtigere Objekt behandle, so ist
kein Zweifel, dass die erstere den Vorzug behauptet; will man aber
wissen, welche von beiden das wichtigere Subjekt erfordere, so möchte
der Ausspruch eher für die letztere ausfallen. – In der Tragödie
geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel, in der Komödie geschieht
durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter. Da nun bei
Urteilen des Geschmacks der Stoff nie in Betracht kommt, so muss
natürlicher Weise der ästhetische Werth dieser beiden Kunstgattungen in
umgekehrtem Verhältnis zu ihrer materiellen Wichtigkeit stehen. Den
tragischen Dichter trägt sein Objekt, der komische hingegen muss durch
sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf
einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehöret; der andre muss
sich gleich bleiben, er muss also schon dort sein und dort zu Hause sein,
wohin der andere nicht ohne einen Anlauf gelangt. Und gerade das ist es,
worin sich der schöne Charakter von dem erhabenen unterscheidet. In dem
ersten ist jede Größe schon enthalten, sie fließt ungezwungen und
mühelos aus seiner Natur, er ist, dem Vermögen nach, ein Unendliches in
jedem Punkte seiner Bahn; der andere kann sich zu jeder Größe anspannen
und erheben, er kann durch die Kraft seines Willens aus jedem Zustande
der Beschränkung sich reißen. Dieser ist also nur ruckweise und nur mit
Anstrengung frei, jener ist es mit Leichtigkeit und immer.
Diese Freiheit des Gemüts in uns hervorzubringen und zu nähren, ist die
schöne Aufgabe der Komödie, sowie die Tragödie bestimmt ist, die
Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affekt gewaltsam aufgehoben
worden, auf ästhetischem Weg wieder herstellen zu helfen. In der
Tragödie muss daher die Gemütsfreiheit künstlicher Weise und als
Experiment aufgehoben werden, weil sie in Herstellung derselben ihre
poetische Kraft beweist; in der Komödie hingegen muss verhütet werden,
dass es niemals zu jener Aufhebung der Gemütsfreiheit komme. Daher
behandelt der Tragödiendichter seinen Gegenstand immer praktisch, der
Komödiendichter den seinigen immer theoretisch, auch wenn jener (wie
Lessing in seinem Nathan) die Grille hätte, einen theoretischen, dieser,
einen praktischen Stoff zu bearbeiten. Nicht das Gebiet, aus welchem der
Gegenstand genommen, sondern das Forum, vor welches der Dichter ihn
bringt, macht denselben tragisch oder komisch. Der Tragiker muss sich vor
dem ruhigen Raisonnement in Acht nehmen und immer das Herz
interessieren; der Komiker muss sich vor dem Pathos hüten und immer den
Verstand unterhalten. Jener zeigt also durch beständige Erregung, dieser
durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst; und diese Kunst
ist natürlich auf beiden Seiten um so größer, je mehr der Gegenstand des
einen abstrakter Natur ist, und der des andern sich zum Pathetischen
neigt.12 Wenn also die Tragödie von einem wichtigern Punkt
ausgeht, so muss man auf der andern Seite gestehen, dass die Komödie einem
wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle
Tragödie überflüssig und unmöglich machen. Ihr Ziel ist einerlei mit dem
höchsten, wornach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu
sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall
mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu
lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.
Wie in dem handelnden Leben, so begegnet es auch oft bei
dichterischen Darstellungen, den bloß leichten Sinn, das angenehme
Talent, die fröhliche Gutmütigkeit mit Schönheit der Seele zu
verwechseln, und da sich der gemeine Geschmack überhaupt nie über das
Angenehme erhebt, so ist es solchen niedlichen Geistern ein Leichtes,
jenen Ruhm zu usurpieren, der so schwer zu verdienen ist. Aber es gibt
eine untrügliche Probe, vermittelst deren man die Leichtigkeit des
Naturells von der Leichtigkeit des Ideals, so wie die Tugend des
Temperaments von der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters
unterscheiden kann, und diese ist, wenn beide sich an einem schwierigen
und großen Objekte versuchen. In einem solchen Fall geht das niedliche
Genie unfehlbar in das Platte, so wie die Temperamentstugend in das
Materielle; die wahrhaft schöne Seele hingegen geht eben so gewiss in die
erhabene über.
So lange Lucian bloß die Ungereimtheit züchtigt, wie in den Wünschen, in
den Lapithen, in dem Jupiter Tragödus u. a., bleibt er Spötter und
ergötzt uns mit seinem fröhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer
Mann aus ihm in vielen Stellen seines Nigrinus, seines Timons, seines
Alexanders, wo seine Satire auch die moralische Verderbnis trifft.
»Unglückseliger,« so beginnt er in seinem Nigrinus das empörende Gemälde
des damaligen Roms, »warum verließest du das Licht der Sonne,
Griechenland, und jenes glückliche Leben der Freiheit und kamst hieher
in das Getümmel von prachtvoller Dienstbarkeit, von Aufwartungen und
Gastmählern, von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmischern, Erbschleichern
und falschen Freunden? u. s. w.« Bei solchen und ähnlichen Anlässen muss
sich der hohe Ernst des Gefühls offenbaren, der allem Spiele, wenn es
poetisch sein soll, zum Grunde liegen muss. Selbst durch den boshaften
Scherz, womit sowohl Lucian als Aristophanes den Sokrates misshandeln,
blickt eine ernste Vernunft hervor, welche die Wahrheit an dem Sophisten
rächt und für ein Ideal streitet, das sie nur nicht immer ausspricht.
Auch hat der erste von beiden in seinem Diogenes und Demonax diesen
Charakter gegen alle Zweifel gerechtfertigt; unter den Neuern, welchen
großen und schönen Charakter drückt nicht Cervantes bei jedem würdigen
Anlass in seinem Don Quixote aus! Welch ein herrliches Ideal musste nicht
in der Seele des Dichters leben, der einen Tom Jones und eine Sophia
erschuf! Wie kann der Lacher Yorik, sobald er will, unser Gemüt so groß
und so mächtig bewegen? Auch in unserm Wieland erkenne ich diesen Ernst
der Empfindung; selbst die mutwilligen Spiele seiner Laune beseelt und
adelt die Grazie des Herzens, selbst in den Rhythmus seines Gesanges
drückt sie ihr Gepräg, und nimmer fehlt ihm die Schwungkraft, uns,
sobald es gilt, zu dem Höchsten empor zu tragen.
Von der Voltaire'schen Satire lässt sich kein solches Urteil fällen.
Zwar ist es auch bei diesem Schriftsteller einzig nur die Wahrheit und
Simplizität der Natur, wodurch er uns zuweilen poetisch rührt, es sei
nun, dass er sie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie
mehrmals
in seinem Ingenu, oder dass er sie, wie in seinem Candide u. a., suche
und räche. Wo keines von beiden der Fall ist, da kann er uns zwar als
witziger Kopf belustigen, aber gewiss nicht als Dichter bewegen. Aber
seinem Spott liegt überall zu wenig Ernst zu Grunde, und dieses macht
seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig. Wir begegnen immer nur seinem
Verstande, nicht seinem Gefühl. Es zeigt sich kein Ideal unter jener
luftigen Hülle und kaum etwas absolut Festes in jener ewigen Bewegung.
Seine wunderbare Mannigfaltigkeit in äußern Formen, weit entfernt, für
die innere Fülle seines Geistes etwas zu beweisen, legt vielmehr ein
bedenkliches Zeugnis dagegen ab; denn ungeachtet aller jener Formen hat
er auch nicht eine gefunden, worin er ein Herz hätte ausdrücken können.
Beinahe muss man also fürchten, es war in diesem reichen Genius nur die
Armut des Herzens, die seinen Beruf zur Satire bestimmte. Wäre es
anders, so hätte er doch irgend auf seinem weiten Weg aus diesem engen
Geleise treten müssen. Aber bei allem noch so großen Wechsel des Stoffes
und der äußern Form sehen wir diese innere Form in ewigem, dürftigem
Einerlei wiederkehren, und trotz seiner voluminösen Laufbahn hat er doch
den Kreis der Menschheit in sich selbst nicht erfüllt, den man in den
obenerwähnten Satirikern mit Freuden durchlaufen findet.
Elegische Dichtung.
Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit
so entgegen, dass die Darstellung des ersten überwiegt und das
Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn
elegisch. Auch diese Gattung hat, wie die Satire, zwei Klassen unter
sich. Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer,
wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder
beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt
werden. Das erste gibt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in
weitester Bedeutung.13
Wie der Unwille bei der pathetischen, und wie der Spott bei der
scherzhaften Satire, so darf bei der Elegie die Trauer nur aus einer
durch das Ideal erweckten Begeisterung fließen. Dadurch allein erhält
die Elegie poetischen Gehalt, und jede andere Quelle derselben ist
völlig unter der Würde der Dichtkunst. Der elegische Dichter sucht die
Natur, aber in ihrer Schönheit, nicht bloß in ihrer Annehmlichkeit, in
ihrer Übereinstimmung mit Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit
gegen das Bedürfnis. Die Trauer über verlorene Freuden, über das aus der
Welt verschwundene goldene Alter, über das entflohene Glück der Jugend,
der Liebe u. s. w. kann nur alsdann der Stoff zu einer elegischen
Dichtung werden, wenn jene Zustände sinnlichen Friedens zugleich als
Gegenstände moralischer Harmonie sich vorstellen lassen. Ich kann
deswegen die Klagegesänge des Ovid, die er aus seinem Verbannungsort am
Euxin anstimmt, wie rührend sie auch sind, und wie viel Dichterisches
auch einzelne Stellen haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetisches
Werk betrachten. Es ist viel zu wenig Energie, viel zu wenig Geist und
Adel in seinem Schmerz. Das Bedürfnis, nicht die Begeisterung stieß jene
Klagen aus; es atmet darin, wenn gleich keine gemeine Seele, doch die
gemeine Stimmung eines edleren Geistes, den sein Schicksal zu Boden
drückt. Zwar, wenn wir uns erinnern, dass es Rom und das Rom des Augustus
ist, um das er trauert, so verzeihen wir dem Sohn der Freunde seinen
Schmerz; aber selbst das herrliche Rom mit allen seinen Glückseligkeiten
ist, wenn nicht die Einbildungskraft es erst veredelt, bloß eine
endliche Größe, mithin ein unwürdiges Objekt für die Dichtkunst, die,
erhaben über alles, was die Wirklichkeit aufstellt, nur das Recht hat,
um das Unendliche zu trauern.
Der Inhalt der dichterischen Klage kann also niemals ein äußrer,
jederzeit nur ein innerer idealischer Gegenstand sein; selbst wenn sie
einen Verlust in der Wirklichkeit betrauert, muss sie ihn erst zu einem
idealischen umschaffen. In dieser Reduktion des Beschränkten auf ein
Unendliches besteht eigentlich die poetische Behandlung. Der äußere
Stoff ist daher an sich selbst immer gleichgültig, weil ihn die
Dichtkunst niemals so brauchen kann, wie sie ihn findet, sondern nur
durch das, was sie selbst daraus macht, ihm die poetische Würde gibt.
Der elegische Dichter sucht die Natur, aber als eine Idee und in einer
Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat, wenn er sich gleich als
etwas Dagewesenes und nun Verlorenes beweint. Wenn uns Ossian von den
Tagen erzählt, die nicht mehr sind, und von den Helden, die verschwunden
sind, so hat seine Dichtungskraft jene Bilder der Erinnerung längst im
Ideale, jene Helden in Götter umgestaltet. Die Erfahrungen eines
bestimmten Verlustes haben sich zur Idee der allgemeinen Vergänglichkeit
erweitert, und der gerührte Barde, den das Bild des allgegenwärtigen
Ruins verfolgt, schwingt sich zum Himmel auf, um dort in dem Sonnenlauf
ein Sinnbild des Unvergänglichen zu finden.14
Ich wende mich sogleich zu den neuern Poeten in der elegischen Gattung.
Rousseau, als Dichter wie als Philosoph, hat keine andere Tendenz, als
die Natur entweder zu suchen oder an der Kunst zu rächen. Je nachdem
sich sein Gefühl entweder bei der einen oder der andern verweilt, finden
wir ihn bald elegisch gerührt, bald zu Juvenalischer Satire begeistert,
bald, wie in seiner Julie, in das Feld der Idylle entzückt. Seine
Dichtungen haben unwidersprechlich poetischen Gehalt, da sie ein Ideal
behandeln; nur weiß er denselben nicht auf poetische Weise zu
gebrauchen. Sein ernster Charakter lässt ihn zwar nie zur Frivolität
herabsinken, aber erlaubt ihm auch nicht, sich bis zum poetischen Spiel
zu erheben. Bald durch Leidenschaft, bald durch Abstraktion angespannt,
bringt er es selten oder nie zu der ästhetischen Freiheit, welche der
Dichter seinem Stoff gegenüber behaupten, seinem Leser mitteilen muss.
Entweder es ist seine kranke Empfindlichkeit, die über ihn herrschet und
seine Gefühle bis zum Peinlichen treibt; oder es ist seine Denkkraft,
die seiner Imagination Fesseln anlegt und durch die Strenge des Begriffs
die Anmut des Gemäldes vernichtet. Beide Eigenschaften, deren innige
Wechselwirkung und Vereinigung den Poeten eigentlich ausmacht, finden
sich bei diesem Schriftsteller in ungewöhnlich hohem Grad, und nichts
fehlt, als dass sie sich auch wirklich mit einander vereinigt äußerten,
dass seine Selbsttätigkeit sich mehr in sein Empfinden, dass seine
Empfänglichkeit sich mehr in sein Denken mischte. Daher ist auch in dem
Ideale, das er von der Menschheit aufstellt, auf die Schranken derselben
zu viel, auf ihr Vermögen zu wenig Rücksicht genommen und überall mehr
ein Bedürfnis nach physischer Ruhe als nach moralischer Übereinstimmung
darin sichtbar. Seine leidenschaftliche Empfindlichkeit ist schuld, dass
er die Menschheit, um nur des Streits in derselben recht bald los zu
werden, lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes
zurückgeführt, als jenen Streit in der geistreichen Harmonie einer
völlig durchgeführten Bildung geendigt sehen, dass er die Kunst lieber
gar nicht anfangen lassen, als ihre Vollendung erwarten will, kurz, dass
er das Ziel lieber niedriger steckt und das Ideal lieber herabsetzt, um
es nur desto schneller, um es nur desto sicherer zu erreichen.
Unter Deutschlands Dichtern in dieser Gattung will ich hier nur Hallers,
Kleists und Klopstocks erwähnen. Der Charakter ihrer Dichtung ist
sentimentalisch; durch Ideen rühren sie uns, nicht durch sinnliche
Wahrheit, nicht sowohl weil sie selbst Natur sind, als weil sie uns für
Natur zu begeistern wissen. Was indessen von dem Charakter sowohl dieser
als aller sentimentalischen Dichter im Ganzen wahr ist, schließt
natürlicher Weise darum keineswegs das Vermögen aus, im Einzelnen uns
durch naive Schönheit zu rühren: ohne das würden sie überall keine
Dichter sein. Nur ihr eigentlicher und herrschender Charakter ist es
nicht, mit ruhigem, einfältigem und leichtem Sinn zu empfangen und das
Empfangene eben so wieder darzustellen. Unwillkürlich drängt sich die
Phantasie der Anschauung, die Denkkraft der Empfindung zuvor, und man
verschließt Auge und Ohr, um betrachtend in sich selbst zu versinken.
Das Gemüt kann keinen Eindruck erleiden, ohne sogleich seinem eigenen
Spiel zuzusehen und, was es in sich hat, durch Reflexion sich gegenüber
und aus sich heraus zu stellen. Wir erhalten auf diese Art nie den
Gegenstand, nur, was der reflektierende Verstand des Dichter aus dem
Gegenstand machte, und selbst dann, wenn der Dichter selbst dieser
Gegenstand ist, wenn er uns seine Empfindungen darstellen will, erfahren
wir nicht seinen Zustand unmittelbar und aus erster Hand, sondern wie
sich derselbe in seinem Gemüt reflektiert, was er als Zuschauer seiner
selbst darüber gedacht hat. Wenn Haller den Tod seiner Gattin betrauert
(man kennt das schöne Lied) und folgendermaßen anfängt:
Soll ich von deinem Tode singen,
O Mariane, welch ein Lied!
Wenn Seufzer mit den Worten ringen
Und ein Begriff den andern flieht u. s. f.
so finden wir diese Beschreibung genau wahr; aber wir fühlen auch,
dass uns der Dichter nicht eigentlich seine Empfindungen, sondern seine
Gedanken darüber mitteilt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer,
weil er selbst schon sehr viel erkältet sein musste, um ein Zuschauer
seiner Rührung zu sein.
Schon der größtenteils übersinnliche Stoff der Hallerischen und zum
Teil auch der Klopstockischen Dichtungen schließt sie von der naiven
Gattung aus; sobald daher jener Stoff überhaupt nur poetisch bearbeitet
werden sollte, so musste er, da er keine körperliche Natur annehmen und
folglich kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung werden konnte, ins
Unendliche hinübergeführt und zu einem Gegenstand der geistigen
Anschauung erhoben werden. Überhaupt lässt sich nur in diesem Sinne eine
didaktische Poesie ohne innern Widerspruch denken; denn, um es noch
einmal zu wiederholen: nur diese zwei Felder besitzt die Dichtkunst:
entweder sie muss sich in der Sinnenwelt, oder sie muss sich in der
Ideenwelt aufhalten, da sie im Reich der Begriffe oder in der
Verstandeswelt schlechterdings nicht gedeihen kann. Noch, ich gestehe
es, kenne ich kein Gedicht in dieser Gattung, weder aus älterer noch
neuerer Literatur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und
vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee
hinaufgeführt hätte. Der gewöhnliche Fall ist, wenn es noch glücklich
geht, dass zwischen beiden abgewechselt wird, während dass der abstrakte
Begriff herrschet, und dass der Einbildungskraft, welche auf dem
poetischen Felde zu gebieten haben soll, bloß verstattet wird, den
Verstand zu bedienen. Dasjenige didaktische Gedicht, worin der Gedanke
selbst poetisch wäre und es auch bliebe, ist noch zu erwarten.
Was hier im Allgemeinen von allen Lehrgedichten gesagt wird, gilt auch
von den Hallerischen insbesondere. Der Gedanke selbst ist kein
dichterischer Gedanke, aber die Ausführung wird es zuweilen bald durch
den Gebrauch der Bilder, bald durch den Aufschwung zu Ideen. Nur in der
letztern Qualität gehören sie hieher. Kraft und Tiefe und ein
pathetischer Ernst charakterisieren diesen Dichter. Von einem Ideal ist
seine Seele entzündet, und sein glühendes Gefühl für Wahrheit sucht in
den stillen Alpentälern die aus der Welt verschwundene Unschuld.
Tiefrührend ist seine Klage; mit energischer, fast bitterer Satire
zeichnet er die Verirrungen des Verstandes und Herzens und mit Liebe die
schöne Einfalt der Natur. Nur überwiegt überall zu sehr der Begriff in
seinen Gemälden, so wie in ihm selbst der Verstand über die Empfindung
den Meister spielt. Daher lehrt er durchgängig mehr, als er darstellt,
und stellt durchgängig mit mehr kräftigen als lieblichen Zügen dar. Er
ist groß, kühn, feurig, erhaben; zur Schönheit aber hat er sich selten
oder niemals erhoben.
An Ideengehalt und an Tiefe des Geistes steht Kleist diesem Dichter um
Vieles nach; an Anmut möchte er ihn übertreffen, wenn wir ihm anders
nicht, wie zuweilen geschieht, einen Mangel auf der einen Seite für eine
Stärke auf der andern anrechnen. Kleists gefühlvolle Seele schwelgt am
liebsten im Anblick ländlicher Szenen und Sitten. Er flieht gerne das
leere Geräusch der Gesellschaft und findet im Schoß der leblosen Natur
die Harmonie und den Frieden, den er in der moralischen Welt vermisst.
Wie rührend ist seine Sehnsucht nach Ruhe!15 Wie wahr und
gefühlt, wenn er singt:
»O Welt, du bist des wahren Lebens Grab!
Oft reizet mich ein heißer Trieb zur Tugend,
Für Wehmut rollt ein Bach die Wang' herab,
Das Beispiel siegt, und du, o Feur der Jugend,
Ihr trocknet bald die edeln Tränen ein.
Ein wahrer Mensch muss fern von Menschen sein.«
Aber, hat ihn sein Dichtungstrieb aus dem einengenden Kreis der
Verhältnisse heraus in die geistreiche Einsamkeit der Natur geführt, so
verfolgt ihn auch noch bis hieher das ängstliche Bild des Zeitalters und
leider auch seine Fesseln. Was er fliehet, ist in ihm, was er suchet,
ist ewig außer ihm; nie kann er den üblen Einfluss seines Jahrhunderts
verwinden. Ist sein Herz gleich feurig, seine Phantasie gleich energisch
genug, die toten Gebilde des Verstandes durch die Darstellung zu
beseelen, so entseelt der kalte Gedanke eben so oft wieder die lebendige
Schöpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion stört das geheime Werk
der Empfindung. Bunt zwar und prangend wie der Frühling, den er besang,
ist seine Dichtung, seine Phantasie ist rege und tätig; doch möchte man
sie eher veränderlich als reich, eher spielend als schaffend, eher
unruhig fortschreitend als sammelnd und bildend nennen. Schnell und
üppig wechseln Züge auf Züge, aber ohne sich zum Individuum zu
konzentrieren, ohne sich zum Leben zu füllen und zur Gestalt zu runden.
So lang er bloß lyrisch dichtet und bloß bei landschaftlichen Gemälden
verweilt, lässt uns teils die größere Freiheit der lyrischen Form,
teils die willkürliche Beschaffenheit seines Stoffs diesen Mangel
übersehen, indem wir hier überhaupt mehr die Gefühle des Dichters als
den Gegenstand selbst dargestellt verlangen. Aber der Fehler wird nur
allzu merklich, wenn er sich, wie in seinem Cissides und Paches und in
seinem Seneca, herausnimmt, Menschen und menschliche Handlungen
darzustellen, weil hier die Einbildungskraft sich zwischen festen und
notwendigen Grenzen eingeschlossen sieht und der poetische Effekt nur
aus dem Gegenstand hervorgehen kann. Hier wird er dürftig, langweilig,
mager und bis zum Unerträglichen frostig; ein warnendes Beispiel für
Alle, die ohne innern Beruf aus dem Felde musikalischer Poesie in das
Gebiet der bildenden sich versteigen. Einem verwandten Genie, dem
Thomson, ist die nämliche Menschlichkeit begegnet.
In der sentimentalischen Gattung und besonders in dem elegischen Teil
derselben möchten wenige aus den neuern und noch weniger aus den ältern
Dichtern mit unserm Klopstock zu vergleichen sein. Was nur immer,
außerhalb den Grenzen lebendiger Form und außer dem Gebiete der
Individualität, im Felde der Idealität zu erreichen ist, ist von diesem
musikalischen Dichter geleistet.16 Zwar würde man ihm großes
Unrecht tun, wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendigkeit,
womit der naive Dichter seinen Gegenstand schildert, überhaupt
absprechen wollen. Viele seiner Oden, mehrere einzelne Züge in seinen
Dramen und in seinem Messias stellen den Gegenstand mit treffender
Wahrheit und in schöner Umgrenzung dar; da besonders, wo der Gegenstand
sein eigenes Herz ist, hat er nicht selten eine große Natur, eine
reizende Naivität bewiesen. Nur liegt hierin seine Stärke nicht, nur
möchte sich diese Eigenschaft nicht durch das Ganze seines dichterischen
Kreises durchführen lassen. So eine herrliche Schöpfung die Messiade in
musikalisch poetischer Rücksicht nach der oben gegebenen Bestimmung ist,
so vieles lässt sie in plastisch poetischer noch zu wünschen übrig, wo
man bestimmte und für die Anschauung bestimmte Formen erwartet. Bestimmt
genug möchten vielleicht noch die Figuren in diesem Gedichte sein, aber
nicht für die Anschauung; nur die Abstraktion hat sie erschaffen, nur
die Abstraktion kann sie unterscheiden. Sie sind gute Exempel zu
Begriffen, aber keine Individuen, keine lebenden Gestalten. Der
Einbildungskraft, an die doch der Dichter sich wenden, und die er durch
die durchgängige Bestimmung seiner Formen beherrschen soll, ist es viel
zu sehr freigestellt, auf was Art sie sich diese Menschen und Engel,
diese Götter und Satane, diesen Himmel und diese Hölle versinnlichen
will. Es ist ein Umriss gegeben, innerhalb dessen der Verstand sie
notwendig denken muss, aber keine feste Grenze ist gesetzt, innerhalb
deren die Phantasie sie notwendig darstellen müsste. Was ich hier von
den Charakteren sage, gilt von allem, was in diesem Gedichte Leben und
Handlung ist oder sein soll, und nicht bloß in dieser Epopöe, auch in
den dramatischen Poesien unsers Dichters. Für den Verstand ist alles
trefflich bestimmt und begrenzt (ich will hier nur an seinen Judas,
seinen Pilatus, seinen Philo, seinen Salomo, im Trauerspiel dieses
Namens, erinnern); aber es ist viel zu formlos für die Einbildungskraft,
und hier, ich gestehe es frei heraus, finde ich diesen Dichter ganz und
gar nicht in seiner Sphäre.
Seine Sphäre ist immer das Ideenreich, und ins Unendliche weiß er alles,
was er bearbeitet, hinüberzuführen. Man möchte sagen, er ziehe allem,
was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie
andere Dichter alles Geistige mit einem Körper bekleiden. Beinahe jeder
Genus, den seine Dichtungen gewähren, muss durch eine Übung der
Denkkraft errungen werden; alle Gefühle, die er und zwar so innig und so
mächtig in uns zu erregen weiß, strömen aus übersinnlichen Quellen
hervor. Daher dieser Ernst, diese Kraft, dieser Schwung, diese Tiefe,
die alles charakterisieren, was von ihm kommt; daher auch diese
immerwährende Spannung des Gemüts, in der wir bei Lesung desselben
erhalten werden. Kein Dichter (Young etwa ausgenommen, der darin mehr
fordert als er, aber ohne es, wie er taut, zu vergüten) dürfte sich
weniger zum Liebling und zum Begleiter durchs Leben schicken, als gerade
Klopstock, der uns immer nur aus dem Leben herausführt, immer nur den
Geist unter die Waffen ruft, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart
eines Objekts zu erquicken. Keusch, überirdisch, unkörperlich, heilig,
wie seine Religion, ist seine dichterische Muse, und man muss mit
Bewunderung gestehen, dass er, wiewohl zuweilen in diesen Höhen verirret,
doch niemals davon herabgesunken ist. Ich bekenne daher unverhohlen,
dass
mir für den Kopf Desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne
Affektation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuche machen kann, zu
einem Buche nämlich, bei dem man zu jeder Lage sich stimmen, zu dem man
aus jeder Lage zurückkehren kann; auch, dächte ich, hätte man in
Deutschland Früchte genug von seiner gefährlichen Herrschaft gesehen.
Nur in gewissen exaltierten Stimmungen des Gemüts kann er gesucht und
empfunden werden; deswegen ist er auch der Abgott der Jugend, obgleich
bei weitem nicht ihre glücklichste Wahl. Die Jugend, die immer über das
Leben hinausstrebt, die alle Form fliehet und jede Grenze zu enge
findet, ergeht sich mit Liebe und Lust in den endlosen Räumen, die ihr
von diesem Dichter aufgetan werden. Wenn dann der Jüngling Mann wird
und aus dem Reiche der Ideen in die Grenzen der Erfahrung zurückkehrt,
so verliert sich Vieles, sehr Vieles von jener enthusiastischen Liebe,
aber nichts von der Achtung, die man einer so einzigen Erscheinung,
einem so außerordentlichen Genius, einem so sehr veredelten Gefühl, die
der Deutsche besonders einem so hohen Verdienste schuldig ist.
Ich nannte diesen Dichter vorzugsweise in der elegischen Gattung groß,
und kaum wird es nötig sein, dieses Urteil noch besonders zu
rechtfertigen. Fähig zu jeder Energie und Meister auf dem ganzen Felde
sentimentalischer Dichtung, kann er uns bald durch das höchste Pathos
erschüttern, bald in himmlisch süße Empfindungen wiegen; aber zu einer
hohen, geistreichen Wehmut neigt sich doch überwiegend sein Herz; und
wie erhaben auch seine Harfe, seine Lyra tönt, so werden die
schmelzenden Töne seiner Laute doch immer wahrer und tiefer und
beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes reingestimmte Gefühl, ob
es nicht alles Kühne und Starke, alle Fiktionen, alle prachtvollen
Beschreibungen, alle Muster oratorischer Beredsamkeit im Messias, alle
schimmernden Gleichnisse, worin unser Dichter so vorzüglich glücklich
ist, für die zarten Empfindungen hingeben würde, welche in der Elegie an
Ebert, in dem herrlichen Gedicht Bardale, den frühen Gräbern, der
Sommernacht, dem Zürcher See und mehreren andern aus dieser Gattung
atmen. So ist mit die Messiade als ein Schatz elegischer Gefühle und
idealischer Schilderungen teuer, wie wenig sie mich auch als
Darstellung einer Handlung und als ein episches Werk befriedigt.
Vielleicht sollte ich, ehe ich dieses Gebiet
verlasse, auch noch an die Verdienste eines Uz, Denis, Geßner (in seinem
Tod Abels), Jacobi, von Gerstenberg, eines Hölty, von Göckingk und
mehrerer Andern in dieser Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen
rühren und, in der oben festgesetzten Bedeutung des Worts,
sentimentalisch gedichtet haben. Aber mein Zweck ist nicht, eine
Geschichte der deutschen Dichtkunst zu schreiben, sondern das oben
Gesagte durch einige Beispiele aus unsrer Literatur klar zu machen. Die
Verschiedenheit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und
moderne, naive und sentimentalische Dichter zu dem nämlichen Ziele gehen
– dass, wenn uns jene durch Natur, Individualität und lebendige
Sinnlichkeit rühren, diese durch Ideen und hohe Geistigkeit eine eben so
große, wenn gleich keine so ausgebreitete, Macht über unser Gemüt
beweisen.
An den bisherigen Beispielen hat man gesehen, wie der sentimentalische
Dichtergeist einen natürlichen Stoff behandelt; man könnte aber auch
interessiert sein, zu wissen, wie der naive Dichtergeist mit einem
sentimentalischen Stoff verfährt. Völlig neu und von einer ganz eigenen
Schwierigkeit scheint diese Aufgabe zu sein, da in der alten und naiven
Welt ein solcher Stoff sich nicht vorfand, in der neuen aber der Dichter
dazu fehlen möchte. Dennoch hat sich das Genie auch diese Aufgabe
gemacht und auf eine bewunderungswürdig glückliche Weise aufgelöst. Ein
Charakter, der mit glühender Empfindung ein Ideal umfasst und die
Wirklichkeit fliehet, um nach einem wesenlosen Unendlichen zu ringen,
der, was er in sich selbst unaufhörlich zerstört, unaufhörlich außer
sich sucht, dem nur seine Träume das Reelle, seine Erfahrungen ewig nur
Schranken sind, der endlich in seinem eigenen Dasein nur eine Schranke
sieht und auch diese, wie billig ist, noch einreißt, um zu der wahren
Realität durchzudringen – dieses gefährliche Extrem des
sentimentalischen Charakters ist der Stoff eines Dichters geworden, in
welchem die Natur getreuer und reiner als in irgend einem andern wirkt,
und der sich unter modernen Dichtern vielleicht am wenigsten von der
sinnlichen Wahrheit der Dinge entfernt.
Es ist interessant, zu sehen, mit welchem glücklichen Instinkt alles,
was dem sentimentalischen Charakter Nahrung gibt,
im Werther
zusammengedrängt ist: schwärmerische unglücklichen Liebe, Empfindsamkeit
für Natur, Religionsgefühle, philosophischer Kontemplationsgeist,
endlich, um nichts zu vergessen, die düstre, gestaltlose, schwermütige Ossianische Welt. Rechnet man dazu, wie wenig empfehlend, ja, wie
feindlich die Wirklichkeit dagegen gestellt ist, und wie von außen her
alles sich vereinigt, den Gequälten in seine Idealwelt zurückzudrängen,
so sieht man keine Möglichkeit, wie ein solcher Charakter aus einem
solchen Kreise sich hätte retten können. In dem Tasso des nämlichen
Dichters kehrt der nämliche Gegensatz, wiewohl in ganz verschiedenen
Charakteren, zurück; selbst in seinem neuesten Roman stellt sich, so wie
in jenem ersten, der poetisierende Geist dem nüchternen Gemeinsinn, das
Ideale dem Wirklichen, die subjektive Vorstellungsweise der objektiven –
– aber mit welcher Verschiedenheit! entgegen; sogar im Faust treffen wir
den nämlichen Gegensatz, freilich, wie auch der Stoff dies erforderte,
auf beiden Seiten sehr vergröbert und materialisiert, wieder an; es
verlohnte wohl der Mühe, eine psychologische Entwicklung dieses in vier
so verschiedenen Arten spezifizierten Charakters zu versuchen.
Es ist oben bemerkt worden, dass die bloß leichte und joviale Gemütsart,
wenn ihr nicht eine innere Ideenfülle zum Grunde liegt, noch gar keinen
Beruf zur scherzhaften Satire abgebe, so freigebig sie auch im
gewöhnlichen Urteil dafür genommen wird; eben so wenig Beruf gibt die
bloß zärtliche Weichmütigkeit und Schwermut zur elegischen Dichtung.
Beiden fehlt zu dem wahren Dichtertalente das energische Prinzip,
welches den Stoff beleben muss, um das wahrhaft Schöne zu erzeugen.
Produkte dieser zärtlichen Gattung können uns daher bloß schmelzen und,
ohne das Herz zu erquicken und den Geist zu beschäftigen, bloß der
Sinnlichkeit schmeicheln. Ein fortgesetzter Hang zu dieser
Empfindungsweise muss zuletzt notwendig den Charakter entnerven und in
einen Zustand der Passivität versenken, aus welchem gar keine Realität,
weder für das äußre noch innre Leben, hervorgehen kann. Man hat daher
sehr Recht getan, jenes Übel der Empfindelei
17 und weinerliche
Wesen, welches durch Missdeutung und Nachäffung einiger vortrefflicher
Werke, vor etwa achtzehn Jahren, in Deutschland überhand zu nehmen
anfing, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen, obgleich die
Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel bessere Gegenstück jener
elegischen Karikatur, gegen das spaßhafte Wesen, gegen die herzlose
Satire und die geistlose Laune18 zu beweisen geneigt ist,
deutlich genug an den Tag legt, dass nicht aus ganz reinen Gründen
dagegen geeifert worden ist. Auf der Wage des echten Geschmacks kann das
Eine so wenig als das Andere etwas gelten, weil beiden der ästhetische
Gehalt fehlt, der nur in der innigen Verbindung des Geistes mit dem
Stoff und in der vereinigten Beziehung eines Produktes auf das
Gefühlvermögen und auf das Ideenvermögen enthalten ist.
Über Siegwart und seine Klostergeschichte hat man gespottet, und die
Reisen nach dem mittäglichen Frankreich werden bewundert; dennoch haben
beide Produkte gleich großen Anspruch auf einen gewissen Grad von
Schätzung und gleich geringen auf ein unbedingtes Lob. Wahre, obgleich
überspannte Empfindung macht den ersten Roman, ein leichter Humor und
ein aufgeweckter, feiner Verstand macht den zweiten schätzbar; aber, so
wie es dem einen durchaus an der gehörigen Nüchternheit des Verstandes
fehlt, so fehlt es dem andern an ästhetischer Würde. Der erste wird der
Erfahrung gegenüber ein wenig lächerlich, der andere wird dem Ideale
gegenüber beinahe verächtlich. Da nun das wahrhaft Schöne einerseits mit
der Natur und andrerseits mit dem Ideale übereinstimmend sein muss, so
kann der eine so wenig als der andere auf den Namen eines schönen Werks
Anspruch machen. Indessen ist es natürlich und billig, und ich weiß es
aus eigener Erfahrung, dass der Thümmel'sche Roman mit großem Vergnügen
gelesen wird. Da er nur solche Forderungen beleidigt, die aus dem Ideal
entspringen, die folglich von dem größten Teil der Leser gar nicht und
von dem bessern gerade nicht in solchen Momenten, wo man Romane liest,
aufgeworfen werden, die übrigen Forderungen des Geistes und – des
Körpers hingegen in nicht gemeinem Grade erfüllt, so muss er und wird mit
Recht ein Lieblingsbuch unserer und aller Zeiten bleiben, wo man
ästhetische Werke bloß schreibt, um zu gefallen, und bloß liest, um sich
ein Vergnügen zu machen.
Aber hat die poetische Literatur nicht sogar klassische Werke
aufzuweisen, welche die hohe Reinheit des Ideals auf ähnliche Weise zu
beleidigen und sich durch die Materialität ihres Inhalts von jener
Geistigkeit, die hier von jedem ästhetischem Kunstwerk verlangt wird,
sehr weit zu entfernen scheinen? Was selbst der Dichter, der keusche
Jünger der Muse, sich erlauben darf, sollte das dem Romanschreiber, der
nur sein Halbbruder ist und die Erde noch so sehr berührt, nicht
gestattet sein? Ich darf dieser Frage hier um so weniger ausweichen, da
sowohl im elegischen als im satirischen Fache Meisterstücke vorhanden
sind, welche eine ganz andere Natur, als diejenige ist, von der dieser
Aufsatz spricht, zu suchen, zu empfehlen und dieselbe nicht sowohl gegen
die schlechten als gegen die guten Sitten zu verteidigen das Ansehen
haben. Entweder müssten also jene Dichterwerke zu verwerfen, oder der
hier aufgestellte Begriff elegischer Dichtung viel zu willkürlich
angenommen sein.
Was der Dichter sich erlauben darf, hieß es, sollte dem prosaischen
Erzähler nicht nachgesehen werden dürfen? Die Antwort ist in der Frage
schon enthalten: was dem Dichter verstattet ist, kann für Den, der es
nicht ist, nichts beweisen. In dem Begriffe des Dichters selbst und nur
in diesem liegt der Grund jener Freiheit, die eine bloß verächtliche
Lizenz ist, sobald sie nicht aus dem Höchsten und Edelsten, was ihn
ausmacht, kann abgeleitet werden.
Die Gesetze des Anstandes sind der unschuldigen Natur fremd; nur die
Erfahrung der Verderbnis hat ihnen den Ursprung gegeben. Sobald aber
jene Erfahrung einmal gemacht worden und aus den Sitten die natürliche
Unschuld verschwunden ist, so sind es heilige Gesetze, die ein
sittliches Gefühl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer künstlichen
Welt mit demselben Rechte, als die Gesetze der Natur in der Unschuldwelt
regieren. Aber eben das macht ja den Dichter aus, dass er alles in sich
aufhebt, was an eine künstliche Welt erinnert, dass er die Natur in ihrer
ursprünglichen Einfalt wieder in sich herzustellen weiß. Hat er aber
dieses getan, so ist er auch eben dadurch von allen Gesetzen
losgesprochen, durch die ein verführtes Herz sich gegen sich selbst
sicher stellt. Er ist rein, er ist unschuldig, und was der unschuldigen
Natur erlaubt ist, ist es auch ihm; bist du, der du ihn liesest oder
hörst, nicht mehr schuldlos, und kannst du es nicht einmal momentweise
durch seine reinigende Gegenwart werden, so ist es dein Unglück und
nicht das seine; du verlässest ihn, er hat für dich nicht gesungen.
Es lässt sich also, in Absicht auf Freiheiten dieser Art, folgendes
festsetzen.
Fürs erste: nur die Natur kann sie rechtfertigen. Sie dürfen mithin
nicht das Werk der Wahl und einer absichtlichen Nachahmung sein; denn
dem Willen, der immer nach moralischen Gesetzen gerichtet wird, können
wir eine Begünstigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie müssen also
Naivität sein. Um uns aber überzeugen zu können, dass sie dieses wirklich
sind, müssen wir sie von allem Übrigen, was gleichfalls in der Natur
gegründet ist, unterstützt und begleitet sehen, weil die Natur nur an
der strengen Konsequenz, Einheit und Gleichförmigkeit ihrer Wirkungen zu
erkennen ist. Nur einem Herzen, welches alle Künstelei überhaupt und
mithin auch da, wo sie nützt, verabscheut, erlauben wir, sich da, wo sie
drückt und einschränkt, davon loszusprechen; nur einem Herzen, welches
sich allen Fesseln der Natur unterwirft, erlauben wir, von den
Freiheiten derselben Gebrauch zu machen. Alle übrigen Empfindungen eines
solchen Menschen müssen folglich das Gepräge der Natürlichkeit an sich
tragen; er muss wahr, einfach, frei, offen, gefühlvoll, gerade sein; alle
Verstellung, alle List, alle Willkür, alle kleinliche Selbstsucht muss
aus seinem Charakter, alle Spuren davon aus seinem Werke verbannt sein.
Fürs zweite: nur die schöne Natur kann dergleichen Freiheiten
rechtfertigen. Sie dürfen mithin kein einseitiger Ausbruch der Begierde
sein; denn alles, was aus bloßer Bedürftigkeit entspringt, ist
verächtlich. Aus dem Ganzen und aus der Fülle menschlicher Natur müssen
auch diese sinnlichen Energien hervorgehen. Sie müssen Humanität sein.
Um aber beurteilen zu können, dass das Ganze menschlicher Natur, und
nicht bloß ein einseitiges und gemeines Bedürfnis der Sinnlichkeit sie
fordert, müssen wir das Ganze, von dem sie einen einzelnen Zug
ausmachen, dargestellt sehen. An sich se ist die sinnliche
Empfindungsweise etwas Unschuldiges und Gleichgültiges. Sie missfällt uns
nur darum an einem Menschen, weil sie tierisch ist und von einem Mangel
wahrer, vollkommener Menschheit in ihm zeuget; sie beleidiget uns nur
darum an einem Dichterwerk, weil ein solches Werk Anspruch macht, uns zu
gefallen, mithin auch uns eines solchen Mangels fähig hält. Sehen wir
aber in dem Menschen, der sich dabei überraschen lässt, die Menschheit in
ihrem ganzen übrigen Umfange wirken, finden wir in dem Werke, worin man
sich Freiheiten dieser Art genommen, alle Realitäten der Menschheit
ausgedrückt, so ist jener Grund unseres Missfallens weggeräumt, und wir
können uns mit unvergällter Freude an dem naiven Ausdruck wahrer und
schöner Natur ergötzen. Derselbe Dichter also, der sich erlauben darf,
uns zu Teilnehmern so niedrig menschlicher Gefühle zu machen, muss uns
auf der andern Seite wieder zu allem, was groß und schön und erhaben
menschlich ist, emporzutragen wissen.
Und so hätten wir denn den Maßstab gefunden, dem wir jeden Dichter, der
sich etwas gegen den Anstand herausnimmt und seine Freiheit in
Darstellung der Natur bis zu dieser Grenze treibt, mit Sicherheit
unterwerfen können. Sein Produkt ist gemein, niedrig, ohne alle Ausnahme
verwerflich, sobald es kalt und sobald es leer ist, weil dieses einen
Ursprung aus Absicht und aus einem gemeinen Bedürfnis und einen
heillosen Anschlag auf unsere Begierden beweist. Es ist hingegen schön,
edel und ohne Rücksicht auf alle Einwendungen einer frostigen Dezenz
beifallswürdig, sobald es naiv ist und Geist mit Herz verbindet.19
Wenn man mir sagt, dass unter dem hier gegebenen Maßstab die meisten
französischen Erzählungen in dieser Gattung und die glücklichsten
Nachahmungen derselben in Deutschland nicht zum besten bestehen möchten
– dass dieses zum Teil auch der Fall mit manchen Produkten unsers
anmutigsten und geistreichsten Dichters sein dürfte, seien
Meisterstücke sogar nicht ausgenommen, so habe ich nichts darauf zu
antworten. der Ausspruch selbst ist nichts weniger als neu, und ich gebe
hier nur die Gründe von einem Urteil an, welches längst schon von jedem
feineren Gefühle über diese Gegenstände gefällt worden ist. Eben diese
Prinzipien aber, welche in Rücksicht auf jene Schriften vielleicht allzu
rigoristisch scheinen, möchten in Rücksicht auf einige andere Werke
vielleicht zu liberal befunden werden; denn ich leugne nicht, dass die
nämlichen Gründe, aus welchen ich die verführerischen Gemälde des
römischen und deutschen Ovid, so wie eines Crebillon, Voltaire,
Marmontel (der sich einen moralischen Erzähler nennt), Laclos und vieler
Andern einer Entschuldigung durchaus für unfähig halte, mich mit den
Elegien des römischen und deutschen Properz, ja selbst mit manchem
verschrienen Produkt des Diderot versöhnen; denn jene sind nur witzig,
nur prosaisch, nur lüstern, diese sind poetisch, menschlich und naiv.20
Idylle.
Es bleiben mir
noch einige Worte über diese dritte Spezies sentimentalischer Dichtung
zu sagen übrig, wenige Worte nur, denn eine ausführlichere Entwicklung
derselben, deren sie vorzüglich bedarf, bleibt einer andern Zeit
vorbehalten. 21
Die sentimentalische Dichtung nämlich unterscheidet sich dadurch von der
naiven, dass sie den wirklichen Zustand, bei dem die letztere stehen
bleibt, auf Ideen bezieht und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet. Sie
hat es daher immer, wie auch schon oben bemerkt worden ist, mit zwei
streitenden Objekten, mit dem Ideale nämlich und mit der Erfahrung,
zugleich zu tun, zwischen welchen sich weder mehr noch weniger als
gerade die drei folgenden Verhältnisse denken lassen. Entweder ist es
der Widerspruch des wirklichen Zustandes, oder es ist die
Übereinstimmung desselben mit dem Ideal, welche vorzugsweise das
Gemüt beschäftigt, oder dieses ist zwischen beiden geteilt. In dem
ersten Falle wird es durch die Kraft des innern Streits, durch die
energische Bewegung, in dem andern wird es durch die Harmonie des
innern Lebens, durch die energische Ruhe, befriedigt, in dem
dritten wechselt Streit mit Harmonie, wechselt Ruhe mit Bewegung.
Dieser dreifache Empfindungszustand gibt drei verschiedenen
Dichtungsarten die Entstehung, denen die gebrauchten Benennungen
Satire, Idylle, Elegie vollkommen entsprechend sind, sobald man sich
nur an die Stimmung erinnert, in welche die unter diesem Namen
vorkommenden Gedichtarten das Gemüt versetzen, und von den Mitteln
abstrahiert, wodurch sie dieselbe bewirken.
Wer daher hier noch fragen könnte, zu welcher von den drei Gattungen ich
die Epopöe, den Roman, das Trauerspiel u. a. m. zähle, der würde mich
ganz und gar nicht verstanden haben. Denn der Begriff dieser letztern,
als einzelner Gedichtarten, wird entweder gar nicht, oder doch
nicht allein durch die Empfindungsweise, bestimmt; vielmehr weiß man,
dass solche in mehr als einer Empfindungsweise, folglich auch in
mehreren der von mir aufgestellten Dichtungsarten ausgeführt werden.
Schließlich bemerke ich hier noch, dass, wenn man die sentimentalische
Poesie, wie billig, für eine echte Art (nicht bloß für eine Abart) und
für eine Erweiterung der wahren Dichtkunst zu halten geneigt ist, in der
Bestimmung der poetischen Arten, sowie überhaupt in der ganzen
poetischen Gesetzgebung, welche noch immer einseitig auf die Observanz
der alten und naiven Dichter gegründet wird, auch auf sie einige
Rücksicht muss genommen werden. Der sentimentalische Dichter geht in zu
wesentlichen Stücken von dem naiven ab, als dass ihm die Formen, welche
dieser eingeführt, überall ungezwungen anpassen könnten. Freilich ist es
hier schwer, die Ausnahmen, welche die Verschiedenheit der Art
erfordert, von den Ausflüchten, welche das Unvermögen sich erlaubt,
immer richtig zu unterscheiden: aber so viel lehrt doch die Erfahrung,
dass unter den Händen sentimentalischer Dichter (auch der
vorzüglichsten) keine einzige Gedichtart ganz das geblieben ist, was sie
bei den Alten gewesen, und dass unter den alten Namen öfters sehr neue
Gattungen sind ausgeführt worden.
Die poetische Darstellung unschuldiger und unglücklicher Menschheit ist
der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart. Weil diese Unschuld und
dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der größern Societät und
mit einem gewissen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich
schienen, so haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem
Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand
verlegt und derselben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in
dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen. Man begreift aber wohl,
dass diese Bestimmungen bloß zufällig sind, dass sie nicht als der Zweck
der Idylle, bloß als das natürlichste Mittel zu demselben in Betrachtung
kommen. Der Zweck selbst ist überall nur der, den Menschen im Stand der
Unschuld, d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich
selbst und von außen darzustellen.
Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur
statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall nur eine
bestimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtigt. Die
Idee dieses Zustandes allein und der Glaube an die mögliche Realität
derselben kann den Menschen mit allen den Übeln versöhnen, denen er auf
dem Wege der Kultur unterworfen ist, und wäre sie bloß Chimäre, so
würden die Klagen Derer, welche die größere Societät und die Anbauung
des Verstandes bloß als ein Über verschreien und jenen verlassenen Stand
der Natur für den wahren Zweck des Menschen ausgeben, vollkommen
gegründet sein. Dem Menschen, der in der Kultur begriffen ist, liegt
also unendlich viel daran, von der Ausführbarkeit jener Idee in der
Sinnenwelt, von der möglichen Realität jenes Zustandes eine sinnliche
Bekräftigung zu erhalten, und da die wirkliche Erfahrung, weit entfernt,
diesen Glauben zu nähren, ihn vielmehr beständig widerlegt, so kömmt
auch hier, wie in so vielen andern Fällen, das Dichtungsvermögen der
Vernunft zu Hilfe, um jene Idee zur Anschauung zu bringen und in einem
einzelnen Fell zu verwirklichen.
Zwar ist auch jene Unschuld des Hirtenstandes eine poetische
Vorstellung, und die Einbildungskraft musste sich mithin auch dort schon
schöpferisch beweisen; aber außerdem, dass die Aufgabe dort ungleich
einfacher und leichter zu lösen war, so fanden sich in der Erfahrung
selbst schon die einzelnen Züge vor, die sie nur auszuwählen und in ein
Ganzes zu verbinden brauchte. Unter einem glücklichen Himmel, in den
einfachen Verhältnissen des ersten Standes, bei einem beschränkten
Wissen wird die Natur leicht befriedigt, und der Mensch verwildert nicht
eher, als bis das Bedürfnis ihn ängstiget. Alle Völker, die eine
Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein
goldnes Alter, ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldnes
Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger Poetisches in
seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert. Die
Erfahrung selbst bietet also Züge genug zu dem Gemälde dar, welches die
Hirten-Idylle behandelt. Deswegen bleibt aber diese immer eine schöne,
eine erhebende Fiktion, und die Dichtungskraft hat in Darstellung
derselben wirklich für das Ideal gearbeitet. Denn für den Menschen, der
von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der gefährlichen Führung
seiner Vernunft überliefert worden ist, ist es von unendlicher
Wichtigkeit, die Gesetzgebung der Natur in einem reinen Exemplar wieder
anzuschauen und sich von den Verderbnissen der Kunst in diesem treuen
Spiegel wieder reinigen zu können. Aber ein Umstand findet sich dabei,
der den ästhetischen Werth solcher Dichtungen um sehr viel vermindert.
Vor dem Anfang der Kultur gepflanzt, schließen sie mit den
Nachtheilen zugleich alle Vorteile derselben aus und befinden sich ihrem
Wesen nach in einem notwendigen Streit mit derselben. Sie führen uns
also theoretisch rückwärts, indem sie uns praktisch
vorwärts führen und veredeln. Sie stellen unglücklicher Weise das Ziel
hinter uns, indem sie uns doch entgegen führen sollten,
und können uns daher bloß das traurige Gefühl des Verlustes, nicht das
fröhliche der Hoffnung einflößen. Weil sie nur durch Aufhebung aller
Kunst und nur durch Vereinfachung der menschlichen Natur ihren Zweck
ausführen, so haben sie, bei dem höchsten Gehalt für das Herz,
allzu wenig für den Geist, und ihr einförmiger Kreis ist zu
schnell geendigt. Wir können sie daher nur lieben und aufsuchen, wenn
wir der Ruhe bedürftig sind, nicht wenn unsre Kräfte nach Bewegung und
Tätigkeit streben. Sie können nur dem kranken Gemühte Heilung,
dem gesunden keine Nahrung geben; sie können nicht beleben, nur
besänftigen. Diesen in dem Wesen der Hirten-Idylle gegründeten Mangel
hat alle Kunst der Poeten nicht gut machen können. Zwar fehlt es auch
dieser Dichtart nicht an enthusiastischen Liebhabern, und es gibt Leser
genug, die einen Amyntas und einen Daphnis den größten Meisterstücken
der epischen und dramatischen Muse vorziehen können; aber bei solchen
Lesern ist es nicht sowohl der Geschmack als das individuelle Bedürfnis,
was über Kunstwerke richtet, und ihr Urteil kann folglich hier in keine
Betrachtung kommen. Der Leser von Geist und Empfindung verkennt zwar den
Werth solcher Dichtungen nicht, aber es fühlt sich seltner zu denselben
gezogen und früher davon gesättigt. In dem rechten Moment des
Bedürfnisses wirken sie dafür desto mächtiger; aber auf einen solchen
Moment soll das wahre Schöne niemals zu warten brauchen, sondern ihn
vielmehr erzeugen.
Was ich hier an der Schäfer-Idylle tadle, gilt übrigens nur von der
sentimentalischen; denn der naiven kann es nie an Gehalt fehlen, da er
hier in der Form selbst schon enthalten ist. Jede Poesie nämlich
muss einen unendlichen Gehalt haben, dadurch allein ist sie Poesie; aber
sie kann diese Forderung auf zwei verschiedene Arten erfüllen. Sie kann
ein Unendliches sein, der Form nach, wenn sie ihren Gegenstand mit
allen seinen Grenzen darstellt, wenn sie ihn individualisiert; sie
kann ein Unendliches sein, der Materie nach, wenn sie von ihrem
Gegenstand alle Grenzen entfernt, wenn sie ihn idealisiert, also
entweder durch eine absolute Darstellung oder durch Darstellung eines
Absoluten. Den ersten Weg geht der naive, den zweiten der
sentimentalische Dichter. Jener kann also seinen Gehalt nicht verfehlen,
sobald er sich nur treu an die Natur hält, welche immer durchgängig
begrenzt, d. h. der Form nach unendlich ist. Diesem hingegen steht die
Natur mit ihrer durchgängigen Begrenzung im Wege, da er einen absoluten
Gehalt in den Gegenstand legen soll. Der sentimentalische Dichter
versteht sich also nicht gut auf seinen Vorteil, wenn er dem naiven
Dichter seine Gegenstände abborgt, welche an sich selbst völlig
gleichgültig sind und nur durch die Behandlung poetisch werden. Er setzt
sich dadurch ganz unnötiger Weise einerlei Grenzen mit jenem, ohne doch
die Begrenzung vollkommen durchzuführen und in der absoluten
Bestimmtheit der Darstellung mit demselben wetteifern zu können; er
sollte sich also vielmehr gerade in dem Gegenstand von dem naiven
Dichter entfernen, weil er diesem, was derselbe in der Form vor ihm
voraus hat, nur durch den Gegenstand wieder abgewinnen kann.
Um hievon die Anwendung auf die Schäfer-Idylle der sentimentalischen
Dichter zu machen, so erklärt es sich nun, warum diese Dichtungen bei
allem Aufwand von Genie und Kunst weder für das Herz noch für den Geist
völlig befriedigend sind. Sie haben ein Ideal ausgeführt und doch die
enge dürftige Hirtenwelt beibehalten, da sie doch schlechterdings
entweder für das Ideal eine andere Welt, oder für die Hirtenwelt eine
andere Darstellung hätten wählen sollen. Sie sind gerade so weit ideal,
dass die Darstellung dadurch an individueller Wahrheit verliert, und
sind wieder gerade um so viel individuell, dass der idealische Gehalt
darunter leidet. Ein Geßnerischer Hirte z. B. kann uns nicht als
Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzücken, denn dazu ist er
ein zu ideales Wesen; eben so wenig kann er uns als ein Ideal durch das
Unendliche der Gedanken befriedigen, denn dazu ist er ein viel zu
dürftiges Geschöpf. Er wird also zwar bis auf einen gewissen Punkt
alle Klassen von Lesen ohne Ausnahme gefallen, weil er das Naive
mit dem Sentimentalen zu vereinigen strebt und folglich den zwei
entgegengesetzten Forderungen, die an ein Gedicht gemacht werden können,
in einem gewissen Grade Genüge leistet; weil aber der Dichter über der
Bemühung, Beides zu vereinigen, keinem von beiden sein volles Recht
erweist, weder ganz Natur noch ganz Ideal ist, so kann es eben
deswegen vor einem strengen Geschmack nicht ganz bestehen, der in
ästhetischen Dingen nichts Halbes verzeihen kann. Es ist sonderbar, dass
diese Halbheit sich auch bis auf die Sprache des genannten Dichters
erstreckt, die zwischen Poesie und Prosa unentschieden schwankt, als
fürchtete der Dichter, in gebundener Rede sich von der wirklichen Natur
zu weit zu entfernen und in ungebundener den poetischen Schwung zu
verlieren. Eine höhere Befriedigung gewährt Miltons herrliche
Darstellung des ersten Menschenpaares und des Standes der Unschuld im
Paradiese; die schönste mir bekannte Idylle in der sentimentalischen
Gattung. Hier ist die Natur edel, geistreich, zugleich voll Fläche und
voll Tiefe; der höchste Gehalt der Menschheit ist in die anmutigste Form
eingekleidet.
Also auch hier in der Idylle, wie in allen andern poetischen Gattungen,
muss man einmal für allemal zwischen der Individualität und der
Idealität eine Wahl treffen; denn beide Forderungen zugleich Genüge
leisten zu wollen, ist, so lange man nicht am Ziel der Vollkommenheit
steht, der sicherste Weg, beide zugleich zu verfehlen. Fühlt sich der
Moderne griechischen Geistes genug, um bei aller Widerspenstigkeit
seines Stoffs mit den Griechen auf ihrem eigenen Felde, nämlich dem
Felde naiver Dichtung, zu ringen, so tue er es ganz und tue es
ausschließend und setze sich über jede Forderung des sentimentalischen
Zeitgeschmacks hinweg. Erreichen zwar dürfte er seine Muster schwerlich;
zwischen dem Original und dem glücklichsten Nachahmer wird immer eine
merkliche Distanz offen bleiben; aber er ist auf diesem Wege doch
gewiss, ein echt poetisches Werk zu erzeugen.Treibt
ihn hingegen der sentimentalische Dichtungstrieb zum Ideale, so verfolge
er auch dieses ganz, in völliger Reinheit, und stehe nicht eher als bei
dem Höchsten stille, ohne hinter sich zu schauen, ob auch die
Wirklichkeit ihm nachkommen möchte. Er verschmähe den unwürdigen Ausweg,
den Gehalt des Ideals zu verschlechtern, um es der menschlichen
Bedürftigkeit anzupassen, und den Geist auszuschließen, um mit dem
Herzen ein leichteres Spiel zu haben. Er führe uns nicht rückwärts in
unsere Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes
eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann, als der
Schlaf unserer Geisteskräfte, sondern führe uns vorwärts zu unserer
Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den
Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt. Er mache sich die Aufgabe
einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur
und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des
ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten
gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort,
den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück
kann, bis nach Elysium führt.
Der Begriff dieser Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten
Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer
freien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten
sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, kurz, es ist kein andrer, als
das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewendet. Ihr
Charakter besteht also darin, dass aller Gegensatz der Wirklichkeit
mit dem Ideale, der den Stoff zu der satirischen und elegischen
Dichtung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben sei und mit demselben
auch aller Streit der Empfindungen aufhöre. Ruhe wäre also der
herrschende Eindruck dieser Dichtungsart, aber Ruhe der Vollendung,
nicht der Trägheit; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht, nicht aus dem
Stillstand der Kräfte, die aus der Fülle, nicht aus der Leerheit fließt
und von dem Gefühl eines unendlichen Vermögens begleitet wird. Aber eben
darum, weil aller Widerstand hinwegfällt, so wird es hier ungleich
schwieriger, als in den zwei vorigen Dichtungsarten, die Bewegung
hervorzubringen, ohne welche doch überall keine poetische Wirkung sich
denken lässt. Die höchste Einheit muss sein, aber sie darf der
Mannigfaltigkeit nichts nehmen; das Gemüt muss befriedigt werden, aber
ohne dass das Streben darum aufhöre. Die Auflösung dieser Frage ist es
eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leisten hat.
Über das Verhältnis beider Dichtungsarten zu einander und zu dem
poetischen Ideale ist Folgendes festgesetzt worden.
Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine
ungeteilte Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbständiges und
vollendetes Ganzes zu sein und die Menschheit, ihrem vollen Gehalte
nach, in der Wirklichkeit darzustellen. Dem sentimentalischen hat sie
die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb eingeprägt,
jene Einheit, die durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich
selbst wieder herzustellen, die Menschheit in sich vollständig zu machen
und aus einem beschränkten Zustand zu einem unendlichen überzugehen. Der menschlichen Natur ihren völligen
Ausdruck zu geben, ist aber die gemeinschaftliche Aufgabe beider, und
ohne das würden sie gar nicht Dichter heißen können; aber der naive
Dichter hat vor dem sentimentalischen immer die sinnliche Realität
voraus, indem er dasjenige als eine wirkliche Tatsache ausführt, was der
andere nur zu erreichen strebt. Und das ist es auch, was Jeder bei sich
erfährt, wenn er sich beim Genusse naiver Dichtungen beobachtet. Er
fühlt alle Kräfte seiner Menschheit in einem solchen Augenblick tätig,
er bedarf nichts, er ist ein Ganzes in sich selbst; ohne etwas in seinem
Gefühl zu unterscheiden, freut er sich zugleich seiner geistigen
Tätigkeit und seines sinnlichen Lebens. Eine ganz andere Stimmung ist
es, in die ihn der sentimentalische Dichter versetzt. Hier fühlt er bloß
einen lebendigen Trieb, die Harmonie in sich zu erzeugen, welche
er dort wirklich empfand, ein Ganzes aus sich zu machen, ist hier das
Gemüt in Bewegung, es ist angespannt, es schwankt zwischen streitenden
Gefühlen, da es dort ruhig, aufgelöst, einig mit sich selbst und
vollkommen befriedigt ist.
Aber wenn es der naive Dichter dem sentimentalischen auf der einen Seite
an Realität abgewinnt und dasjenige zur wirklichen Existenz bringt,
wornach dieser nur einen lebendigen Trieb erwecken kann, so hat
letzterer wieder den großen Vorteil über den erstern, dass er dem Trieb
einen größeren Gegenstand zu geben im Stand ist, als jener
geleistet hat und leisten konnte. Alle Wirklichkeit, wissen wir, bleibt
hinter dem Ideale zurück; alles Existierende hat seine Schranken, aber
der Gedanke ist grenzenlos. Durch diese Einschränkung, der alles
Sinnliche unterworfen ist, leidet also auch der naive Dichter,
dahingegen die unbedingte Freiheit des Ideenvermögens dem
sentimentalischen zu Statten kommt. Jener erfüllt zwar also seine
Aufgabe, aber die Aufgabe selbst ist etwas Begrenztes; dieser erfüllt
zwar die seinige nicht ganz, aber die Aufgabe ist etwas Unendliches.
Auch hierüber kann einen Jeden seine eigene Erfahrung belehren. Von dem
naiven Dichter wendet man sich mit Leichtigkeit und Lust zu der
lebendigen Gegenwart; der sentimentalische wird immer, auf einige
Augenblicke, für das wirkliche Leben verstimmen. Das macht, unser Gemüt
ist hier durch das Unendliche der Idee gleichsam über seinen natürlichen
Durchmesser ausgedehnt worden, dass nichts Vorhandenes es mehr ausfüllen
kann. Wir versinken lieber betrachtend in uns selbst, wo wir für den
aufgeregten Trieb in der Ideenwelt Nahrung finden, anstatt dass wir dort
aus uns heraus nach sinnlichen Gegenständen streben. Die
sentimentalische Dichtung ist die Geburt der Abgezogenheit und Stille,
und dazu ladet sie auch ein; die naive ist das Kind des Lebens, und in
das Leben führt sie auch zurück.
Ich habe die naive Dichtung eine Gunst der Natur genannt, um zu
erinnern, dass die Reflexion keinen Anteil daran habe. Ein glücklicher
Wurf ist sie, keiner Verbesserung bedürftig, wenn er gelingt, aber auch
keiner fähig, wenn er verfehlt wird. In der Empfindung ist das ganze
Werk des naiven Genies absolviert; hier liegt seine Stärke und seine
Grenze. Hat es also nicht gleich dichterisch, das heißt, nicht gleich
vollkommen menschlich empfunden, so kann dieser Mangel durch
keine Kunst mehr nachgeholt werden. Die Kritik kann ihm nur zu einer
Einsicht des Fehlers verhelfen, aber sie kann keine Schönheit an dessen
Stelle setzen. Durch seine Natur muss das naive Genie alles tun, durch
seine Freiheit vermag es wenig; und es wird seinen Begriff erfüllen,
sobald nur die Natur in ihm nach einer innern Notwendigkeit wirkt. Nun
ist zwar alles notwendig, was durch Natur geschieht, und das ist auch
jedes noch so verunglückte Produkt des naiven Genies, von welchem nichts
mehr entfernt ist als Willkürlichkeit; aber ein andres ist die Nötigung
des Augenblicks, ein andres die innre Notwendigkeit des Ganzen. Als ein
Ganzes betrachtet, ist die Natur selbständig und unendlich; in jeder
einzelnen Wirkung hingegen ist sie bedürftig und beschränkt. Dieses gilt
daher auch von der Natur des Dichters. Auch der glücklichste Moment, in
welchem sich derselbe befinden mag, ist von einem vorhergehenden
abhängig; es kann ihm daher auch nur eine bedingte Notwendigkeit
beigelegt werden. Nun ergeht aber die Aufgabe an den Dichter, einen
einzelnen Zustand dem menschlichen Ganzen gleich zu machen, folglich ihn
absolut und notwendig auf sich selbst zu gründen. Aus dem Moment der
Begeisterung muss also jede Spur eines zeitlichen Bedürfnisses entfernt
bleiben, und der Gegenstand selbst, so beschränkt er auch sei, darf den
Dichter nicht beschränken. Man begreift wohl, dass dieses nur insoferne
möglich ist, als der Dichter schon eine absolute Freiheit und Fülle des
Vermögens zu dem Gegenstande mitbringt, und als er geübt ist, alles mit
seiner ganzen Menschheit zu umfassen. Diese Übung kann er aber nur durch
die Welt erhalten, in der er lebt, und von der er unmittelbar berührt
wird. Das naive Genie steht also in einer Abhängigkeit von der
Erfahrung, welche das sentimentalische nicht kennet. Dieses, wissen wir,
fängt seine Operation erst da an, wo jenes die seinige beschließt; seine
Stärke besteht darin, einen mangelhaften Gegenstand aus sich selbst
heraus zu ergänzen und sich durch eigene Macht aus einem begrenzten
Zustand in einen Zustand der Freiheit zu versetzen. Das naive
Dichtergenie bedarf also eines Beistandes von außen, da das
sentimentalische sich aus sich selbst nährt und reinigt; es muss eine
formreiche Natur, eine dichterische Welt, eine naive Menschheit um sich
her erblicken, da es schon in der Sinnenempfindung sein Werk zu
vollenden hat. Fehlt ihm nun dieser Beistand von außen, sieht es sich
von einem geistlosen Stoff umgeben, so kann nur Zweierlei geschehen. Es
tritt entweder, wenn die Gattung bei ihm überwiegend ist, aus seiner
Art und wird selbst, um nur dichterisch zu sein, oder, wenn der
Artcharakter die Obermacht behält, es tritt aus seiner Gattung
und wird gemeiner Natur, um nur Natur zu bleiben. Das erste
dürfte der Fall mit den vornehmsten sentimentalischen Dichtern in der
alten römischen Welt und in neueren Zeiten sein. In einem andern
Weltalter geboren, unter einen andern Himmel verpflanzt, würden sie, die
uns jetzt durch Ideen rühren, durch individuelle Wahrheit und naive
Schönheit bezaubert haben. Vor dem zweiten möchte sich schwerlich
ein Dichter vollkommen schützen können, der in einer gemeinen Welt die
Natur nicht verlassen kann.
Die wirkliche Natur nämlich; aber von dieser kann die wahre
Natur, die das Subjekt naiver Dichtung ist, nicht sorgfältig
genug unterschieden werden. Wirkliche Natur existiert überall, aber
wahre Natur ist desto seltener; denn dazu gehört eine innere
Notwendigkeit des Daseins. Wirkliche Natur ist jeder noch so gemeine
Ausbruch der Leidenschaft, er mag auch wahre Natur sein, aber eine wahre
menschliche ist er nicht; denn diese erfordert einen Anteil des
selbständigen Vermögens an jeder Äußerung, dessen Ausdruck jedes Mal
Würde ist. Wirkliche menschliche Natur ist jede moralische
Niederträchtigkeit, aber wahre menschliche Natur ist sie hoffentlich
nicht; denn diese kann nie anders als edel sein. Es ist nicht zu
übersehen, zu welchen Abgeschmacktheiten diese Verwechslung wirklicher
Natur mit wahrer menschlicher Natur in der Kritik wie in der Ausübung
verleitet hat: welche Trivialitäten man in der Poesie gestattet, ja
lobpreist, weil sie, leider! wirkliche Natur sind: wie man sich freuet,
Karikaturen, die Einen schon aus der wirklichen Welt herausängstigen, in
der dichterischen sorgfältig aufbewahrt und nach dem Leben konterfeit zu
sehen. Freilich darf der Dichter auch die schlechte Natur nachahmen, und
bei dem satirischen bringt dieses ja der Begriff schon mit sich; aber in
diesem Fall muss seine eine schöne Natur den Gegenstand übertragen
und der gemeine Stoff den Nachahmer nicht mit sich zu Boden ziehen. Ist
nur Er selbst, in dem Moment wenigstens, wo er schildert, wahre
menschliche Natur, so hat es nichts zu sagen, was er uns schildert; aber
auch schlechterdings nur von einem solchen können wir ein treues Gemälde
der Wirklichkeit vertragen. Wehe uns Lesern, wenn die Fratze sich in der
Fratze spiegelt, wenn die Geißel der Satire in die Hände Desjenigen
fällt, den die Natur eine viel ernstlichere Peitsche zu führen
bestimmte, wenn Menschen, die, entblößt von allem, was man poetischen
Geist nennt, nur das Affentalent gemeiner Nachahmung besitzen, es auf
Kosten unsres Geschmacks gräulich und schrecklich üben!
Aber selbst dem wahrhaft naiven Dichter, sagte ich, kann die gemeine
Natur gefährlich werden; denn endlich ist jene schöne Zusammenstimmung
zwischen Empfinden und Denken, welche den Charakter desselben ausmacht,
doch nur eine Idee, die in der Wirklichkeit nie ganz erreicht
wird; und auch bei den glücklichsten Genies aus dieser Klasse wird die
Empfänglichkeit die Selbsttätigkeit immer um etwas überwiegen. Die
Empfänglichkeit aber ist immer mehr oder weniger von dem äußern Eindruck
abhängig, und nur eine anhaltende Regsamkeit des produktiven Vermögens,
welche von der menschlichen Natur nicht zu erwarten ist, würde
verhindern können, dass der Stoff nicht zuweilen eine blinde Gewalt über
die Empfänglichkeit ausübte. So oft aber dies der Fall ist, wird aus
einem dichterischen Gefühl ein gemeines.
Kein Genie aus der naiven Klasse, von Homer bis auf Bodmer herab, hat
diese Klippe ganz vermieden; aber freilich ist die Denen am
gefährlichsten, die sich einer gemeinen Natur von außen zu erwehren
haben, oder die durch Mangel an Disziplin von innen verwildert sind.
Jenes ist Schuld, dass selbst gebildete Schriftsteller nicht immer von
Plattheiten frei bleiben, und dieses verhinderte schon manches herrliche
Talent, sich des Platzes zu bemächtigen, zu dem die Natur es berufen
hatte. Der Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem
wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten der Plattheit
ausgesetzt, wie auch das Beispiel des Aristophanes und Plautus und fast
alles der späteren Dichter lehret, die in die Fußtapfen derselben
getreten sind. Wie tief lässt uns nicht der erhabene Shakespeare
zuweilen sinken, mit welchen Trivialitäten quälen uns nicht Lope de
Vega, Molière, Regnard, Goldoni, in welchen Schlamm zieht uns nicht
Holberg hinab? Schlegel, einer der geistreichsten Dichter unsers
Vaterlandes, an dessen Genie es nicht lag, dass er nicht unter den
ersten in dieser Gattung glänzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter,
so wie auch Rabener, Lessing selbst, wenn ich ihn anders hier nennen
darf, Lessing, der gebildete Zögling der Kritik und ein so wachsamer
Richter seiner selbst – wie büßen sie nicht alle, mehr oder weniger, den
geistlosen Charakter der Natur, die sie zum Stoff ihrer Satire
erwählten. Von den neuesten Schriftstellern in dieser Gattung
nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann.
Und nicht genug, dass der naive Dichtergeist in Gefahr ist, sich einer
gemeinen Wirklichkeit allzu sehr zu nähern – durch die Leichtigkeit, mit
der er sich äußert, und durch eben diese größere Annäherung an das
wirkliche Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Muth, sich im
poetischen Felde zu versuchen. Die sentimentalische Poesie, wiewohl von
einer andern Seite gefährlich genug, wie ich hernach zeigen werde, hält
wenigstens dieses Volk in Entfernung, weil es nicht Jedermanns
Sache ist, sich zu Ideen zu erheben; die naive Poesie aber bringt es auf
den Glauben, als wenn schon die bloße Empfindung, der bloße Humor, die
bloße Nachahmung wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber ist
widerwärtiger, als wenn der platte Charakter sich einfallen lässt,
liebenswürdig und naiv sein zu wollen – er, der sich in alle Hüllen der
Kunst stecken sollte, um seine ekelhafte Natur zu verbergen. Daher denn
auch die unsäglichen Plattitüden, welche sich die Deutschen unter dem
Titel von naiven und scherzhaften Liedern vorsingen lassen, und an denen
sie sich bei einer wohlbesetzten Tafel ganz unendlich zu belustigen
pflegen. Unter dem Freibrief der Laune, der Empfindung duldet man diese
Armseligkeiten – aber einer Laune, einer Empfindung, die man nicht
sorgfältig genug verbannen kann. Die Musen an der Pleiße bilden
hier besonders einen eigenen kläglichen Chor, und ihnen wird von den
Kamönen an der Leine und Elbe in nicht bessern Akkorden
geantwortet.So insipid diese Scherze sind, so kläglich lässt sich der Affekt
auf unsern tragischen Bühnen hören, welcher, anstatt die wahre Natur
nachzuahmen, nur den geistlosen und unedlen Ausdruck der wirklichen
erreicht, so dass es uns nach einem solchen Tränenmahle gerade zu Muth
ist, als wenn wir einen Besuch in Spitälern abgelegt oder Salzmanns
menschliches Elend gelesen hätten. Noch viel schlimmer steht es um die
satirische Dichtkunst und um den komischen Roman insbesondre, die schon
ihrer Natur nach dem gemeinen Leben so nahe liegen und daher billig, wie
jeder Grenzposten, gerade in den besten Händen sein sollten. Derjenige
hat wahrlich den wenigsten Beruf, der Maler seiner Zeit zu
werden, der das Geschöpf und die Karikatur derselben ist;
aber da es etwas so Leichtes ist, irgend einen lustigen Charakter, wär'
es auch nur einen dicken Mann, unter seiner Bekanntschaft
aufzujagen und die Fratze mit einer groben Feder auf dem Papier
abzureißen, so fühlen zuweilen auch die geschworenen Feinde alles
poetischen Geistes den Kitzel, in diesem Fache zu stümpern und einen
Zirkel von würdigen Freunden mit der schönen Geburt zu ergötzen. Ein
reingestimmtes Gefühl freilich wird nie in Gefahr sein, diese
Erzeugnisse einer gemeinen Natur mit den geistreichen Früchten des
naiven Genies zu verwechseln; aber an dieser reinen Stimmung des Gefühls
fehlt es eben, und in den meisten Fällen will man bloß ein Bedürfnis
befriedigt haben, ohne dass der Geist eine Forderung machte. Der so
falsch verstandene, wiewohl an sich wahre Begriff, dass man sich bei
Werken des schönen Geistes erhole, trägt das Seine redlich zu
dieser Nachsicht bei, wenn man es anders Nachsicht nennen kann, wo
nichts Höheres geahnet wird und der Leser wie der Schriftsteller auf
gleiche Art ihre Rechnung finden. Die gemeine Natur nämlich, wenn sie
angespannt worden, kann sich nur in der Leerheit erholen, und
selbst ein hoher Grad von Verstand, wenn er nicht von einer
gleichmäßigen Kultur der Empfindungen unterstützt ist, ruht von seinem
Geschäfte nur in einem geistlosen Sinnengenuss aus.
Wenn sich das dichtende Genie über alle zufälligen Schranken,
welche von jedem bestimmten Zustande unzertrennlich sind, mit
freier Selbsttätigkeit muss erheben können, um die menschliche Natur in
ihrem absoluten Vermögen zu erreichen, so darf es sich doch auf der
andern Seite nicht über die notwendigen Schranken hinwegsetzen,
welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich bringt; denn das
Absolute, aber nur innerhalb der Menschheit, ist seine Aufgabe und seine
Sphäre. Wir haben gesehen, dass das naive Genie zwar nicht in Gefahr
ist, diese Sphäre zu überschreiten, wohl aber, sie nicht ganz zu
erfüllen, wenn es einer äußern Notwendigkeit oder dem zufälligen
Bedürfnis des Augenblicks zu sehr auf Unkosten der innern Notwendigkeit
Raum gibt. Das sentimentalische Genie hingegen ist der Gefahr
ausgesetzt, über dem Bestreben, alle Schranken von ihr zu entfernen, die
menschliche Natur ganz und gar aufzuheben und sich nicht bloß, was es
darf und soll, über jede bestimmte und begrenzte Wirklichkeit hinweg zu
der absoluten Möglichkeit zu erheben – oder zu idealisieren –
sondern über die Möglichkeit selbst noch hinauszugehen – oder zu
schwärmen. Dieser Fehler der Überspannung ist ebenso in der
spezifischen Eigentümlichkeit seines Verfahrens, wie der
entgegengesetzte der Schlaffheit in der eigentümlichen
Handlungsweise des naiven gegründet. Das naive Genie nämlich lässt die
Natur in sich unumschränkt walten, und da die Natur in ihren
einzelnen zeitlichen Äußerungen immer abhängig und bedürftig ist, so
wird das naive Gefühl nicht immer exaltiert genug bleiben, um den
zufälligen Bestimmungen des Augenblicks widerstehen zu können. Das
sentimentalische Genie hingegen verlässt die Wirklichkeit, um zu Ideen
aufzusteigen und mit freier Selbsttätigkeit seinen Stoff zu beherrschen;
da aber die Vernunft ihrem Gesetze nach immer zum Unbedingten strebt, so
wird das sentimentalische Genie nicht immer nüchtern genug
bleiben, um sich ununterbrochen und gleichförmig innerhalb der
Bedingungen zu halten, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit
sich führt, und an welche die Vernunft auch in ihrem freiesten Wirken
hier immer gebunden bleiben muss. Dieses könnte nur durch einen
verhältnismäßigen Grad von Empfänglichkeit geschehen, welche aber in dem
sentimentalischen Dichtergeiste von der Selbsttätigkeit eben so sehr
überwogen wird, als sie in dem naiven die Selbsttätigkeit überwiegt.
Wenn man daher an den Schöpfungen des naiven Genies zuweilen den
Geist vermisst, so wird man bei den Geburten des sentimentalischen
oft vergebens nach dem Gegenstande fragen. Beide werden also,
wiewohl auf ganz entgegengesetzte Weise, in den Fehler der Leerheit
verfallen; denn ein Gegenstand ohne Geist und ein Geistesspiel ohne
Gegenstand sind beide ein Nichts in dem ästhetischen Urteil.
Alle Dichter, welche ihren Stoff zu einseitig aus der Gedankenwelt
schöpfen und mehr durch eine innere Ideenfülle als durch den Drang der
Empfindung zum poetischen Bilden getrieben werden, sind mehr oder
weniger in Gefahr, auf diesen Abweg zu geraten. Die Vernunft zieht bei
ihren Schöpfungen die Grenze der Sinnenwelt viel zu wenig zu Rath, und
der Gedanke wird immer weiter getrieben, als die Erfahrung ihm folgen
kann. Wird er aber so weit getrieben, als ihm nicht nur keine bestimmte
Erfahrung mehr entsprechen kann (denn bis dahin darf und muss das
Idealschöne gehen), sondern dass er den Bedingungen aller möglichen
Erfahrung überhaupt widerstreitet, und dass folglich, um ihn wirklich zu
machen, die menschlichen Natur ganz und gar verlassen werden müsste,
dann ist es nicht mehr ein poetischer, sondern ein überspannter Gedanke
– vorausgesetzt nämlich, dass er sich als darstellbar und dichterisch
angekündigt habe; denn hat er dieses nicht, so ist es schon genug, wenn
er sich nur nicht selbst widerspricht. Widerspricht er sich selbst, so
ist er nicht mehr Überspannung, sondern Unsinn; denn was
überhaupt nicht ist, das kann auch sein Maß nicht überschreiten. Kündigt
er sich aber gar nicht als ein Objekt für die Einbildungskraft an, so
ist er eben so wenig Überspannung; denn das bloße Denken ist grenzenlos,
und was keine Grenze hat, kann auch keine überschreiten. Überspannt kann
also nur dasjenige genannt werden, was zwar nicht die logische, aber die
sinnliche Wahrheit verletzt und auf diese doch Anspruch macht. Wenn
daher ein Dichter den unglücklichen Einfall hat, Naturen, die
schlechthin übermenschlich sind und auch nicht anders vorgestellt
werden dürfen, zum Stoff seiner Schilderung zu erwählen, so kann
er sich vor dem Überspannten nur dadurch sicher stellen, dass er das
Poetische aufgibt und es gar nicht einmal unternimmt, seinen Gegenstand
durch die Einbildungskraft ausführen zu lassen. Denn täte er dieses, so
würde entweder diese ihre Grenzen auf den Gegenstand übertragen und aus
einem absoluten Objekt ein beschränktes menschliches machen (was
z. B. alle griechischen Gottheiten sind und auch sein sollen), oder der
Gegenstand würde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h., er
würde sie aufheben, worin eben das Überspannte besteht.
Man muss die überspannte Empfindung von dem Überspannten in der
Darstellung unterscheiden; nur von der ersten ist hier die Rede. Das
Objekt der Empfindung kann unnatürlich sein; aber sie selbst ist Natur
und muss daher auch die Sprache derselben führen. Wenn also das
Überspannte in der Empfindung aus Wärme des Herzens und einer wahrhaft
dichterischen Anlage fließen kann, so zeugt das Überspannteste in der
Darstellung jederzeit von einem kalten Herzen und sehr oft von einem
poetischen Unvermögen. Es ist also kein Fehler, vor welchem das
sentimentalische Dichtergenie gewarnt werden müsste, sondern der bloß
dem unberufenen Nachahmer desselben drohet; daher er auch die Begleitung
des Platten, Geistlosen, ja des Niedrigen keineswegs verschmäht. Die
überspannte Empfindung ist gar nicht ohne Wahrheit, und als wirkliche
Empfindung muss sie auch notwendig einen realen Gegenstand haben. Sie
lässt daher auch, weil sie Natur ist, einen einfachen Ausdruck zu und
wird vom Herzen kommend auch das Herz nicht verfehlen. Aber da ihr
Gegenstand nicht aus der Natur schöpft, sondern durch den Verstand
einseitig und künstlich hervorgebracht ist, so hat er auch bloß logische
Realität, und die Empfindung ist also nicht rein menschlich. Es ist
keine Täuschung, was Heloise für Abälard, was Petrarch für seine Laura,
was St. Preux für seine Julie, was Werther für seine Lotte fühlt, und
was Agathon, Phanias, Peregrinus Proteus (den Wielandschen meine ich)
für ihre Ideale empfinden; die Empfindung ist wahr, nur der Gegenstand
ist ein gemachter und liegt außerhalb der menschlichen Natur. Hätte sich
ihr Gefühl bloß an die sinnliche Wahrheit der Gegenstände gehalten, so
würde es jenen Schwung nicht haben nehmen können; hingegen würde ein
bloß willkürliches Spiel der Phantasie ohne allen innern Gehalt auch
nicht im Stande gewesen sein, das Herz zu bewegen, denn das Herz wird
nur durch Vernunft bewegt. Diese Überspannung verdient also
Zurechtweisung, nicht Verachtung, und wer darüber spottet, mag sich wohl
prüfen, ob er nicht vielleicht aus Herzlosigkeit so klug, aus
Vernunftmangel so verständig ist. So ist auch die überspannte
Zärtlichkeit im Punkt der Galanterie und der Ehre, welche die
Ritterromane, besonders die spanischen, charakterisiert, so ist die
skrupulöse, bis zur Kostbarkeit getriebene Delikatesse in den
französischen und englischen sentimentalischen Romanen (von der besten
Gattung) nicht nur subjektiv wahr, sondern auch in objektiver Rücksicht
nicht gehaltlos; es sind echte Empfindungen, die wirklich eine
moralische Quelle haben und die nur darum verwerflich sind, weil sie die
Grenzen menschlicher Wahrheit überschreiten. Ohne jene moralische
Realität – wie wäre es möglich, dass sie mit solcher Stärke und
Innigkeit könnten mitgeteilt werden, wie doch die Erfahrung lehrt.
Dasselbe gilt auch von der moralischen und religiösen Schwärmerei und
von der exaltierten Freiheits- und Vaterlandsliebe. Da die Gegenstände
dieser Empfindungen immer Ideen sind und in der äußern Erfahrung nicht
erscheinen (denn was z. B. den politischen Enthusiasten bewegt, ist
nicht, was er sieht, sondern was er denkt), so hat die selbsttätige
Einbildungskraft eine gefährliche Freiheit und kann nicht, wie in andern
Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ihres Objekts in ihre Grenzen
zurückgewiesen werden. Aber weder der Mensch überhaupt, noch der Dichter
insbesondre darf sich der Gesetzgebung der Natur anders entziehen, als
um sich unter die entgegengesetzte der Vernunft zu begeben; nur für das
Ideal darf er die Wirklichkeit verlassen, denn an einem von diesen
beiden Ankern muss die Freiheit befestigt sein. Aber der Weg von
der Erfahrung zum Ideale ist so weit, und dazwischen liegt die Phantasie
mit ihrer zügellosen Willkür. Es ist daher unvermeidlich, dass der
Mensch überhaupt, wie der Dichter insbesondere, wenn er sich durch die
Freiheit seines Verstandes aus der Herrschaft der Gefühle begibt, ohne
durch Gesetze der Vernunft dazu getrieben zu werden, d. h. wenn er die
Natur aus bloßer Freiheit verlässt, so lang ohne Gesetz ist,
mithin der Phantasterei zum Raube dahin gegeben wird.
Dass sowohl ganze Völker als einzelne Menschen, welche der sichern
Führung der Natur sich entzogen haben, sich wirklich in diesem Falle
befinden, lehrt die Erfahrung, und eben diese stellt auch Beispiele
genug von einer ängstlichen Verirrung in der Dichtkunst auf. Weil der
echte sentimentalische Dichtungstrieb, um sich zum Idealen zu erheben,
über die Grenzen wirklicher Natur hinausgehen muss, so geht der unechte
über jede Grenze hinaus und überredet sich, als wenn schon das wilde
Spiel der Imagination die poetische Begeisterung ausmache. Dem
wahrhaften Dichtergenie, welches die Wirklichkeit nur um der Idee willen
verlässt, kann dieses nie oder doch nur in Momenten begegnen, wo es sich
selbst verloren hat; da es hingegen durch seine Natur selbst zu einer
überspannten Empfindungsweise verführt werden kann. Es kann aber durch
sein Beispiel Andre zur Phantasterei verführen, weil Leser von reger
Phantasie und schwachem Verstand ihm nur die Freiheiten absehen, die es
sich gegen die wirkliche Natur herausnimmt, ohne ihm bis zu seiner hohen
innern Notwendigkeit folgen zu können. Es geht dem sentimentalischen
Genie hier, wie wir bei dem naiven gesehen haben. Weil dieses durch
seine Natur alles ausführte, was es taut, so will der gemeine Nachahmer
an seiner eigenen Natur keine schlechtere Führerin haben. Meisterstücke
aus der naiven Gattung werden daher gewöhnlich die plattesten und
schmutzigsten Abdrücke gemeiner Natur, und Hauptwerke aus der
sentimentalischen ein zahlreiches Heer phantastischer Produktionen zu
ihrem Gefolge haben, wie dieses in der Literatur eines jeden Volkes
leichtlich nachzuweisen ist.
Es sind in Rücksicht auf Poesie zwei Grundsätze im Gebrauch, die an sich
völlig richtig sind, aber in der Bedeutung, worin man sie gewöhnlich
nimmt, einander gerade aufheben. Von dem ersten, »dass die Dichtkunst
zum Vergnügen und zur Erholung diene,« ist schon oben gesagt worden,
dass er der Leerheit und Plattitüde in poetischen Darstellungen nicht
wenig günstig sei; durch den andern Grundsatz, »dass sie zur moralischen
Veredlung des Menschen diene,« wird das Überspannte in Schutz genommen.
Es ist nicht überflüssig, beide Prinzipien, welchen man so häufig im
Munde führt, oft so ganz unrichtig auslegt und so ungeschickt anwendet,
etwas näher zu beleuchten.
Wir nennen Erholung den Übergang von einem gewaltsamen Zustand zu
demjenigen, der uns natürlich ist. Es kommt mithin hier alles darauf an,
worein wir unsern natürlichen Zustand setzen, und was wir unter einem
gewaltsamen verstehen. Setzen wir jenen lediglich in ein ungebundenes
Spiel unsrer physischen Kräfte und in eine Befreiung von jedem Zwang, so
ist jede Vernunfttätigkeit, weil jede einen Widerstand gegen die
Sinnlichkeit ausübt, eine Gewalt, die uns geschieht, und Geistesruhe,
mit sinnlicher Bewegung verbunden, ist das eigentliche Ideal der
Erholung. Setzen wir hingegen unsern natürlichen Zustand in ein
unbegrenztes Vermögen zu jeder menschlichen Äußerung und in die
Fähigkeit, über alle unsre Kräfte mit gleicher Freiheit disponieren zu
können, so ist jede Trennung und Vereinzelung dieser Kräfte ein
gewaltsamer Zustand, und das Ideal der Erholung ist die
Wiederherstellung unsers Naturganzen nach einseitigen Spannungen. Das
erste Ideal wird also lediglich durch das Bedürfnis der sinnlichen
Natur, das zweite wird durch die Selbständigkeit der menschlichen
aufgegeben. Welche von diesen beiden Arten der Erholung die Dichtkunst
gewähren dürfe und müsse, möchte in der Theorie wohl keine Frage sein;
denn Niemand wird gerne das Ansehen haben wollen, als ob er das Ideal
der Menschheit dem Ideale der Tierheit nachzusetzen versucht sein könne.
Nichts desto weniger sind die Forderungen, welche man im wirklichen
Leben an poetische Werke zu machen pflegt, vorzugsweise von dem
sinnlichen Ideal hergenommen, und in den meisten Fällen wird nach diesem
– zwar nicht die Achtung bestimmt, die man diesen Werken erweist,
aber doch die Neigung entschieden und der Liebling
gewählt. Der Geisteszustand der mehresten Menschen ist auf einer Seite
anspannende und erschöpfende Arbeit, auf der andern
erschlaffender Genuss. Jene aber, wissen wir, macht das sinnliche
Bedürfnis nach Geistesruhe und nach einem Stillstand des Wirkens
ungleich dringender als das moralische Bedürfnis nach Harmonie und nach
einer absoluten Freiheit des Wirkens, weil vor allen Dingen erst die
Natur befriedigt sein muss, ehe der Geist eine Forderung
machen kann; dieser bindet und lähmt die moralischen Triebe selbst,
welche jene Forderung aufwerfen mussten. Nichts ist daher der
Empfänglichkeit für das wahre Schöne nachtheiliger, als diese beiden nur
allzugewöhnlichen Gemütsstimmungen unter den Menschen, und es erklärt
sich daraus, warum so gar wenige, selbst von den bessern, in
ästhetischen Dingen ein richtiges Urteil haben. Die Schönheit ist das
Produkt der Zusammenstimmung zwischen dem Geist und den Sinnen; es
spricht zu allen Vermögen des Menschen zugleich und kann daher nur unter
der Voraussetzung eines vollständigen und freien Gebrauchs aller seiner
Kräfte empfunden und gewürdigt werden. Einen offenen Sinn, ein
erweitertes Herz, einen frischen und ungeschwächten Geist muss man dazu
mitbringen, seine ganze Natur muss man beisammen haben, welches
keineswegs der Fall Derjenigen ist, die durch abstraktes Denken in sich
selbst geteilt, durch kleinliche Geschäftsformeln eingeengt, durch
anstrengendes Aufmerken ermattet sind. Diese verlangen zwar nach einem
sinnlichen Stoff, aber nicht um das Spiel der Denkkräfte daran
fortzusetzen, sondern um es einzustellen. Sie wollen frei sein, aber nur
von einer Last, die ihre Trägheit ermüdete, nicht von einer Schranke,
die ihre Tätigkeit hemmte.
Darf man sich also noch über das Glück der Mittelmäßigkeit und Leerheit
in ästhetischen Dingen und über die Rache der schwachen Geister an dem
wahren und energischen Schönen verwundern? Auf Erholung rechneten sie
bei diesem, aber auf eine Erholung nach ihrem Bedürfnis und nach ihrem
armen Begriff, und mit Verdruss entdecken sie, dass ihnen jetzt erst
eine Kraftäußerung zugemutet wird, zu der ihnen auch in ihrem besten
Moment das Vermögen fehlen möchte. Dort hingegen sind sie willkommen,
wie sie sind; denn so wenig Kraft sie auch mitbringen, so brauchen sie
doch noch viel weniger, um den Geist ihres Schriftstellers
auszuschöpfen. Der Last des Denkens sind sie hier auf einmal entledigt,
und die losgespannte Natur darf sich im seligen Genuss des Nichts auf
dem weichen Poster der Plattitüde pflegen. In dem Tempel Thaliens
und Melpomenens, so wie er bei uns bestellt ist, thront die geliebte
Göttin, empfängt in ihrem weiten Schoß den stumpfsinnigen Gelehrten und
den erschöpften Geschäftsmann und wiegt den Geist in einen magnetischen
Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne erwärmt und die Einbildungskraft
in einer süßen Bewegung schaukelt.
Und warum wollte man den gemeinen Köpfen nicht nachsehen, was selbst den
besten oft genug zu begegnen pflegt. Der Nachlass, welchen die Natur
nach jeder anhaltenden Spannung fordert und sich auch ungefordert nimmt
(und nur für solche Momente pflegt man den Genuss schöner Werke
aufzusparen), ist der ästhetischen Urteilskraft so wenig günstig, dass
unter den eigentlich beschäftigten Klassen nur äußerst Wenige sein
werden, die in Sachen des Geschmacks mit Sicherheit und, worauf hier so
viel ankommt, mit Gleichförmigkeit urteilen können. Nichts ist
gewöhnlicher, als dass sich die Gelehrten, den gebildeten Weltleuten
gegenüber, in Urteilen über die Schönheit die lächerlichsten Blößen
geben, und dass besonders die Kunstrichter von Handwerk der Spott aller
Kenner sind. Ihr verwahrlostes, bald überspanntes, bald rohes Gefühl
leitet sie in den mehresten Fällen falsch, und wenn sie auch zu
Verteidigung desselben in der Theorie etwas aufgegriffen haben, so
können sie daraus nur technische (die Zweckmäßigkeit eines Werks
betreffende), nicht aber ästhetische Urteile bilden, welche immer
das Ganze umfassen müssen, und bei denen also die Empfindung entscheiden
muss. Wenn sie endlich nur gutwillig auf die letztern Verzicht leisten
und es bei den ersten bewenden lassen wollten, so möchten sie immer noch
Nutzen genug stiften, da der Dichter in seiner Begeisterung und der
empfindende Leser im Moment des Genusses das Einzelne gar leicht
vernachlässigen. Ein desto lächerlicheres Schauspiel ist es aber, wenn
diese rohen Naturen, die es mit aller peinlichen Arbeit an sich selbst
höchstens zu Ausbildung einer einzelnen Fertigkeit bringen, ihr
dürftiges Individuum zum Repräsentanten des allgemeinen Gefühls
aufstellen und im Schweiß ihres Angesichts – über das Schöne richten.
Dem Begriff der Erholung, welche die Poesie zu gewähren habe,
werden, wie wir gesehen, gewöhnlich viel zu enge Grenzen gesetzt, weil
man ihn zu einseitig auf das bloße Bedürfnis der Sinnlichkeit zu
beziehen pflegt. Gerade umgekehrt wird dem Begriff der Veredlung,
welche der Dichter beabsichtigen soll, gewöhnlich ein viel zu weiter
Umfang gegeben, weil man ihn zu einseitig nach der bloßen Idee bestimmt.
Der Idee nach geht nämlich die Veredlung immer ins Unendliche, weil die
Vernunft in ihren Forderungen sich an die notwendigen Schranken der
Sinnenwelt nicht bindet und nicht eher als bei dem absolut Vollkommenen
stille steht. Nichts, worüber sich noch etwas Höheres denken lässt, kann
ihr Genüge leisten; vor ihren strengen Gerichten entschuldigt kein
Bedürfnis der endlichen Natur; sie erkennt keine andern Grenzen an, als
des Gedankens, und von diesem wissen wir, dass er sich über alle Grenzen
der Zeit und des Raumes schwingt. Ein solches Ideal der Veredlung,
welches die Vernunft in ihrer reinen Gesetzgebung vorzeichnet, darf sich
also der Dichter eben so wenig als jenes niedrige Ideal der Erholung,
welches die Sinnlichkeit aufstellt, zum Zwecke setzen, da er die
Menschheit zwar von allen zufälligen Schranken befreien soll, aber ohne
ihren Begriff aufzuheben und ihre notwendigen Grenzen zu verrücken. Was
er über diese Linien hinaus sich erlaubt, ist Überspannung, und zu
dieser eben wird er nur allzu leicht durch einen falsch verstandenen
Begriff von Veredlung verleitet. Aber das Schlimme ist, dass er sich
selbst zu dem wahren Ideal menschlicher Veredlung nicht wohl erheben
kann, ohne noch einige Schritte über dasselbe hinaus zu geraten. Um
nämlich dahin zu gelangen, muss er die Wirklichkeit verlassen, denn er
kann es, wie jedes Ideal, nur aus innern und moralischen Quellen
schöpfen. Nicht in der Welt, die ihn umgibt, und im Geräusch des
handelnden Lebens, in seinem Herzen nur trifft er es an, und nur in der
Stille einsamer Betrachtung findet er sein Herz. Aber diese
Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer bloß die zufälligen – sie wird
öfters auch die notwendigen und unüberwindlichen Schranken der
Menschheit aus seinen Augen rücken, und indem er die reine Form sucht,
wird er in Gefahr sein, allen Gehalt zu verlieren. Die Vernunft wird ihr
Geschäft viel zu abgesondert von der Erfahrung treiben, und was der
kontemplative Geist auf dem ruhigen Wege des Denkens aufgefunden, wird
der handelnde Mensch auf dem drangvollen Wege des Lebens nicht in
Erfüllung bringen können. So bringt gewöhnlich eben das den Schwärmer
hervor, was allein im Stande war, den Weisen zu bilden, und der Vorzug
des letztern möchte wohl weniger darin bestehen, dass er das erste nicht
geworden, als darin, dass er es nicht geblieben ist.
Da es also weder dem arbeitenden Teile der Menschen überlassen werden
darf, den Begriff der Erholung nach seinem Bedürfnis, noch dem
kontemplativen Teile, den Begriff der Veredlung nach seinen
Spekulationen zu bestimmen, wenn jener Begriff nicht zu physisch und der
Poesie zu unwürdig, dieser nicht zu hyperphysisch und der Poesie zu
überschwänglich ausfallen soll – diese beiden Begriffe aber, wie die
Erfahrung lehrt, das allgemeine Urteil über Poesie und poetische Werke
regieren, so müssen wir uns, um sie auslegen zu lassen, nach einer
Klasse von Menschen umsehen, welche, ohne zu arbeiten, tätig ist und
idealisieren kann, ohne zu schwärmen, welche alle Realitäten des Lebens
mit den wenigstmöglichen Schranken desselben in sich vereiniget und vom
Strome der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu
werden. Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur,
welches durch jede Arbeit augenblicklich und durch ein arbeitendes Leben
anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich
ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urteil Gesetze geben. Ob
eine solche Klasse wirklich existiere, oder vielmehr, ob diejenige,
welche unter ähnlichen äußern Verhältnissen wirklich existiert, diesem
Begriffe auch im Innern entspreche, ist eine andre Frage, mit der ich
hier nichts zu schaffen habe. Entspricht sie demselben nicht, so hat sie
bloß sich selbst anzuklagen, da die entgegengesetzte arbeitende Klasse
wenigstens die Genugtuung hat, sich als ein Opfer ihres Berufs zu
betrachten. In einer solchen Volksklasse (die ich aber hier bloß als
Idee aufstelle und keineswegs als ein Faktum bezeichnet haben will)
würde sich der naive Charakter mit dem sentimentalischen also
vereinigen, dass jeder den andern vor seinem Extreme bewahrte und, indem
der erste das Gemüt vor Überspannung schützte, der andre es vor
Erschlaffung sicher stellte. Denn endlich müssen wir es doch gestehen,
dass weder der naive noch der sentimentalische Charakter, für sich
allein betrachtet, das Ideal schöner Menschlichkeit ganz erschöpfen, das
nur aus der innigen Verbindung beider hervorgehen kann.
Zwar so lange man beide Charaktere bis zum dichterischen
exaltiert, wie wir sie auch bisher betrachtet haben, verliert sich
Vieles von den ihnen adhärierenden Schranken, und auch ihr Gegensatz
wird immer weniger merklich, in einem je höheren Grad sie poetisch
werden; denn die poetische Stimmung ist ein selbständiges Ganze, in
welchem alle Unterschiede und alle Mängel verschwinden. Aber eben darum,
weil es nur der Begriff des Poetischen ist, in welchem beide
Empfindungsarten zusammentreffen können, so wird ihre gegenseitige
Verschiedenheit und Bedürftigkeit in demselben Grade merklicher, als sie
den poetischen Charakter ablegen; und dies ist der Fall im gemeinen
Leben. Je tiefer sie zu diesem herabsteigen, desto mehr verlieren sie
von ihrem generischen Charakter, der sie einander näher bringt, bis
zuletzt in ihren Karikaturen nur der Artcharakter übrig bleibt, der sie
einander entgegensetzt.
Dieses führt mich auf einen sehr merkwürdigen psychologischen Antagonist
unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert: einen
Antagonist, der, weil er radikal und in der innern Gemütsform gegründet
ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen anrichtet, als der
zufällige Streit der Interessen je hervorbringen könnte, der dem
Künstler und Dichter alle Hoffnung benimmt, allgemein zu gefallen und zu
rühren, was doch seine Aufgabe ist: der es dem Philosophen, auch wenn er
alles getan hat, unmöglich macht, allgemein zu überzeugen, was doch der
Begriff einer Philosophie mit sich bringt; der es endlich dem Menschen
im praktischen Leben niemals vergönnen wird, seine Handlungsweise
allgemein gebilligt zu sehen – kurz, einen Gegensatz, welcher Schuld
ist, dass kein Werk des Geistes und keine Handlung des Herzens bei einer
Klasse ein entscheidendes Glück machen kann, ohne eben dadurch bei der
andern sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen. Dieser Gegensatz ist
ohne Zweifel so alt, als der Anfang der Kultur, und dürfte vor dem Ende
derselben schwerlich anders, als in einzelnen seltenen Subjekten, deren
es hoffentlich immer gab und immer geben wird, beigelegt werden; aber
obgleich zu seinen Wirkungen auch diese gehört, dass er jeden Versuch zu
seiner Beilegung vereitelt, weil kein Teil dahin zu bringen ist, einen
Mangel auf seiner Seite und eine Realität auf der andern einzugestehen,
so ist es doch immer Gewinn genug, eine so wichtige Trennung bis zu
ihrer letzten Quelle zu verfolgen und dadurch den eigentlichen Punkt des
Streits wenigstens auf eine einfachere Formel zu bringen.
Man gelangt am besten zu dem wahren Begriff dieses Gegensatzes, wenn
man, wie ich eben bemerkte, sowohl von dem naiven als von dem
sentimentalischen Charakter absondert, was beide Poetisches haben. Es
bleibt alsdann von dem erstern nichts übrig, als in Rücksicht auf das
Theoretische ein nüchterner Beobachtungsgeist und eine feste
Anhänglichkeit an das gleichförmige Zeugnis der Sinne, in Rücksicht auf
das Praktische eine resignierte Unterwerfung unter die Notwendigkeit
(nicht aber unter die blinde Nötigung) der Natur: eine Ergebung also in
das, was ist und was sein muss. Es bleibt von dem sentimentalischen
Charakter nichts übrig, als im Theoretischen ein unruhiger
Spekulationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen dringt,
im Praktischen ein moralischer Rigorism, der auf dem Unbedingten in
Willenshandlungen besteht. Wer sich zu der ersten Klasse zählt, kann ein
Realist, und wer zur andern, ein Idealist genannt werden,
bei welchen Namen man sich aber weder an den guten noch schlimmen Sinn,
den man in der Metaphysik damit verbindet, erinnern darf.
Da der Realist durch die Notwendigkeit der Natur sich bestimmen lässt,
der Idealist durch die Notwendigkeit der Vernunft sich bestimmt, so muss
zwischen beiden dasselbe Verhältnis statt finden, welches zwischen den
Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft angetroffen wird.
Die Natur, wissen wir, obgleich eine unendliche Größe im Ganzen, zeigt
sich in jeder einzelnen Wirkung abhängig und bedürftig; nur in dem All
ihrer Erscheinungen drückt sie einen selbständigen, großen Charakter
aus. Alles Individuelle in ihr ist nur deswegen, weil etwas anderes ist;
nichts springt aus sich selbst, alles nur aus dem vorhergehenden Moment
hervor, um zu einem folgenden zu führen. Aber eben diese gegenseitige
Beziehung der Erscheinungen auf einander sichert einer jeden das Dasein
durch das Dasein der andern, und von der Abhängigkeit ihrer Wirkungen
ist die Stetigkeit und Notwendigkeit derselben unzertrennlich. Nichts
ist frei in der Natur, aber auch nichts ist willkürlich in derselben.
Und gerade so zeigt sich der Realist, sowohl in seinem Wissen als
in seinem Thun. Auf alles, was bedingungsweise existiert,
erstreckt sich der Kreis seines Wissens und Wirkens; aber nie bringt er
es auch weiter als zu bedingten Erkenntnissen, und die Regeln, die er
sich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten, in ihrer ganzen Strenge
genommen, auch nur einmal; erhebt er die Regel des Augenblicks zu
einem allgemeinen Gesetz, so wird er sich unausbleiblich in Irrtum
stürzen. Will daher der Realist in seinem Wissen zu etwas Unbedingtem
gelangen, so muss er es auf dem nämlichen Wege versuchen, auf dem die
Natur ein Unendliches wird, nämlich auf dem Wege des Ganzen und in dem
All der Erfahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie völlig
abgeschlossen wird, so ist eine komparative Allgemeinheit das Höchste,
was der Realist in seinem Wissen erreicht. Auf die Wiederkehr ähnlicher
Fälle baut er seine Einsicht und wird daher richtig urteilen in allem,
was in der Ordnung ist; in allem hingegen, was zum ersten Mal sich
darstellt, kehrt seine Weisheit zu ihrem Anfang zurück.
Was von dem Wissen des Realisten gilt, das gilt auch von seinem
(moralischen) Handeln. Sein Charakter hat Moralität, aber diese liegt,
ihrem reinen Begriffe nach, in keiner einzelnen Tat, nur in der ganzen
Summe seines Lebens. In jedem besondern Fall wird er durch seine äußere
Ursachen und durch äußere Zwecke bestimmt werden; nur dass jene Ursachen
nicht zufällig, jene Zwecke nicht augenblicklich sind, sondern aus dem
Naturganzen subjektiv fließen und auf dasselbe sich objektiv beziehen.
Die Antriebe seines Willens sind also zwar in rigoristischem Sinne weder
frei genug, noch moralisch lauter genug, weil sie etwas anders als den
bloßen Willen zu ihrer Ursache und etwas anders als das bloße Gesetz zu
ihrem Gegenstand haben; aber es sind eben so wenig blinde und
materialistische Antriebe, weil diese Andere das absolute Ganze der
Natur, folglich etwas Selbständiges und Notwendiges ist. So zeigt sich
der gemeine Menschenverstand, der vorzügliche Anteil des Realisten,
durchgängig im Denken und im Betragen. Aus dem einzelnen Falle schöpft
er die Regel seines Urteils, aus einer inneren Empfindung die Regel
seines Thuns; aber mit glücklichem Instinkt weiß er von beiden alles
Momentane und Zufällige zu scheiden. Bei dieser Methode fährt er im
Ganzen vortrefflich und wird schwerlich einen bedeutenden Fehler sich
vorzuwerfen haben; nur auf Größe und Würde möchte er in keinem besondern
Fall Anspruch machen können. Diese ist nur der Preis der Selbständigkeit
und Freiheit, und davon sehen wir in seinen einzelnen Handlungen zu
wenig Spuren.
Ganz anders verhält es sich mit dem Idealisten, der aus sich selbst und
aus der bloßen Vernunft seine Erkenntnisse und Motive nimmt. Wenn die
Natur in ihren einzelnen Wirkungen immer abhängig und beschränkt
erscheint, so legt die Vernunft den Charakter der Selbständigkeit und
Vollendung gleich in jede einzelne Handlung. Aus sich selbst schöpft sie
alles, und auf sich selbst bezieht sie alles. Was durch sie geschieht,
geschieht nur um ihrentwillen; eine absolute Größe ist jeder Begriff,
den sie aufstellt, und jeder Entschluss, den sie bestimmt. Und eben so
zeigt sich auch der Idealist, soweit er diesen Namen mit Recht führt, in
seinem Wissen, wie in seinem Thun. Nicht mit Erkenntnissen zufrieden,
die bloß unter bestimmten Voraussetzungen gültig sind, sucht er bis zur
Wahrheiten zu dringen, die nichts mehr voraussetzen und die
Voraussetzungen zu allem Andern sind. Ihr befriedigt nur die
philosophische Einsicht, welche alles bedingte Wissen auf ein
unbedingtes zurückführt und an dem Notwendigen in dem menschlichen Geist
alle Erfahrung befestigt; die Dinge, denen der Realist sein Denken
unterwirft, muss er sich, seinem Denkvermögen, unterwerfen. Und er
verfährt hierin mit völliger Befugnis; denn wenn die Gesetze des
menschlichen Geistes nicht auch zugleich die Weltgesetze wären, wenn die
Vernunft endlich selbst unter der Erfahrung stünde, so würde auch keine
Erfahrung möglich sein.
Aber er kann es bis zu absoluten Wahrheiten gebracht haben und dennoch
in seinen Kenntnissen dadurch nicht viel gefördert sein. Denn alles
freilich steht zuletzt unter notwendigen und allgemeinen Gesetzen, aber
nach zufälligen und besondern Regeln wird jedes Einzelne regiert; und in
der Natur ist alles einzeln. Er kann also mit seinem philosophischen
Wissen das Ganze beherrschen und für das Besondere, für die Ausübung,
dadurch nichts gewonnen haben; ja, indem er überall auf die obersten
Gründe dringt, durch die alles möglich wird, kann er die nächsten
Gründe, durch die alles wirklich wird, leicht versäumen; indem er
überall auf das Allgemeine sein Augenmerk richtet, welches die
verschiedensten Fälle einander gleich macht, kann er leicht das Besondre
vernachlässigen, wodurch sie sich von einander unterscheiden. Er wird
also sehr viel mit seinem Wissen umfassen können und vielleicht
eben deswegen wenig fassen und oft an Einsicht verlieren, was er
an Übersicht gewinnt. Daher kommt es, dass, wenn der spekulative
Verstand den gemeinen um seiner Beschränktheit willen verachtet,
der gemeine Verstand den spekulativen seiner Leerheit wegen
verlacht; denn die Erkenntnisse verlieren immer an bestimmtem Gehalt,
was sie an Umfang gewinnen.
In der moralischen Beurteilung wird man beidem Idealisten eine reinere
Moralität im Einzelnen, aber weit weniger moralische Gleichförmigkeit im
Ganzen finden. Da er nur insofern Idealist heißt, als er aus reiner
Vernunft seine Bestimmungsgründe nimmt, die Vernunft aber in jeder ihrer
Äußerungen sich absolut beweist, so tragen schon seine einzelnen
Handlungen, sobald sie überhaupt nur moralisch sind, den ganzen
Charakter moralischer Selbständigkeit und Freiheit; und gibt es
überhaupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft sittliche Tat, die es
auch vor einem rigoristischen Urteil bliebe, so kann sie nur von dem
Idealisten ausgeübt werden. Aber je reiner die Sittlichkeit seiner
einzelnen Handlungen ist, desto zufälliger ist sie auch; denn Stetigkeit
und Notwendigkeit ist zwar der Charakter der Natur, aber nicht der
Freiheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der Sittlichkeit je in
Streit geraten könnte, welches sich widerspricht, sondern weil die
menschliche Natur eines konsequenten Idealism gar nicht fähig ist. Wenn
sich der Realist, auch in seinem moralischen Handeln, einer physischen
Notwendigkeit ruhig und gleichförmig unterordnet, so muss der Idealist
einen Schwung nehmen, er muss augenblicklich seine Natur exaltieren, und
er vermag nichts, als insofern er begeistert ist. Alsdann freilich
vermag er auch desto mehr, und sein Betragen wird einen Charakter von
Hoheit und Größe zeigen, den man in den Handlungen des Realisten
vergeblich sucht. Aber das wirkliche Leben ist keineswegs geschickt,
jene Begeisterung in ihm zu wecken, und noch viel weniger, sie
gleichförmig zu nähren. Gegen das Absolutgroße, von dem er jedes Mal
ausgeht, macht das Absolutkleine des einzelnen Falles, auf den er es
anzuwenden hat, einen gar zu starken Absatz. Weil sein Wille, der Form
nach, immer auf das Ganze gerichtet ist, so will er ihn, der Materie
nach, nicht auf Bruchstücke richten, und doch sind es mehrentheils nur
geringfügige Leistungen, wodurch er seine moralische Gesinnung beweisen
kann. SO geschieht es denn nicht selten, dass er über dem unbegrenzten
Ideale den begrenzten Fall der Anwendung übersieht und, von einem
Maximum erfüllt, das Minimum verabsäumt, aus dem allein doch alles Große
in der Wirklichkeit erwächst.
Will man also dem Realisten Gerechtigkeit widerfahren lassen, so muss
man ihn nach dem ganzen Zusammenhang seines Lebens richten; will man sie
dem Idealisten erweisen, so muss man sich an einzelne Äußerungen
desselben halten, aber man muss diese erst herauswählen. Das gemeine
Urteil, welches so gern nach dem Einzelnen entscheidet, wird daher über
den Realisten gleichgültig schweigen, weil seine einzelnen Lebensakte
gleich wenig Stoff zum Lob und zum Tadel geben; über den Idealisten
hingegen wird es immer Partei ergreifen und zwischen Verwerfung und
Bewunderung sich teilen, weil in dem Einzelnen sein Mangel und seine
Stärke liegt.
Es ist nicht zu vermeiden, dass bei einer so großen Abweichung in den
Prinzipien beide Parteien in ihren Urteilen einander nicht oft gerade
entgegengesetzt sind und, wenn sie selbst in den Objekten und Resultaten
übereinträfen, nicht in den Gründen auseinander sein sollten. Der
Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sei, und die Dinge nach
dem, was sie wert sind, zu taxieren wissen; der Idealist wird fragen,
ob sie gut sei, und die Dinge nach dem taxieren, was sie würdig
sind. Von dem, was seinen Werth und Zweck in sich selbst hat (das Ganze
jedoch immer ausgenommen), weiß und hält der Realist nicht viel; in
Sachen des Geschmacks wird er dem Vergnügen, in Sachen der Moral wird er
der Glückseligkeit das Wort reden, wenn er diese gleich nicht zur
Bedingung des sittlichen Handelns macht; auch in seiner Religion
vergisst er seinen Vorteil nicht gern, nur dass er denselben in
dem Ideale des höchsten Guts veredelt und heiligt. Was er liebt,
wird er zu beglücken, der Idealist wird es zu veredeln
suchen. Wenn daher der Realist in seinen politischen Tendenzen den
Wohlstand bezweckt, gesetzt dass es auch von der moralischen
Selbständigkeit des Volks etwas kosten sollte, so wird der Idealist,
selbst auf Gefahr des Wohlstands, die Freiheit zu seinem
Augenmerk machen. Unabhängigkeit des Zustandes ist Jenem,
Unabhängigkeit von dem Zustand ist Diesem das höchste Ziel, und
dieser charakteristische Unterschied lässt sich durch ihr beiderseitiges
Denken und Handeln verfolgen. Daher wird der Realist seine Zuneigung
immer dadurch beweisen, dass er gibt, der Idealist dadurch, dass
er empfängt; durch das, was er in seiner Großmut aufopfert,
verrät Jeder, was er am höchsten schätzt. Der Idealist wird die Mängel
seines Systems mit seinem Individuum und seinem zeitlichen Zustand
bezahlen, aber er achtet dieses Opfer nicht; der Realist büßt die Mängel
des seinigen mit seiner persönlichen Würde, aber er erfährt nichts von
diesem Opfer. Sein System bewährt sich an allem, wovon er Kundschaft hat
und wornach er ein Bedürfnis empfindet – was bekümmern ihn Güter, von
denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben hat? Genug für ihn,
er ist im Besitze, die Erde ist sein, und es ist Licht in seinem
Verstande, und Zufriedenheit wohnt in seiner Brust. Der Idealist hat
lange kein so gutes Schicksal. Nicht genug, dass er oft mit dem Glücke
zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freunde zu machen, er
zerfällt auch mit sich selbst; weder sein Wissen, noch sein Handeln kann
ihm Genüge tun. Was er von sich fordert, ist ein Unendliches, aber
beschränkt ist alles, was er leistet. Diese Strenge, die er gegen sich
selbst beweist, verleugnet er auch nicht in seinem Betragen gegen Andre.
Er ist zwar großmütig, weil er sich, Andern gegenüber, seines
Individuums weniger erinnert; aber er ist öfters unbillig, weil er das
Individuum eben so leicht in Andern übersieht. Der Realist hingegen ist
weniger großmütig; aber er ist billiger, da er alle Dinge mehr in
ihrer Begrenzung beurteilt. Das Gemeine, ja, selbst das Niedrige im
Denken und Handeln kann er verzeihen, nur das Willkürliche, das
Exzentrische nicht; der Idealist hingegen ist ein geschworner Feind
alles Kleinlichen und Platten und wird sich selbst mit dem Extravaganten
und Ungeheuren versöhnen, wenn es nur von einem großen Vermögen zeugt.
Jener beweist sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr hohen
Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser denkt von
der Menschheit so groß, dass er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu
verachten.
Der Realist für sich allein würde den Kreis der Menschheit nie über die
Grenzen der Sinnenwelt hinaus erweitert, nie den menschlichen Geist mit
seiner selbständigen Größe und Freiheit bekannt gemacht haben; alles
Absolute in der Menschheit ist ihm nur eine schöne Chimäre und der
Glaube daran nicht viel besser als Schwärmerei, weil er den Menschen
niemals in seinem reinen Vermögen, immer nur in einem bestimmten und
eben darum begrenzten Wirken erblickt. Aber der Idealist für sich allein
würde eben so wenig die sinnlichen Kräfte kultiviert und den Menschen
als Naturwesen ausgebildet haben, welches doch ein gleich wesentlicher
Teil seiner Bestimmung und die Bedingung aller moralischen Veredlung
ist. Das Streben des Idealisten geht viel zu sehr über das sinnliche
Leben und über die Gegenwart hinaus; für das Ganze nur, für die Ewigkeit
will er säen und pflanzen und vergisst darüber, dass das Ganze nur der
vollendete Kreis des Individuellen, dass die Ewigkeit nur eine Summe von
Augenblicken ist. Die Welt, wie der Realist sie um sich herum bilden
möchte und wirklich bildet, ist ein wohlangelegter Garten, worin alles
nützt, alles seine Stelle verdient und, was nicht Früchte trägt,
verbannt ist; die Welt unter den Händen des Idealisten ist eine weniger
benutzte, aber in einem größeren Charakter ausgeführte Natur. Jenem
fällt es nicht ein, dass der Mensch noch zu etwas Anderm da sein könne,
als wohl und zufrieden zu leben, und dass er nur deswegen Wurzeln
schlagen soll, um seinen Stamm in die Höhe zu treiben. Dieser denkt
nicht daran, dass er vor allen Dingen wohl leben muss, um gleichförmig
zu gut und edel zu denken, und dass es auch um den Stamm getan ist, wenn
die Wurzeln fehlen.
Wenn in einem System etwas ausgelassen ist, wornach doch ein dringendes
und nicht zu umgehendes Bedürfnis in der Natur sich vorfindet, so ist
die Natur nur durch eine Inkonsequenz gegen das System zu befriedigen.
Einer solchen Inkonsequenz machen auch hier beide Teile sich schuldig,
und sie beweist, wenn es bis jetzt noch zweifelhaft geblieben sein
könnte, zugleich die Einseitigkeit beider Systeme und den reichen Gehalt
der menschlichen Natur. Von dem Idealisten brauch' ich es nicht erst
insbesondere darzutun, dass er notwendig aus seinem System treten muss,
sobald er eine bestimmte Wirkung bezweckt; denn alles bestimmte Dasein
steht unter zeitlichen Bedingungen und erfolgt nach empirischen
Gesetzen. In Rücksicht auf den Idealisten hingegen könnte es zweifelhaft
erscheinen, ob er nicht auch schon innerhalb seines Systems allen
notwendigen Forderungen der Menschheit genüge leisten kann. Wenn man den
Realisten fragt: Warum tust du, was recht ist, und leidest, was
notwendig ist? so wird er im Geist seines Systems darauf antworten: weil
es die Natur so mit sich bringt, weil es so sein muss. Aber damit ist
die Frage noch keineswegs beantwortet, denn es ist nicht davon die Rede,
was die Natur mit sich bringt, sondern was der Mensch will; denn er kann
ja auch nicht wollen, was sein muss. Man kann ihn also wieder
fragen: warum willst du denn, was sein muss? Warum unterwirft sich dein
freier Wille dieser Naturnotwendigkeit, da er sich ihr eben so gut (wenn
gleich ohne Erfolg, von dem hier auch gar nicht die Rede ist)
entgegensetzen könnte und sich in Millionen deiner Brüder derselben
wirklich entgegensetzt? Du kannst nicht sagen, weil alle andern
Naturwesen sich derselben unterwerfen, denn du allein hast einen Willen,
ja, du fühlst, dass deine Unterwerfung eine freiwillige sein soll. Du
unterwirfst dich also, wenn es freiwillig geschieht, nicht der
Naturnotwendigkeit selbst, sondern der Idee derselben; denn jene
zwingt dich bloß blind, wie sie den Wurm zwingt; deinem Willen aber kann
sie nichts anhaben, da du, selbst von ihr zermalmt, einen andern Willen
haben kannst. Woher bringst du aber jene Idee der Naturnotwendigkeit?
Aus der Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne Naturwirkungen,
aber keine Natur (als Ganzes), und nur einzelne Wirklichkeiten, aber
keine Notwendigkeit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus und
bestimmst dich idealistisch, so oft du entweder moralisch handeln
oder nur nicht blind leiden willst. Es ist also offenbar, dass
der Realist würdiger handelt, als er seiner Theorie nach zugibt, so wie
der Idealist erhabener denkt, als er handelt. Ohne es sich selbst zu
gestehen, beweist Jener durch die ganze Haltung seines Lebens die
Selbständigkeit, Dieser durch einzelne Handlungen die Bedürftigkeit der
menschlichen Natur.
Einem aufmerksamen und parteilosen Leser werde ich nach der hier
gegebenen Schilderung (deren Wahrheit auch derjenige eingestehen kann,
der das Resultat nicht annimmt) nicht erst zu beweisen brauchen, dass
das Ideal menschlicher Natur unter beide verteilt, von keinem aber
völlig erreicht ist. Erfahrung und Vernunft haben beide ihre eigenen
Gerechtsame, und keine kann in das Gebiet der andern einen Eingriff tun,
ohne entweder für den innern oder äußern Zustand des Menschen schlimme
Folgen anzurichten. Die Erfahrung allein kann uns lehren, was unter
gewissen Bedingungen ist, was unter bestimmten Voraussetzungen erfolgt,
was zu bestimmten Zwecken geschehen muss. Die Vernunft allein kann uns
hingegen lehren, was ohne alle Bedingung gilt, und was notwendig sein
muss. Maßen wir uns nun an, mit unserer bloßen Vernunft über das äußere
Dasein der Dinge etwas ausmachen zu wollen, so treiben wir bloß ein
leeres Spiel, und das Resultat wird auf nichts hinauslaufen; denn alles
Dasein steht unter Bedingungen, und die Vernunft bestimmt unbedingt.
Lassen wir aber ein zufälliges Ereignis über dasjenige entscheiden, was
schon der bloße Begriff unsers eigenen Seins mit sich bringt, so machen
wir uns selber zu einem leeren Spiele des Zufalls, und unsere
Persönlichkeit wird auf nichts hinauslaufen. In dem ersten Fall ist es
also um den Werth (den zeitlichen Gehalt) unsers Lebens, in dem
zweiten um die Würde (den moralischen Gehalt) unsers Lebens
getan.
Zwar haben wir in den bisherigen Schilderungen dem Realisten einen
moralischen Werth und dem Idealisten einen Erfahrungsgehalt zugestanden,
aber bloß insofern beide nicht ganz konsequent verfahren und die Natur
in ihnen mächtiger wirkt, als das System. Obgleich aber beide dem Ideal
vollkommener Menschheit nicht ganz entsprechen, so ist zwischen beiden
doch der wichtige Unterschied, dass der Realist zwar dem Vernunftbegriff
der Menschheit in keinem einzelnen Falle Genüge leistet, dafür aber dem
Verstandesbegriff derselben auch niemals widerspricht, der Idealist
hingegen zwar in einzelnen Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit
näher kommt, dagegen aber nicht selten sogar unter dem niedrigsten
Begriffe derselben bleibet. Nun kommt es aber in der Praxis des Lebens
weit mehr darauf an, dass das Ganze gleichförmig menschlich gut,
als dass das Einzelne zufällig göttlich sei – und wenn also der
Idealist ein geschickteres Subjekt ist, uns von dem, was der Menschheit
möglich ist, einen großen Begriff zu erwecken und Achtung für ihre
Bestimmung einzuflößen, so kann nur der Realist sie mit Stetigkeit in
der Erfahrung ausführen und die Gattung in ihren ewigen Grenzen
erhalten. Jener ist zwar ein edleres, aber ein ungleich weniger
vollkommenes Wesen; dieser erscheint zwar durchgängig weniger edel, aber
er ist dagegen desto vollkommener; denn das Edle liegt schon in dem
Beweis eines großen Vermögens, aber das Vollkommene liegt in der Haltung
des Ganzen und in der wirklichen Tat.
Was von beiden Charakteren in ihrer besten Bedeutung gilt, das wird noch
merklicher in ihren beiderseitigen Karikaturen. Der wahre Realism
ist wohlthätiger in seinen Wirkungen und nur weniger edel in seiner
Quelle; der falsche ist in seiner Quelle verächtlich und in seinen
Wirkungen nur etwas weniger verderblich. Der wahre Realist nämlich
unterwirft sich zwar der Natur und ihrer Notwendigkeit, aber der Natur
als einem Ganzen, aber ihrer ewigen und absoluten Notwendigkeit, nicht
ihren blinden und augenblicklichen Nötigungen. Mit Freiheit
umfasst und befolgt er ihr Gesetz, und immer wird er das Individuelle
dem Allgemeinen unterordnen; daher kann es auch nicht fehlen, dass er
mit dem echten Idealisten in dem endlichen Resultat übereinkommen wird,
wie verschieden auch der Weg ist, welchen beide dazu einschlagen. Der
gemeine Empiriker hingegen unterwirft sich der Natur als einer Macht und
mit wahlloser blinder Ergebung. Auf das Einzelne sind seine Urteile,
seine Bestrebungen beschränkt; er glaubt und begreift nur, was er
betastet; er schätzt nur, was ihn sinnlich verbessert. Er ist daher auch
weiter nichts, als was die äußern Eindrücke zufällig aus ihm machen
wollen; seine Selbstheit ist unterdrückt, und als Mensch hat er absolut
keinen Werth und keine Würde; aber als Sache ist er noch immer etwas, er
kann noch immer zu etwas gut sein. Eben die Natur, der er sich
blindlings überliefert, lässt ihn nicht ganz sinken; ihre ewigen Grenzen
schützen ihn, ihre unerschöpflichen Hilfsmittel retten ihn, sobald er
seine Freiheit nur ohne allen Vorbehalt aufgibt. Obgleich er in diesem
Zustand von keinen Gesetzen weiß, so walten diese doch unerkannt über
ihm, und wie sehr auch seine einzelnen Bestrebungen mit dem Ganzen im
Streit liegen mögen, so wird sich dieses doch unfehlbar dagegen zu
behaupten wissen. Es gibt Menschen genug, ja, wohl ganze Völker, die in
diesem verächtlichen Zustande leben, die bloß durch die Gnade des
Naturgesetzes, ohne alle Selbstheit, bestehen und daher auch nur zu
etwas gut sind; aber dass sie auch nur leben und bestehen, beweist,
dass dieser Zustand nicht ganz gehaltlos ist.
Wenn dagegen schon der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und
öfters gefährlich ist, so ist der falsche in den seinigen schrecklich.
Der wahre Idealist verlässt nur deswegen die Natur und Erfahrung, weil
er hier das Unwandelbare und unbedingt Notwendige nicht vorfindet,
wornach die Vernunft ihn doch streben heißt; der Phantast verlässt die
Natur aus bloßer Willkür, um dem Eigensinne der Begierden und den Launen
der Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können. Nicht in
die Unabhängigkeit von physischen Nötigungen, in die Lossprechung von
moralischen setzt er seine Freiheit. Der Phantast verleugnet also nicht
bloß den menschlichen – er verleugnet allen Charakter, er ist völlig
ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts. Aber
eben darum, weil die Phantasterei keine Ausschweifung der Natur, sondern
der Freiheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage
entspringt, die ins Unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu
einem unendlichen Fall, in eine bodenlose Tiefe und kann nur in einer
völligen Zerstörung sich endigen.
[Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar]
1
Kant, meines Wissens der Erste, der über dieses Phänomen eigens zu
reflektieren angefangen, erinnert, dass, wenn wir von einem Menschen den
Schlag der Nachtigall bis zur höchsten Täuschung nachgeahmt fänden und
uns dem Eindruck desselben mit ganzer Rührung überließen, mit der
Zerstörung dieser Illusion alle unsere Lust verschwinden würde. Man sehe
das Kapitel vom intellektuellen Interesse am Schönen in der Kritik der
ästhetischen Urteilskraft. Wer den Verfasser nur als einen großen
Denker bewundern gelernt hat, wird sich freuen, hier auf eine Spur
seines Herzens zu treffen und sich durch diese Entdeckung von dem hohen
philosophischen Beruf dieses Mannes (welcher schlechterdings beide
Eigenschaften fordert) zu überzeugen.
2
Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabenen (Kritik der
ästhetischen Urteilskraft, S. 225 der ersten Auflage) unterscheidet
gleichfalls diese dreierlei Ingredienzien in dem Gefühl des Naiven, aber
er gibt davon eine andre Erklärung. »Etwas aus beidem (dem animalischen
Gefühl des Vergnügens und dem geistigen Gefühl der Achtung)
Zusammengesetztes findet sich in der Naivität, die der Ausbruch der der
Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern
Natur gewordene Verstellungskunst ist. Man lacht über die Einfalt, die
es noch nicht versteht, sich zu verstellen, und erfreut sich doch auch
über die Einfalt der Natur, die jener Kunst hier einen Querstrich
spielt. Man erwartete die alltägliche Sitte der gekünstelten und auf den
schönen Schein vorsichtig angelegten Äußerung, und siehe, es ist die
unverdorbene schuldlose Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig
und Der, so sie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. Dass
der schöne, aber falsche Schein, der gewöhnlich in unserm Urteile sehr
viel bedeutet, hier plötzlich in Nichts verwandelt, dass gleichsam der
Schalk in uns selbst bloßgestellt wird, bringt die Bewegung des Gemüts
nach zwei entgegengesetzten Richtungen nach einander hervor, die
zugleich den Körper heilsam schüttelt. Dass aber etwas, was unendlich
besser als alle angenommene Sitte ist, die Lauterkeit der Denkungsart
(wenigstens die Anlage dazu), doch nicht ganz in der menschlichen Natur
erloschen ist, mischt Ernst und Hochschätzung in dieses Spiel der
Urteilskraft. Weil es aber nur eine kurze Zeit Erscheinung ist und die
Decke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird, so mengt sich
zugleich ein Bedauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit
ist, die sich als Spiel mit einem solchen gutherzigen Lachen sehr wohl
verbinden lässt und auch wirklich damit gewöhnlich verbindet, zugleich
auch die Verlegenheit dessen, der den Stoff dazu hergibt, darüber dass
er noch nicht nach Menschenweise gewitzigt ist, zu vergüten pflegt.« –
Ich gestehe, dass diese Erklärungsart mich nicht ganz befriedigt, und
zwar vorzüglich deswegen nicht, weil sie von dem Naiven überhaupt etwas
behauptet, was höchstens von einer Spezies desselben, dem Naiven der
Überraschung, von welchem ich nachher reden werde, wahr ist. Allerdings
erregt es Lachen, wenn sich Jemand durch Naivität bloß gibt,
und in manchen Fällen mag dieses Lachen aus einer vorhergegangenen
Erwartung, die in Nichts aufgelöst wird, fließen. Aber auch das Naive
der edelsten Art, das Naive der Gesinnung, erregt immer ein Lächeln,
welches doch schwerlich eine in Nichts aufgelöste Erwartung zum Grunde
hat, sondern überhaupt nur aus dem Kontrast eines gewissen Betragens mit
den einmal angenommenen und erwarteten Formen zu erklären ist. Auch
zweifle ich, ob die Bedauernis, welche sich bei dem Naiven der letztern
Art in unsere Empfindung mischt, der naiven Person, und nicht vielmehr
uns selbst oder vielmehr der Menschheit überhaupt gilt, an deren Verfall
wir bei einem solchen Anlass erinnert werden. Es ist zu offenbar eine
moralische Trauer, die einen edlern Gegenstand haben muss, als die
physischen Übel, von denen die Aufrichtigkeit in dem gewöhnlichen
Weltlauf bedrohet wird, und dieser Gegenstand kann nicht wohl ein
anderer sein, als der Verlust der Wahrheit und Simplizität in der
Menschheit.
3 Ich
sollte vielleicht ganz kurz sagen: die Wahrheit über die Verstellung;
aber der Begriff des Naiven scheint mir noch etwas mehr einzuschließen,
indem die Einfachheit überhaupt, welche über die Künstelei, und die
natürliche Freiheit, welche über Steifheit und Zwang siegt, ein
ähnliches Gefühl in uns erregen.
4 Ein Kind ist ungezogen, wenn es
aus Begierde, Leichtsinn, Ungestüm den Vorschriften einer guten
Erziehung entgegenhandelt, aber es ist naiv, wenn es sich von dem
Manierierten einer unvernünftigen Erziehung, von den steifen Stellungen
des Tanzmeisters u. dergl. aus freier und gesunder Natur dispensiert.
Dasselbe findet auch bei dem Naiven in ganz uneigentlicher Bedeutung
statt, welches durch Übertragung von dem Menschen auf das Vernunftlose
entsteht. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten,
der schlecht gewartet wird, das Unkraut überhand nimmt; aber es hat
allerdings etwas Naives, wenn der freie Wuchs hervorstrebender
Äste das mühselige Werk der Schere in einem französischen Garten
vernichtet. So ist es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geschultes Pferd
aus natürlicher Plumpheit seine Lektion schlecht macht; aber es hat
etwas vom Naiven, wenn es dieselbe aus natürlicher Freiheit vergisst.
5 Da das Naive bloß auf der Form
beruht, wie etwas getan oder gesagt wird, so verschwindet uns diese
Eigenschaft aus den Augen, sobald die Sache selbst entweder durch ihre
Ursache oder durch ihre Folgen einen überwiegenden oder gar
widersprechenden Eindruck macht. Durch eine Naivität dieser Art kann
auch ein Verbrechen entdeckt werden; aber dann haben wir weder die Ruhe
noch die Zeit, unsere Aufmerksamkeit auf die Form der Entdeckung zu
richten, und der Abscheu über den persönlichen Charakter verschlingt das
Wohlgefallen an dem natürlichen. So wie uns das empörte Gefühl die
moralische Freude an der Aufrichtigkeit der Natur raubt, sobald wir
durch eine Naivität ein Verbrechen erfahren, eben so erstickt das
erregte Mitleiden unsere Schadenfreude, sobald wir Jemand durch seine
Naivität in Gefahr gesetzt sehen.
6
Aber auch nur bei den Griechen; denn es gehörte gerade eine solche rege
Bewegung und eine solche reiche Fülle des menschlichen Lebens dazu, als
den Griechen umgab, um das Leben auch in das Leblose zu legen und das
Bild der Menschheit mit diesem Eifer zu verfolgen. Ossians Menschenwelt
z. B. war dürftig und einförmig; das Leblose um ihn her hingegen war
groß, kolossalisch, mächtig, drang sich also auf und behauptete selbst
über den Menschen seine Rechte. In den Gesängen dieses Dichters tritt
daher die leblose Natur (im Gegensatz gegen den Menschen) noch weit mehr
als Gegenstand der Empfindung hervor. Indessen klagte auch schon Ossian
über einen Verfall der Menschheit, und so klein auch bei seinem Volke
der Kreis der Kultur und ihrer Verderbnisse war, so war die Erfahrung
davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefühlvollen
moralischen Sänger zu dem Leblosen zurückzuscheuchen und über seine
Gesänge jenen elegischen Ton auszugießen, der sie für uns so rührend und
anziehend macht.
7
8
Ilias, Voß'sche Übersetzung. Erster Band, Seite 153.
9 Es
ist vielleicht nicht überflüssig, zu erinnern, dass, wenn hier die neuen
Dichter den alten entgegengesetzt werden, nicht sowohl der Unterschied
der Zeit, als der Unterschied der Manier zu verstehen ist. Wir haben
auch in neuern, ja sogar in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen
Klassen, wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art, und unter den alten
lateinischen, ja selbst griechischen Dichtern fehlt es nicht an
sentimentalischen. Nicht nur in demselben Dichter, auch in demselben
Werke trifft man häufig beide Gattungen vereinigt an, wie z. B. in
Werthers Leiden, und dergleichen Produkte werden immer den größern
Effekt machen.
10
Molière als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Ausspruch seiner
Magd ankommen lassen, was in seinen Komödien stehen bleiben und
wegfallen sollte; auch wäre zu wünschen gewesen, dass die Meister des
französischen Kothurns mit ihren Trauerspielen zuweilen die Probe
gemacht hätten. Aber ich wollte nicht raten, dass mit den
Klopstockischen Oden, mit den schönsten Stellen im Messias, im
verlorenen Paradies, in Nathan dem Weisen und vielen andern Stücken eine
ähnliche Probe angestellt würde. Doch was sage ich? Diese Probe ist
wirklich angestellt, und die Molière'sche Magd raisonniert ja
Langes und Breites in unsern kritischen Bibliotheken, philosophischen
und literarischen Annalen und Reisebeschreibungen über Poesie, Kunst u.
dergl., nur wie billig auf deutschem Boden ein wenig abgeschmackter als
auf französischem, und wie es sich für die Gesindestube der deutschen
Literatur geziemt.
11 Wer
bei sich auf den Eindruck merkt, den naive Dichtungen auf ihn machen,
und den Anteil, der dem Inhalt daran gebührt, davon abzusondern im
Stande ist, der wird diesen Eindruck, auch selbst bei sehr pathetischen
Gegenständen, immer fröhlich, immer rein, immer ruhig finden; bei
sentimentalischen wird er immer etwas ernst und anspannend sein. Das
macht, weil wir uns bei naiven Darstellungen, sie handeln auch, wovon
sie wollen, immer über die Wahrheit, über die lebendige Gegenwart des
Objekts in unserer Einbildungskraft erfreuen und auch weiter nichts als
diese suchen, bei sentimentalischen hingegen die Vorstellung der
Einbildungskraft mit einer Vernunftidee zu vereinigen haben und also
immer zwischen zwei verschiedenen Zuständen in Schwanken geraten.
12 Im
Nathan dem Weisen ist dieses nicht geschehen, hier hat die frostige
Natur des Stoffes das ganze Kunstwerk erkältet.
Aber Lessing wusste selbst, dass er kein Trauerspiel schrieb, und
vergaß nur, menschlicher Weise, in seiner eigenen Angelegenheit die in
der Dramaturgie aufgestellte Lehre, dass der Dichter nicht befugt sei,
die tragische Form zu einem andern als tragischen Zweck anzuwenden. Ohne
sehr wesentliche Veränderungen würde es kaum möglich gewesen sein,
dieses dramatische Gedicht in eine gute Tragödie umzuschaffen; aber mit
bloß zufälligen Veränderungen möchte es eine gute Komödie abgegeben
haben. Dem letztern Zweck nämlich hätte das Pathetische, dem erstern das
Raisonnierende aufgeopfert werden müssen, und es ist wohl keine Frage,
auf welchem von beiden die Schönheit des Gedichts am meisten beruht.
13 Dass
ich die Benennungen Satire, Elegie und Idylle in einem weitern Sinn
gebrauche, als gewöhnlich geschieht, werde ich bei Lesern, die tiefer in
die Sache dringen, kaum zu verantworten brauchen. Meine Absicht dabei
ist keineswegs, die Grenzen zu verrücken, welche die bisherige Observanz
sowohl der Satire und Elegie als der Idylle mit gutem Grunde gesteckt
hat; ich sehe bloß auf die in diesen Dichtungsarten herrschende
Empfindungsweise, und es ist ja bekannt genug, dass diese sich
keineswegs in jene engen Grenzen einschließen lässt. Elegisch rührt uns
nicht bloß die Elegie, welche ausschließlich so genannt wird: auch der
dramatische und epische Dichter können uns auf elegische Weise bewegen.
In der Messiade, in Thomsons Jahreszeiten, im verlorenen Paradies, im
befreiten Jerusalem finden wir mehrere Gemälde, die sonst nur der
Idylle, der Elegie, der Satire eigen sind. Eben so, mehr oder weniger,
fast in jedem pathetischen Gedichte. Dass ich aber die Idylle selbst zur
elegischen Gattung rechne, scheint eher einer Rechtfertigung zu
bedürfen. Man erinnere sich aber, dass hier nur von derjenigen Idylle
die Rede ist, welche eine Spezies der sentimentalischen Dichtung ist, zu
deren Wesen es gehört, dass die Natur der Kunst und das Ideal der
Wirklichkeit entgegengesetzt werde. Geschieht dieses auch nicht
ausdrücklich von dem Dichter, und stellt er das Gemälde der
unverdorbenen Natur oder des erfüllten Ideales rein und selbständig vor
unsere Augen, so ist jener Gegensatz doch in seinem Herzen und wird sich
auch ohne seinen Willen in jedem Pinselstrich verraten. Ja, wäre dieses
nicht, so würde schon die Sprache, deren er sich bedienen muss, weil sie
den Geist der Zeit an sich trägt und den Einfluss der Kunst erfahren,
uns die Wirklichkeit mit ihren Schranken, die Kultur mit ihrer Künstelei
in Erinnerung bringen; ja, unser eigenes Herz würde jenem Bilde der
reinen Natur die Erfahrung der Verderbnis gegenüber stellen und so die
Empfindungsart, wenn auch der Dichter es nicht darauf angelegt hätte, in
uns elegisch machen. Dies letztere ist so unvermeidlich, dass selbst der
höchste Genuss, den die schönsten Werke der naiven Gattung aus alten und
neuen Zeiten dem kultivierten Menschen gewähren, nicht lange rein
bleibt, sondern früher oder später von einer elegischen Empfindung
begleitet sein wird. Schließlich bemerke ich noch, dass die hier
versuchte Einteilung, eben deswegen, weil sie sich bloß auf den
Unterschied in der Empfindungsweise gründet, in der Einteilung der
Gedichte selbst und der Ableitung der poetischen Arten ganz und gar
nichts bestimmen soll; denn da der Dichter, auch in demselben Werke,
keineswegs an dieselbe Empfindungsweise gebunden ist, so kann jene
Einteilung nicht davon, sondern muss von der Form der Darstellung
hergenommen werden.
14 Man
lese z. B. das treffliche Gedicht, Carthon betitelt.
15 Man
sehe das Gedicht dieses Namens in seinen Werken.
16 Ich
sage musikalischen, um hier an die doppelte Verwandtschaft der
Poesie mit der Tonkunst und mit der bildenden Kunst zu erinnern. Je
nachdem nämlich die Poesie entweder einen bestimmten Gegenstand
nachahmt, wie die bildenden Künste tun, oder je nachdem sie, wie die
Tonkunst, bloß einen bestimmten Zustand des Gemüts
hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nötig zu haben,
kann sie bildend (plastisch) oder musikalisch genannt werden. Der
letztere Ausdruck bezieht sich also nicht bloß auf dasjenige, was in der
Poesie, wirklich und der Materie nach, Musik ist, sondern überhaupt auf
alle diejenigen Effekte derselben, die sie hervorzubringen vermag, ohne
die Einbildungskraft durch ein bestimmtes Objekt zu beschränken; und in
diesem Sinne nenne ich Klopstock vorzugsweise einen musikalischen
Dichter.
17 Der
Hang,« wie Herr Adelung sie definiert, »zu rührenden, sanften
Empfindungen ohne vernünftige Absicht und über das zugehörige Maß.« –
Herr Adelung ist sehr glücklich, dass er nur aus Absicht und gar nur aus
vernünftiger Absicht empfindet.
18 Man
soll zwar gewissen Lesern ihr dürftiges Vergnügen nicht verkümmern, und
was geht es zuletzt die Kritik an, wenn es Leute gibt, die sich an dem
schmutzigen Witz des Herrn Blumauer erbauen und erlustigen können. Aber
die Kunstrichter wenigstens sollten sich enthalten, mit einer gewissen
Achtung von Produkten zu sprechen, deren Existenz dem guten Geschmack
billig ein Geheimnis bleiben sollte. Zwar ist weder Talent noch Laune
darin zu verkennen, aber desto mehr ist zu beklagen, dass Beides nicht
mehr gereiniget ist. Ich sage nichts von unsern deutschen Komödien, die
Dichter malen die Zeit, in der sie leben.
19 Mit
Herz: denn die bloß sinnliche Glut des Gemäldes und die üppige
Fülle der Einbildungskraft machen es noch lange nicht aus. Daher bleibt
Ardinghello bei aller sinnlichen Energie und allem Feuer des Kolorits
immer nur eine sinnliche Karikatur ohne Wahrheit und ohne ästhetische
Würde. Doch wird diese seltsame Produktion immer als ein Beispiel des
beinahe poetischen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen fähig
war, merkwürdig bleiben.
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(Schillers Sämmtliche Werke, Erster Band 1879, Stuttgart:
J. G. Cotta'sche Buchhandlung, S. 653-719, Quelle:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3347/1, hochgeladen von
gerd.bouillon@t-online.de,
heruntergeladen am: 9.9.2014)
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naive und sentimentalische Dichtung, von
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Bausteine
▪
Physische und moralische Kultur
(Strukturbild)
▪
Das Schöne und das Erhabene
(Strukturbild)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.06.2021