teachSam- Arbeitsbereiche:
Arbeitstechniken - Deutsch - Geschichte - Politik - Pädagogik - PsychologieMedien - Methodik und Didaktik - Projekte - So navigiert man auf teachSam - So sucht man auf teachSam - teachSam braucht Werbung


deu.jpg (1524 Byte)

 

 

Textauswahl zur Uraufführung 13.1.1782 - Mannheim

August Wilhelm Iffland: Über meine theatralische Laufbahn(1798)

Friedrich Schiller (1759-1805): Die Räuber - Rezeptionsgeschichte

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Friedrich Schiller Biographie
Werke Dramatische Werke Die Räuber Didaktische und methodische Aspekte Überblick Gesamttext /Recherche/Leseversion) Entstehungsgeschichte des Dramas Stoffgeschichte  • Verschiedene Fassungen Schiller zu den "Räubern" Komposition des Dramas Handlungsverlauf Figurenkonstellation Einzelne Figuren Weitere Aspekte der Analyse Sprachliche Form Rezeptionsgeschichte Überblick [ Uraufführung in Mannheim (13.1.1782, Nationaltheater) Überblick  • Besetzung (Schauspieler ) Iffland als Franz Moor Textauswahl Bausteine ] Textauswahl Bausteine Textauswahl • Bausteine Links ins Internet Maria Stuart Lyrische Werke Sonstige Werke Bausteine Links ins Internet  Schreibformen Rhetorik Operatoren im Fach Deutsch
 

August Wilhelm Iffland (1759-1814)
Über meine theatralische Laufbahn (1798) - Auszüge

Einige Männer, deren Meinung mir schätzbar ist, haben mich aufgefordert, bey Gelegenheit der Herausgabe meiner Schauspiele über meine theatralische Laufbahn etwas zu sagen. Diese Aufforderungen, das Vergnügen, welches ich empfinde, da ich im Niederschreiben die Vergangenheit mir wieder näher bringe, besonders die Ueberzeugung, daß ich auf dem Wege, den ich gewählt habe, mehr Ruhe und viel mehr inneren Frieden genieße als andere – das sind die Veranlassungen zur Entstehung und die Entschuldigungen für die Bekanntmachung dieser Fragmente. [...]
In meinem fünften Jahre habe ich das erste Schauspiel gesehen, und es machte einen wundersamen Eindruck auf mich.
Endlich mag das Bild sich verloren haben; wenigstens erinnere ich mich nichts von allem, was in dem Zeitraume mit mir vorgegangen ist, bis ich das erste Schauspiel gesehen habe. Dieß muß im Jahre 1765 gewesen seyn.
Wie ich hier wieder viele Lichter, viele Menschen, einen großen Raum und bunte Farben auf dem Vorhange sah, so stand auf einmal jenes entzückende Bild wieder vor mir. Die Musik, das Hinaufrollen, das Verschwinden des großen Vorhanges, dünkte mich eine Zauberey. Der große, freundliche, helle Raum hinter dem Vorhange war mir unerwartet. Als er von wohlgekleideten Menschen betreten wurde, als diese sprachen, lachten, als in dem hellen Raume eine Handlung vorging wie zu Hause, so war ich ganz außer mir vor Bewunderung und Freude. Ich küßte meinen Bruder, ich sprach kein Wort, um von der himmlischen Herrlichkeit nichts zu verlieren, die vor meinen Augen aufgegangen war.
Es war, glaube ich, der Kranke in der Einbildung, der den Tag gegeben wurde. Ich wollte noch den Platz angeben, wo der alte Ackermann im Schlafrocke gesessen hat; ich sehe noch den Liebhaber im grauen Kleide und grüner Weste mit Golde. Ich erinnere mich, daß es mir häßlich vorkam, daß der Vater seine kleine Tochter in Gegenwart so vieler Menschen schlagen wollte. Zum Schluß wurde das Ballet, die Judenhochzeit, gegeben. Das machte mir wenig Freude. Der große Topf, der darin zertreten wird, ärgerte mich. Es gefiel mir nicht, daß die Leute nicht sprechen wollten, so wie ich nicht begreifen konnte, und es für ungezogen hielt, daß sie in dem großen, schönen Zimmer beständig sprangen und liefen.
Der große helle Raum, auf dem alles vorging, kam mir vor, wie unsere Visitenstube zu Hause; und wie diese unverletzlich war, wie darin weder ein Topf hätte zerschlagen, noch wie die Juden hätten darin herumspringen dürfen, so kam mir das auf diesem hellen Platze äußerst unschicklich vor.
Das zierliche Benehmen der Personen, welche vorher im Schauspiele gesprochen hatten, und daß sie so einer hinter einander gesprochen hatten, dünkte mich so reitzend, so vornehm, so ehrwürdig! Man erklärte mir, daß sie das alles auswendig gelernt hätten. Nun staunte ich sie an, wie hohe, besondre Wesen.
An jedem Fenstervorhange probierte ich zu Hause das Hinaufrauschen der Zauberdecke, und das Herabsenken, das den schönen hellen Raum und die Wesen, die so zart und fein darin gewandelt waren, mir wie der genommen hatte.
Immer sprach ich von diesem schönen hellen Bilde, und war recht betrübt, daß niemand so entzückt darüber war als ich. Als nun gar einige von den Menschen, die das Bild darstellten, verächtlich sprachen, so gerieth ich in Zorn und Kummer. Ich suchte allein zu seyn, allein an das zu denken, wovon niemand in meinem Entzücken mit mir reden wollte. Ich zog heimlich die Fenstervorhänge auf und nieder, weil man mich auslachte, daß ich mit diesem Spielwerke den Zauber wieder herstellen wollte. [...]
Nun kam im Jahre 1767 die Seilerische Gesellschaft nach Hannover. Dieser wurde das kleine Schloßtheater eingeräumt.
Im Stillen dachte ich mir diese als ganz außerordentliche Menschen, weil sie in der Wohnung des Königs hausen dürften.
Von ihren trefflichen Darstellungen wurde viel und mit Wärme gesprochen. Meine Geschwister hatten sie gesehen, erzählen den Inhalt der Schauspiele, und sprachen davon mit Rührung, Verstand und Ueberzeugung.
Mein ältester Bruder las zu Zeiten Leßings Dramaturgie, die eben damals heraus kam, in den Abendstunden laut vor. Er verglich den Inhalt mit dem Gesehenen, und gab mit Geist, Wärme und Zartheit das deutlichste Bild von allem. Seine Schulfreunde – und das waren Leute von Kraft, bestritten hier und da seine Meinung, die er mit Feuer und Eigenheit aufrecht hielt. Mit Empfindung, Geschmack und jeder Weiblichkeit gab meine Schwester oft den Ausschlag.
Ich saß in einer Ecke, von niemand bemerkt, und hörte mit Innigkeit zu. Ich verstand das Wenigste, aber ich füllte Vieles. Nie kam mir der Schlaf über diesen Gesprächen, so lange sie auch dauern mochten.
So bekam ich ein dunkles Vorgefühl von dieser Kunst, und auch wohl etwas mehr. Es muß etwas Seltnes seyn, sagte ich mir, was kluge und gute Menschen in eine solche Bewegung setzen kann.
Einst kam mein ehrwürdiger Vater aus einer Vorstellung der Miß Sara Sampson nach Hause. Er war ganz erweicht von den Leiden der Sara, er sprach viel von der Reue des Mellefont und von dem Grame des alten Vaters Sampson. Es ist lehrreich anzusehen, sprach er, wie die Tochter in das Unglück geräth, und Kinder können da einsehen, was ein armer Vater durch ihren Leichtsinn leidet. Ich will alle meine Kinder hinschicken, wenn dieses Schauspiel wiederholt wird.
Dieß geschah bald darauf, und wir wurden hingeschickt.
Ganz anders war meine Freude auf diesen Tag, als vorher, wie ich nach dem Ballhofe geschickt wurde.
Mein Vater hatte gesagt: die Sache sey lehrreich, wir könnten dabey lernen. Ich hatte ihn von der Geschichte gerührt gesehen. Auf dem Zettel stand: ein Trauerspiel! Es war also von Würde, Trauer, Unterricht die Rede. Und alle diese Dinge waren auf dem Schlosse des Königs zu sehen! Die ganze Sache war also vornehm, feierlich, gebilligt von dem Könige und meinem Vater zu betrachten. Mein Vater selbst gab mir den Komödienzettel, und erklärte mir die Personen. Er gab mir Lehren, wie ich mich im Schauspielhause zu betragen hätte. Ich sollte still, sittsam, ruhig seyn, nicht umhergaffen, die Augen nach dem richten, was auf dem Theater vorginge, wohl Acht haben, was dort für nützliche Dinge gesagt würden. Dieß alles gelobte ich ernstlich und aufrichtig.
Den Komödienzettel steckte ich mit aller Sorgfalt, wie einen Reisepaß, zu mir. Das Einlaßbillet betrachtete ich mit süßer Freude, und schwärmte mir manche erhabne Ursache, weßhalb das Siegel auf diesem Billet einen Dolch und eine Larve vorstellen mußte.
Ich wurde angezogen, wie es gewöhnlich zu geschehen pflegte, wenn wir Fremde besuchen durften. Alles das gab mir einen sehr feierlichen Begriff von der Sache. Um vier Uhr sollten wir hingehen; um drey Uhr hatte ich schon den Hut in der Hand. Endlich schlug es denn. Wir wallten durch zwey Schloßhöfe, die breite Treppe hinan. Noch nie war ich in diesem großen Gebäude gewesen. Die langen Gänge, die hohen Thüren, die Wachen, die gemahlten Deckenstücke über den Gängen, alles dünkte mich groß und erhaben. [9] Der Eingang zum Theater war gedrängt mit Menschen angefüllt. Verehrung, Freude, Wonne gab es mir, daß so viele Menschen auch nach dem sich sehnten, was meine ganze Seele erfüllte. Angst überfiel mich, daß die ganze Stadt sich herdrängen und ich nichts sehen würde. Die Thüren wurden geöffnet, die Menge drang ein, ich mit, und bald saß ich in der vorderen Reihe einer Loge.
Das Haus wurde allmählich beleuchtet, und mein Begriff von der Würde der Sache sehr vermehrt durch die Niedlichkeit der Einrichtung. Die vorderen Lampen auf der Bühne wurden angesteckt, der Vorhang – der alle Sehnsucht meiner Seele noch verbarg, ward sichtbar.
Wie freute ich mich über die glänzenden Farben, die da schimmerten; wie ward ich entzückt, als ich bey vollem Licht, umgeben von einer schwebenden Wolke, den Namen des Königs auf diesem Vorhang erblickte, dem zur Seite eine schützende Gottheit erschien!
Der Eindruck, den dieser Name an dieser Stelle auf mich nothwendig machen mußte, ist nichts weniger als unbedeutend. Er bezeichnet in Hannover alles, was unmittelbar königliches Eigenthum ist, oder unter besonderem königlichen Schutze steht. Er macht die Ehre der königlichen Fahnen, die Autorität der Münzen, er bezeichnet die königlichen Prachtgebäude, und – sonderbar, daß mir das eben damals beyfallen mußte – er steht vor manchen Gesangbüchern.
Wie kann man, dachte ich mir, nicht mit Achtung von Leuten sprechen, und mit Verehrung von ihrem Beruf, deren Werk, bis es die Leute sehen sollen, von dem königlichen Namen in des Königs Schlosse verdeckt ist?
Zugleich muß die Kunst alt und ehrwürdig seyn, sagte ich mir; denn der Name auf diesem Vorhange ist der Name Georgs des Zweyten, der lange todt ist, ein sehr ernster Mann war, brav gefochten hat, und der es doch also nicht für unköniglich gehalten haben muß, hier Belehrung oder Freude zu empfangen.
Eine schwermüthige Musik hatte mein Gefühl veredelt, als der Vorhang und die Wolke mit dem Namen schwand.
Viel heller, zierlicher, edler und überraschender war für mich der Anblick dieser Bühne, als der auf dem Ballhofe.

Miß Sara Sampson!
Ich bin in Thränen zerflossen während dieser Vorstellung. Das Gute, das Edle wurde so warm und herzlich gegeben – die Tugend erschien so ehrwürdig! Die Leiden der Menschen kannte ich bis daher nur aus Hübners biblischen Geschichten, oder von armen Leuten, welche Almosen empfingen: von einer solchen Leidensgeschichte, von einer solchen Sprache hatte ich keinen Begriff. Eckhof als Mellefont, die Hensel als Sara, die Bäck als Marwood! Solch eine wahre, hinreißende Schilderung, diese Allmacht des Gefühls, welche jedes Gefühl erregte und führte wohin es wollte – das reitzte, erhob und überwältigte meine Seele. Ich war ganz aufgelöst – der Vorhang sank herab – ich konnte nicht aufstehen, ich weinte laut, wollte nicht von der Stelle, sprach zu Hause davon mit fremden Zungen, und war niemand unangenehm den mein Feuer umfaßte. Ich mußte meinem Vater alles erzählen, er erzählte mir selbst davon, und seine edle Seele, sein väterliches Herz, das so weich zu empfinden wußte, wurde noch einmal in den Augenblick der Vorstellung selbst versetzt.
Von diesem Augenblick an ward mir der Schauplatz eine Schule der Weisheit, der schönen Empfindungen.
Bald darauf wurde das Trauerspiel Rodogine gegeben. Es war an diesem Tage ein großes Familiengastmahl bey uns. Ich wendete mich an einen freundlichen alten Onkel, er möge für uns das Fest dadurch vollenden, daß er mir die Erlaubniß zu verschaffen suche, in das Schauspiel gehen zu dürfen. Es wurde bewilligt.
Welch ein neues Fest! Der große Säulensahl mit einem grünen Teppich überdeckt. Die Gestalten schwebten feierlich langsam darüber her, man sah majestätische Bewegungen und hörte keinen Schritt. Zu den prächtigen, stolzen Reden wogten die Helmzierden auf und ab. Bey den Donnerworten, womit die Helden den Platz verließen, segelten die seidnen Gewänder weit in die Luft hinaus, und der kräftigste Ton, wie ich noch nie einen vernommen hatte, erschütterte meine Seele.
Die hohe Tragödie erfüllte mich mit schwärmerischer Ehrfurcht.
In Miß Sara hatte mich das Geräusch des Beyfalls beleidigt: in Rodogine erhob mich der donnernde Beyfall auf die höchste Stufe des Mitgefühls, des Stolzes, des Abscheus, der Zärtlichkeit – des Edelmuths. Meine liebsten Freuden hätte ich hingegeben, um eine Rede der Kleopatra in diesem Feuergeiste sagen zu können.
Man gab zum Schlusse ein Ballet – der Kapellmeister. Ich konnte nicht darüber lachen. Es kam einer in einem schwarzen Rocke mit Noten besetzt. Die Gallerie lachte und klatschte Zufriedenheit. Was mögen Antiochus denken und Kleopatra? – Warum schmettern sie nicht diese ungeweihten Lacher mit einer ihrer Königsreden zu Boden? So fühlte ich, und sah gar nicht mehr hin nach den Taubenkrämern im Tempel.
Stolz und hehr kam ich nach Hause, und erzählte von den Leiden des Demetrius und Antiochus. Mein Vater ließ mich eine Weile einhertraben, dann dauerte ihm die Staatsaction zu lange. Er fragte nach meinem Fortgange in den Lectionen, sprach ein paar ernste Worte, und meinte: – »Es sey nun eine Weile her genug von der Komödie gesprochen. Nun müßte es an ernste Dinge gehen.« Er begleitete diese Rede mit einem Blicke, der alle ähnliche Unterhaltungen für die Zukunft verbot.
Ich ward feuerroth, fühlte mich tief gekränkt und sehr unglücklich.
Ich sollte nicht mehr davon reden, was meine ganze Seele erfüllte! Ich sollte an ernste Dinge gehen! Es gab keine Dinge von höherem Ernst für mich, als Antiochus und Kleopatra. Wie? von diesen erhabenen, unglücklichen Fürsten, die sich vor meinen Augen so hoch, so königlich und so vertraulich gezeigt hatten, sollte ich nicht mehr reden?
Ich versuchte es bey meinen Geschwistern – Sie hörten eine Weile zu: aber sehr natürlich hatten sie es doch auch bald genug. Ich wandte mich an das Gesinde – das lachte mich aus; an meine Spielkameraden – die hatten keinen Sinn dafür. Ganze Tage machte ich den Tambur, und trug in ihrem Spiel die papierne Fahne, damit sie nur eine halbe Stunde mir zusehen möchten, wenn ich als Kleopatra raste, und als Antiochus weinte. Sie fanden bald lange Weile dabey, und ich verlor mein Auditorium.
Nun flog ich unter das Dach auf den Hohboden. Ein seidnes Tuch flatterte als der Mantel des Antiochus hinter mir her, eine alte Grenadiermütze war der königliche Helm, mit einem abgebrochnen Kinderdegen wüthete ich umher, und manchmahl, ohne das übrige Kostume zu ändern, vollendete ein Reifrock meiner Großmutter die Kleopatra.
Unter diesem allen prangte meine eigenthümliche Kleidung, ein Husarenhabit, an dem skelettähnlichen Körper, eine wohlgepuderte Zopfperücke bedeckte das stolze Haupt. Das hinderte mich nicht zu wüthen, und, von dem Jammer meiner eignen Töne gerührt, oft laut zu weinen. Manchmahl überfiel mich in dieser sehr tragischen Beschäftigung, der späte Abend, das Zwielicht auf dem großen, weiten, alten Boden gab mir Furcht – ein langsames Erstarren, und dann floh der stolze Antiochus in dem ganzen Heldenapparat, vereinigt mit dem der Kleopatra, mit Zetergeschrey von dannen.
Ich trachtete nun danach, alle mögliche Schauspiele zu lesen. Die erhabnen, die wüthenden waren mir die willkommensten.
Unter künstlich erlangter Vergünstigung sah ich noch Romeo und Julie.
Nun war es ganz um meine Ruhe geschehen. Wer meiner Schauspielwuth mit einer Miene in den Weg trat, war Kapellet Vater, ein Tyrann. Wer Geduld mit mir hatte – war mir die Mutter Kapellet.
Von meiner Liebe für das Schauspiel konnte ich mit niemand reden. Jedermann vermied es aus Grundsatz, oder weil es nicht amüsant für ihn war. Niemanden konnte ich vorlesen – niemand konnte mich bewundern, was ich doch zu verdienen glaubte. Das Komödienlesen wurde mir endlich auch erschwert, weil man einsah, wie sehr es mich von jeder andern nöthigen Beschäftigung abzog.
Ich verfiel bald auf ein anderes Mittel, diese hinreißende Neigung zu befriedigen.
Mein Vater las, oder ließ oft Abends Predigten lesen, von denen er wahre Nahrung für seine wohlwollende Seele empfing. Ich drängte mich unter dem frömmsten Anscheine zu dieser Lektüre, die der vortreffliche Mann mir nur selten zumuthete.
Mit Hunger nach der Stunde, mich vernehmen zu lassen, ging ich Abends mit Johann Jakob, oder Eberhard Rambach einher.
Süß und sanft las ich den ersten Theil dieser Predigten, mit erhobner Stimme den zweyten Theil, und im Donnertone die Ermahnungen an die Unbußfertigen in der Applikation vor.
Das freute die guten Aeltern. Sie wußten nichts davon, daß ich dabey nur an Romeo, an Kapellet und Antiochus denken könnte.
Da ich nicht in die Komödie gehen konnte, so ging ich traurig über den Schloßhof, und sah die Lichter flimmern im Vorhofe zum Allerheilichsten. Die Komödienzettel las ich wie Bücher der Weisheit, und der Zettelträger sogar schien mir wenigstens ein sehr an genehmer Mann zu seyn.
Indeß war das Schauspiel eine Zeit lang abwesend. Ein sehr gutmüthiger Lehrer ließ es sich angelegen seyn, mir die Erlernung nützlicher Dinge angenehm und Ehre bringend zu machen. Ich war damals sehr fleißig.
Die Geschichte war mir besonders werth, und die Charaktere, welche sie aufstellt, zogen mich so sehr und lebhaft in ihr Interesse, als das Schauspiel. Freylich dachte ich mir zu den Helden und Heldinnen, welche sie schildert, immer nur Eckhof und die Hensel. Aber beide Theile konnten nicht dabey verlieren.
Man ließ mich um diese Zeit auch den Grandison lesen und den Dechant von Killerine.
Die ehrwürdigen Personen im Grandison und so manche treffliche Menschen in meiner Familie hatten eine genaue Aehnlichkeit. Die Menschen in dem Romane machten mir meine Verwandten lieber, und so vieles Gute, was ich an meinen Verwandten sah, gab mir Glauben an die Menschen im Romane.
O wahrlich! ich habe noch nichts Edles und Gutes gelesen und gehört, was ich nicht an meinen Verwandten erlebt hätte. Die Stimmung für das Schauspiel ist wohl geblieben; aber sie war um jene Zeit viel sanfter.
Ein geistlicher Redner machte um dieselbe Zeit besondern Eindruck auf mich. Es war der verewigte Schlegel.
Früher als er die Menge hingerissen hat, riß er mich zur herzlichsten Rührung hin. Der Ton der Ueberzeugung, der väterlichsten Liebe athmete aus seinen herzlichen Reden. Oft wurde er selbst so ergriffen, daß er inne halten mußte. Sein Wandel ging mit seiner Lehre gleichen Schritt. Jedermann liebte ihn, und wenn es aus diesem Munde an mich ergangen wäre, – »Du mußt kein Schauspiel mehr sehen,« so würde ich mich darein ergeben haben.
Schlegel machte mir das Lehramt ehrwürdig. Ich sah deutlich ein, daß auf dieser Stelle, im öffentlichen Vortrage mehr geschehen könne, als bis daher Sitte war. Ich sah, daß sein Dialekt und seine Konstitution, so wie die weise Schonung der alten Gewohnheiten, ihn daran verhinderten.
In meiner Eitelkeit hielt ich mich berufen, das alles zu erreichen, und von da an nahm ich mir fest vor, es schien mir auch süß und Ehre bringend, Prediger zu seyn.
Nun las ich, schrieb und hielt Predigten.
Sehr leicht fand sich zu diesem heilsamen Zweck ein Auditorium von Hausgenossen, das mir, der ich, über eine Stuhllehne herab, hohe, fromme Dinge sprach, mit Erbauung zuhörte.
Einige alte Basen und Tanten wurden einst eingeladen, und wie jetzt die lieben Kinder den Anwesenden eine Sonate von Pleiel und Haydn vorspielen müssen, so wurde ich citiert, vor diesen Gästen eine Stelle aus dem Christ in der Einsamkeit vorzulesen.
Die redlichen alten Verwandtinnen ergossen sich in frommen Zähren, und verkündeten der Kirche ein neues Licht in dem Knaben. Nur mein Vater schwieg und war sehr ernst. Als wir allein waren, sagte mir der edle Mann: »Mein Sohn, der Prunk, mit dem du gelesen hast, kann mich nicht erfreuen. Er kommt aus einem kindischen Gemüth, und verräth eine unbescheidne Eitelkeit.« Ich fühlte, daß er Recht hatte, fand mich sehr gedemüthigt – aber ich predigte noch eine Weile mit großem Uebermuth, von der Stuhllehne herab, jedem, der es hören wollte.
Eine geraume Zeit ging mein Leben so hin, ohne daß etwas darin vorgefallen wäre, was außer dem gewöhnlichen Geleise gewesen wäre. Ich hatte die Arbeiten lieb gewonnen, womit man in diesem Alter beschäftigt zu werden pflegt, und ich that sie mit Anstrengung.

Da ich Privatunterricht empfing, so hatte ich fast gar keinen Freund meines Alters. [...]
Aus Verlegenheit schickte man mich auf die öffentliche Schule. Ich wurde in die zweyte Klasse eingeführt, da ich kaum taugte in der dritten zu seyn.
Meine Kenntniß der Geschichte, mein Gefühl für die Charaktere der Geschichte, war umfassender, richtiger, wahrer, als sie dort einer neben mir hatte.
Im reinen Gefühl für schöne Künste übertraf ich vielleicht sogar meine Lehrer.
Deßhalb hatte ich eine erhöhte Meinung von mir, die ich auf keine Weise hätte haben sollen, und konnte die Blößen gar nicht ertragen, die ich wegen jedes Mangels an gründlicher Wissenschaft so oft geben mußte.
Den Lehrern in dieser Klasse ward ich eben wegen dieses Mangels bald gleichgültig, und, da ich gar nicht in Betracht kam, meinen Mitschülern ein Gegenstand des Spottes. Unvermögend mir selbst aus dieser Lage zu helfen, zu lebhaft um einen ernsten Entschluß zu fassen, verfiel ich darauf, durch Witz und Neckereyen mich an allen denen zu rächen, die gar nichts in mir erkennen wollten.
Unglücklicher Weise wurde diese Art mich zu nehmen von meinen Kameraden gelobt, ich ging also immer weiter darin. Meine Brüder waren abwesend, meine Schwester konnte den Zustand meiner Unwissenheit nicht übersehen, da ich Liebe genug für sie hatte, in den Augenblicken ihrer Unruhe, und wenn sie mein Ehrgefühl reitzte, durch eine zusammen geraffte Oberfläche sie zu täuschen, oder durch eine periodische Anstrengung gute Zeugnisse meiner Lehrer, oder doch ihrer Hoffnungen, daß es gewiß anders werden würde, herbey zu schaffen.
Der Umgang einiger lebhaften jungen Leute meines Alters, in derselben Lage wie ich, setzte eine ziemliche Verwilderung in mir an.
Ein Buch, das um diese Zeit mir in die Hände fiel, führte mich viel weiter, als ich je gehen wollte und selbst wußte.
Der Roman Peregrin Pickel paßte von so mancher Seite auf meine besondre Lage, daß ich ihn mit Eifer verschlang. Ich that alles, um ihm ähnlich zu werden, um ihn zu übertreffen.
Schaarenweise überzogen wir Stadt und Land, um Kreuzzüge in Peregrins Geiste zu beginnen. Sie gelangen uns nur zu sehr; und da meine Kameraden, mit Recht oder ohne Recht, bey jedem lustigen Streiche, bey jeder Verkehrtheit [18] mich für den Urheber und Anführer ausgaben, so fiel der ganze Unwillen auf mich allein.
Zu welchem Unsinn kann nicht die Sucht, Aufsehen zu erregen, verleiten! zu welchen Widersprüchen mit dem besseren Gefühl, das ich betäubte, aber nie verloren hatte!
Das Schauspiel war lange abwesend gewesen, und wurde im großen Opernhause eröffnet.
Ich sah Richard den Dritten von Weiße.
Das große feierliche Haus machte einen gewaltigen Eindruck auf mich.
Was für eine Sache muß es seyn, dachte ich mir, um derentwillen man einen solchen Palast erbauet!
Auf dem alten Vorhange stand auf einer Seite des Musenberges ein Palmbaum, an welchem eine Gruppe von Waffengeräth aufgehangen war, mit der Unterschrift – »Hinc gloria et securitas«.
Auf der andern Seite war eben so, unter einer Gruppe von musikalischen Instrumenten, Larven nebst anderen Attributen des Schauspiels die Inschrift zu lesen:

»Curarum dulce levamen.«
Dulce levamen!

Das las ich und las es wieder, das dachte ich, das empfand ich. Eine Last war von mir genommen, indem ich so an mich und diese Inschrift dachte. Eine höhere Hand hatte mich an diesen Wegweiser hingeführt. Den Abend, in dem Augenblicke, entschied das Schicksal meine Laufbahn.
Von Richard dem Dritten genoß ich wenig. Einige große Augenblicke ergriffen mich und zündeten die erloschene Flamme für die Kunst wieder allmächtig in mir an. Das übrige des Schauspiels ging an mir vorüber. Ich war mit mir und meiner Zukunft beschäftigt. Warum heuchelst du der Märkischen Grammatik, da du für Richard alles empfindest? Wenn du einst Richard seyn kannst, warum sollst du es nicht seyn wollen? – Dann aber fielen die Wünsche der Meinigen, die Vorurtheile der Stadt Hannover, und die gänzliche Unwissenheit, wie das alles zu vereinigen seyn möchte, mir schwer auf das Herz. Ich brütete darüber bis zu Ende des Schauspiels.
Mit einiger Empfindung sah ich auf den Vorhang hin, als er zuletzt herab gefallen war. – Curarum dulce levamen! las ich abermals, riß mich mit Gewalt los, und rannte voll Muth und Hoffnung nach Hause.
Von nun an – es ist mir jetzt sehr leid – wandte ich mich entschieden von allem ab, was zur Lateinischen Grammatik gehört. Ich las und sah die Schauspiele mit Unterscheidung, mit Studium. Ich that mit der zartesten Sorgfalt alles für die Schauspielkunst, was ich für die übrigen Wissenschaften hätte thun sollen. Ich war überzeugt, daß ich endlich für meine Bestimmung arbeitete.
Es ist begreiflich, daß ich das alles sehr heimlich thun mußte, daß dadurch Heimlichkeit und Widerspruch, also Bitterkeit, in mein Leben, und Mißvergnügen in das Leben der Meinigen kommen mußte.
Je mehr ich um diese Kunst dulden mußte, je theurer ward sie mir. Für die Kunst war ich etwas; für die Wissenschaft war ich nichts.
Manchmal wohl habe ich mir Mühe gegeben, nach den Wünschen der Meinigen anders und gegen meine Wünsche zu denken. Manchmal bin ich an den Windmühlenberg gegangen, und habe die alten Träume dort zurück gerufen. Vergebens! Weinen konnte ich, daß sie vorüber waren, weinen über den geliebten abwesenden Bruder, und daß ich nun nicht mit ihm leben würde. Trauern mußte ich, daß ich nicht mehr in süßer Sicherheit hier stehen konnte wie vordem. Schwermüthig wallte ich den Berg hinan; aber es waren nicht mehr die Dorfpfarrthürme in der Nähe, wo ich sonst meine Heimath wünschte, was mich hinauf lockte. Ueber diese und das ferne blaue Gebirge hinweg rief mein künftiges Schicksal aus weiter Ferne. Wohin? wohin? sprach ich laut, wandte mich nach allen Gegenden, und weinte bitterlich. Wohin? sagte ich dann leiser, und konnte vor Thränen den Pfad hinab kaum finden.
Laut schluchzend rang ich mit der Gegenwart und Zukunft, mit meinen Wünschen und dem Verlangen der Meinigen, mit der allmächtigen Stimme in mir und dem Vorurtheile.
Mir unbewußt ging ich nach Hause, fort und fort bis an den Neustädter Kirchhof.
Ich stutzte – blieb stehen, und übersah das stille Todtengefilde.
Wie mancher – ach wie manche schläft hier, deren Busen einst so gewaltig von innerm Kampfe gehoben ward, als der deine jetzt! Wir steigen herauf aus Erde, drehen uns im Zirkel herum um unser Grab, fallen hinein, der Wind fährt über die Staubblume her, und wer stellt sich hin an den Rasen über unserm Haupte, und weiß es uns Dank, daß wir die stürmende Sehnsucht niederkämpfen konnten, die ja wohl das bessere in uns ist?
Ich ging zu den Grabsteinen meiner mütterlichen Verwandten, und setzte neben ihrem Staube meine Betrachtungen nicht fort; aber ich ließ meinen Thränen freyen Lauf.[...]
Indem ich für meine Bestimmung alles that, that ich wenig oder nichts für die Bestimmung, von der man wünschte, daß ich sie wählen möchte.
Aengstlichkeit verschloß mein Geheimniß in mir, daß es auch niemand ahnen konnte.
Um so widerwärtiger, ja, ich fühle es, um so verächtlicher mußte ich allen seyn, die, nicht unterrichtet von den Stürmen in mir, mich für träge, bösen Willens, und aus manchem verkehrten Streiche des höchsten Mißmuthes, für bös halten mußten.
Nur Eine Seele hat zu keiner Zeit den Glauben an mich verloren.
Meine einzigen Vertrauten waren die Todten. [...]
Geh hin in ein Land, das ich dir zeigen werde – so lautete das Motto über dem Grabe eines Fremdlings aus Iserlohn.
Das sprach gewaltig zu mir. Ja, rief ich laut und stark – das Schicksal wird es mir zeigen und ich werde hingehen! [...]
Indeß war das Schrödersche Theater nach Hannover gekommen, und Brockmanns glänzendes Talent, das Genie des großen Schröders und seiner Stiefschwestern, fachten die Gluth für die Schauspielkunst zur hellen Flamme an.
Ich war nicht mehr meiner mächtig. Das Studium der Kunst forderte mich fast täglich in ihren Tempel. Alle meine Verhältnisse strebten dem entgegen, so wie die ganze Sitte unsers Hauses, das einfach und herzlich, aber nach alter Weise, in Gebräuchen und Zeitmaß nach einer unabänderlichen Ordnung lebte, die auf besten Willen und Ueberzeugung von eines jeden Heil gegründet war. Jede Verletzung dieser Weise mußte ich mit verhaßter Künstlichkeit verstecken, oder die Folgen waren für alle Theile gleich schmerzlich und bitter.
So entstand für mich und die Meinen ein sehr trauriges Leben.
Wie durfte ich sagen, was in mir vorging? Wie konnte ich – man schrieb damals 1772 – Gewährung hoffen? Wem hätte ich es verargen können, wenn er meine Leidenschaft für die Kunst für Hang zur Zügellosigkeit genommen hätte?
Auf der Schule war ich zu der Zeit in die erste Klasse eingeführt.
Meine wenigen Schulwissenschaften berechtigten mich durchaus nicht dazu; und da diese Schule damals, von dem würdigen Direktor Ballhorn geführt, besonders diese Klasse, in der herrlichsten Blüthe stand, da treffliche Köpfe die Aufmerksamkeit des Lehrers forderten und verdienten – wie übel war ich dort hingewiesen, wie schlecht mußte ich mich ausnehmen, und was mußte ich bey dem Gefühl davon leiden! Gleichwohl kann die kein Vorwurf treffen, die mich dorthin geschickt hatten.
Ein Jahr Fleiß hätte alles ins Geleise bringen müssen, und sie konnten voraussetzen, daß das Mißgefühl über meine Vernachlässigung, weit eher als alles andere, mich gerade an dieser Stelle dazu hätte vermögen müssen.
Was mir den Glauben an mich selbst, den Muth für Thätigkeit raubte und rauben mußte, was – das Gefühl für die Kunst ausgenommen – mich träge und dumpf hinleben ließ, die immer während quälende Angst um die Tagesvorfälle in der Gegenwart und die Stürme für meinen Plan in die Zukunft – diese Noth, darin ich von einem Tage zum andern lebte, und nur durch einen lustig-tollen Streich, zu Zeiten aus Verzweiflung, mir Luft machte – – das alles konnte niemand wissen, und niemand mich beurtheilen, noch leiten.
Die zärtliche Sorgfalt der Meinigen vermuthete die Ursache von allem, was in mir nicht war, wie es hätte seyn sollen, in den Zerstreuungen, darein meine Lebhaftigkeit mich verwickelt haben könnte. Mit vieler Güte wurde es veranstaltet, und Herr Pastor Richter zu Springe vermocht, mich zu sich und meine Bildung zu übernehmen.
Jetzt, nachdem ich die zurückgelegte Bahn hinab sehe, kann ich wissen, daß, wenn das etliche Jahre früher geschehen wäre, meine Verwandten damit alles erreicht haben würden, was nun nicht mehr damit erreicht werden konnte.
Wen einmal der Genius einer Kunst mit lebendigem Oden angeweht hat, der will schaffen, den Gestalten seiner Phantasie Leben geben. Lernen kann er nur was dahin führt; alles andere Wissen ist ihm eine Erzählung von todten Dingen.
Indeß ist jener Aufenthalt mir von großem Nutzen gewesen. Ich verdanke dem Herrn Pastor Richter, seiner Nachsicht, Vollherzigkeit und seinem feinen Geschmacke vieles, sehr vieles von dem, was mir jetzt Freude und Freundschaft erwirbt.
Die Trennung von Hannover war mir sehr schmerzlich.
Am Abend vor meiner Abreise nahm ich noch Abschied vom Opernhause. Das Scheiden von den Meinigen brach mir das Herz.
Ich wurde gütig empfangen, freundlich behandelt, und mein würdiger Lehrer that vieles, um mir frohe Laune zu schaffen und zu erhalten.
Nicht unbeträchtliche Züge wurden über Berg und Thal gemacht, und es wurde mir nicht versagt, manchmal von einer Bergspitze den Thurm von Hannover zu sehen, neben dem alles wohnte, was auf der Welt mir werth und theuer war. – Nicht weit von diesem Thurme stand ja auch mein Ziel – Curarum dulce levamen! In diesen Bergen und Wäldern habe ich es doch nie aus den Augen gelassen. In dieser Einsamkeit bildete ich meine Plane aus für die Zukunft.
Ganz vortrefflich, mit großer Zartheit und Kraft zugleich, las Herr Richter mit uns Cicero über die Pflichten. Mit viel Erfahrung, Geist und Laune besprach er sich mit mir über Montaignes Versuche, die er mir zu lesen gegeben hatte.
Er gab mir die besten Dichter, und verwendete viele Mühe, daß ich die Schönheiten verstehen möchte, die ich fühlen konnte.
Ich bin ihm unendlich viel schuldig und werde es nie vergessen.
Durch ihn lernte ich feinere Sitten der Welt kennen, und bekam, wovon ich vorher fast nichts wußte, Lebenserfahrung.
Der Schauspielkunst ist dort nie erwähnt worden, nicht von ihm, nicht von mir: von seiner Seite wohl nur zufällig, von meiner sehr überdacht.
Ich bekam auch nichts vom Theater zu hören, als den Tod von Charlotte Ackermann. Wie die öffentlichen Blätter bey dieser Gelegenheit von ihr und der Schauspielkunst sprachen – welche Nahrung – welche Bestätigung meiner Gefühle und Entschlüsse gab mir das!
Die Verhältnisse des Herrn Pastor Richter verstatteten ihm nicht, mich länger als bis 1775 bey sich zu behalten. Ich kam nach Hannover und dort auf die Schule zurück. Ich that eine Zeit lang alles, was mir obliegen konnte, mit großer Sorgfalt, aber dennoch ungern, weil ich – jeden Schritt, den ich dort vorwärts that, für einen Schritt hielt, der von meiner Lieblingsleidenschaft mich zurück führte.
Wenn ich mich jetzt recht untersuche, so glaube ich, es war mir nicht zuwider, wenn durch Mangel an Wissenschaft eine Unmöglichkeit entschied, daß ich nicht auf die Akademie gehen könnte.
Anders begreife ich mein Betragen in jener Zeit jetzt nicht. Müßig war ich nie. Ich las, versuchte, überdachte alles, was mich zum Schauspieler bilden konnte: ich that aber gar zu wenig, was mich zum Prediger hätte bilden können.
Brockmanns Hamlet erregte freudigen Tumult in den Empfindungen aller jungen Leute von einiger Lebhaftigkeit, wie hat er mich beglückt.
Bey der Vorstellung des Hamlet schlossen sich in mir Gefühle auf für das Erhabne, Wunderbare und Große, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren.
Von der Zeit an wurde mir die Musik mehr als Wohlklang – eine hohe, allmächtige, deutliche Sprache.
Die Musik ward meine Freundin, meine Trösterin, die Pflegemutter meiner edelsten und liebsten Gefühle. Sie erhöhte meine Empfindungen, sprach sie aus, und antwortete dem Drang meiner Seele, wie ihm niemand noch hatte antworten können.
Mit süßer Schwermuth lauschte ich auf den Ton des Violoncells, welches mein Bruder zu spielen pflegte.
Nur wenn ich gar keine Musik hören oder kein Schauspiel sehen konnte, ging ich auf den Kirchhof, dachte in dieser stillen Versammlung meiner Sehnsucht nach, und brütete über der Zukunft.
Als die Beobachtung und der Mißverstand mich von da vertrieben, wich ich an andre stille Oerter, und zuletzt an eine Stelle, der schnelle Graben genannt, wo der Fluß die Leine von einer Höhe herab stürzt.
Ich sah gern hinab in den Wassersturz, und ward ruhiger über dem Bilde, wie die schäumenden Wogen zuletzt klar und milde in die ruhige Strömung sich verloren. Nicht Sturm noch Sonnengluth, nicht Nässe noch Frost hielten mich ab von diesen Wanderungen.
Sie waren Augenblicke, des Studiums, der Untersuchung, der Rücksprache mit mir selbst, der Beobachtung von Menschen-Schicksalen, des Genusses der Natur. Sie waren mir unentbehrlich geworden, und sie haben mir keinen Nachtheil gebracht.
Wohl manche theologische Lehrstunde ist darüber verloren gegangen, und manche andere Stunde des Unterrichts, die ich auf keine Weise hätte sollen verloren gehen lassen.
Einst ermannte ich mich, durchdrungen von Pflichtgefühl, und besuchte alles Ernstes wieder die Stunden.
Aber da war in einer derselben sehr lange und auf sonderbare Weise die Rede von Mohamets Grauschimmel. In einer andern wurden hohe, unverständliche Dinge über die Lehre von der Rechtfertigung gesprochen. Das war nicht einladend.
In die nämliche Zeit gehört, was der gute Anton Reiser in seiner Lebensbeschreibung über die Schulkomödie sagt, welche damals aufgeführt wurde. Wir waren beide von Einem Gefühl beseelt, und er hat über diesen, wie über alle Vorgänge seines Lebens, die ich bis zu seinem Abgange von Hannover kenne, mit Genauigkeit und der strengsten Wahrheit geschrieben. Friede und Wohlwollen sey mit seinem Gedächtniß!
Ich spielte in dieser Schulkomödie wie ein junger Mensch, dem es im Kopf und Herzen braust.
Der Aufwand von Kräften erregte Wohlgefallen. Indeß war ich in meinen Darstellungen sehr unter meinem Ideale geblieben, und fühlte recht sehr, was das für ein Unterschied ist, wenn man eine Sache mehr empfindet, als versteht. Ich wurde mit den großen Schwierigkeiten der Kunst bekannt, achtete sie um so mehr, und fühlte lebhaft, um einst weiter zu gelangen, sey keine Zeit mehr zu verlieren.
Ich fand es unedel, meinen Vater die Ausgaben der akademischen Jahre machen zu lassen, und dann erst einen Weg einzuschlagen, den er und die meisten für entgegen gesetzt halten mußten. Ich beschloß daher, mich ungesäumt aufzumachen, meine Wanderung für die Kunst und meine Lehrjahre anzutreten.
Nie hatte ich eine weitere Reise gemacht, als nach Springe, drey Meilen von Hannover: allein eine Reise nach Petersburg dünkte mich in meinem Plane ein Gang vor das Thor zu seyn.
Mancher Plan wurde gemacht, verworfen, gewählt, festgesetzt – mit einigen beredet – mit einem Einzigen sollte er ausgeführt werden.
Der Tag wurde bestimmt. Eine schwere Krankheit meines Vaters bewirkte Aufschub dieses Vorhabens, und dieser Vorfall hätte beynahe das ganze Unternehmen zerstört.
Es war mir durchaus nicht möglich, zu dieser Zeit etwas zu thun, davon ich wissen konnte, daß es den Planen, Wünschen, Hoffnungen und Gefühlen meines Vaters so durchaus entgegen seyn mußte.
Das schwere Opfer, das ich brachte, gab mir das Wohlseyn, das man bey innerm Werthe hat. Mit reinem Herzen freute ich mich jeder Spur von Genesung, und mit Erhebung sah ich auf das Opfer, das ich zu bringen im Stande gewesen war.
Ich ward in jener Periode recht fleißig. Ich gab mir keine Mühe, meine Leidenschaft für die Kunst zu unterdrücken; aber ich that nichts geflissentlich, diese Flamme zu nähren. Ich ließ es mit meiner Bestimmung auf den Wurf ankommen, den der blinde Zufall thun würde. Damals that ich alle meine Beschäftigungen auf der Schule mit großem Ernste.
Nach dortiger Gewohnheit pflegt ein Schüler von der Orgel herab, Sonntags Nachmittags, die Epistel und eine von dem Prediger entworfene Erklärung derselben in der Marktkirche abzulesen.
Dieß geschah mit einem Geplärr, worauf niemand hörte, so wie auch niemand etwas davon verstehen konnte.
Recht sehr beschäftigte mich die Möglichkeit, ob nicht eine Stimme von unbeträchtlichem Gehalt, in dem ungeheuren Gebäude, ohne zu brüllen oder zu singen, in diesen Vortrag Deutlichkeit, Leben, Ueberzeugung und Interesse sollte bringen können.
Man sagt, der Versuch sey mir gelungen; wenigstens wandte sich die Gemeinde, so schwerfällig sie auch am Sonntag Nachmittag wegen der Tischfreuden zu seyn pflegt, mit einigem Antheil nach dem Leser um.
Dieser geringfügige Umstand gab den alten Ideen, als Prediger zu wirken, wieder neue Kraft. Ich rang meine Kunstleidenschaft nieder; und wenn auch die Dinge um mich her deßhalb in einem wehmüthigen Lichte erschienen, so war dieser Zustand dennoch mehr angenehm als unangenehm.
Ich gefiel wieder denen, an deren Wohlgefallen mir so herzlich gelegen war. Ich trug jedermann ein offnes Herz und den redlichsten Willen entgegen. So lebte ich eine schöne Zeit die selige Unbefangenheit der Kindheit. Es gab Augenblicke, wo ich recht froh und von der heitersten Laune seyn konnte.
Wer dieß Auf- und Niederwogen in meiner Seele – woher es kam, wohin es ging – nicht kannte, was konnte der von mir halten? Ich verarge es niemand, wenn er in diese Sprünge von Entschluß zu Entschluß, in diese bald trübe, bald frohe Laune, sich nicht finden, nicht begreifen konnte, wie harte Fehler und das wahre Gute neben einander stehen konnten. – Ausgesprochen wurde das Anathema: Er ist ein Heuchler und wohl noch mehr. Es ward in der Behandlungsweise, auf den Gesichtern sichtbar.
Man achtete meiner nicht, und ich wußte fast nicht mehr, woran ich mit mir war. Ich bekam Zweifel, Mißtrauen, Mangel an Achtung für mich selbst.
Nur Eine Seele hat nie den Glauben an mich verloren. Dadurch wurde die bessere Kraft in mir gerettet und erhalten.
Es währte lange, ehe ich den Muth hatte, dem, daß man meinem Herzen zu nahe trat, zu widerstreben. Ich fand wahrlich die meisten Fehler an mir. Aber ich fand nirgend Böses.
Erst gerieth ich in Bitterkeit, endlich in Stumpfsinn und Fühllosigkeit.
In der Zeit las ich eine Nacht mit Anton Reiser, auf dem Steinkruge am Fuße des Deistergebirges, den Werther.
Das warf die helle Flamme in den Feuerstoff. Er loderte auf, und ich war nicht mehr Meister meines Willens. Nun fühlte ich manches Gute in mir lebendig, und daß es kein Mahl auf die Stirne drücke, ans der Bahn zu springen, in der hunderte gähnend schlendern.
Auf! dein Schicksal ruft, du bist Meister deiner Bahn! Wolle, zerreiß die Bande des Vorurtheils, laß nicht die Gewalt in dir von morschen Banden fesseln.
Ich sah Stella, Othello, Essex, Elfride, Clavigo. Jede Vorstellung riß mich fort zum Ziele hin.
Die öfteren Besuche des Schauspiels brachten Unordnung in meine ganze Verfassung, Unfrieden unter die Meinen, Aufhebung aller Hausordnung. Die ganze Meinung von mir war gesunken, diese Dinge rissen sie vollends nieder. Ich sah irgend einem Ausbruche von Bedeutung entgegen – ohne ihn abwehren zu können.
Den 21. Februar 1777 wurde die Vorstellung des Ehescheuen gegeben. Im dritten Akt wurde ich abgerufen. Da ich das Haus verließ, ahndete mir meines Schicksals Entwicklung.
An der Treppe vom ersten Rang Logen sah ich mit tiefen Seufzern über die rauschende Leine in die tiefe, stürmische Winternacht hinein. Krampfhaft umfaßte ich den Balken, und stand so still.
Meine Kraft vertrocknet, sagte ich mir, das zehrende Feuer ergreift das Gefäß – dieser Zustand muß enden. Als Schauspieler betrete ich dieß Haus – oder nie wieder, als bis ich es als Prediger betreten kann.
Und wahrlich das würde ich gehalten haben.
Ein Augenblick entschied noch denselben Abend.
Gereitzte Heftigkeit erregte die Gluth des Gefühls für das Bessere, das man nicht vorhanden wähnte.
Mein Loos wurde geworfen.
Der halbe Zustand meines Wissens war mir unerträglich. Der Mißverstand, darin jedermann mit mir lebte, untergrub meine Lebenskraft. Das Jahr, die Akademie zu beziehen, war angetreten; ich hatte zu Hannover weder Freude noch Frieden mehr zu hoffen, nicht jetzt nicht künftig.
Ich durchkämpfte das alles eine lange Nacht hindurch – Vor dem Tode kann keine bängere Nacht hergehen.
Am Morgen früh bat ich um die Erlaubniß, eine Reise über Land zu machen – küßte die Hand meiner Aeltern, riß eine Zeichnung von meines Vaters Gesichte von der Wand – und ging halb sinnlos aus dem väterlichen Hause in die Welt.
Am Archiv, derselben Stelle, wo einst meines Vaters Schicksal sich entschieden hatte, blieb ich stehen – nicht um zu überlegen – nein – Gehe hin, dachte ich, in ein Land, das ich dir zeigen will, und schöpfte neuen Muth.
Die erste Tagereise geschah unter herzlichen Thränen, die zweyte mit ängstlicher Beklemmung.
Die schöne Gegend um Münden erhob mein Gefühl, und so minderte sich meine Angst.
Sehr wehmüthig schied ich an der Gränze von meinem Vaterlande. Ich fühlte, daß es für immer war.
An dieser Gränze besah ich das Bild meines Vaters, das ich mit dem Rahmen mühsam auf der Brust trug. Von der Bewegung hatte sich die Zeichnung in der Gegend des Auges etwas verschoben. Dieß sah aus wie verweinte Augen. Ach – wie hat mich das erschüttert!
In Frankfurt fand ich kein Theater. Herr Marchand war damals in Hanau. Er verwies mich zu der Truppe des Herrn Restricht nach Wetzlar.
Hoffnungslos verließ ich Hanau, zog vor dem Theater den Theaterkalender heraus, und wählte Gotha: das heißt – der Name Eckhof und mein Glaube an ihn zog mich dorthin.
Mit weniger Geld als ich nennen mag, mit mehr Mühseligkeit als man glauben wird, trug die Hoffnung meine Füße über Berg und Thal.
Auf der Brücke unweit Sättelstädt vor Gotha überdachte ich meine Anrede an Eckhof. Des andern Tages stand ich vor ihm. Meine halbe Rede brachte ich vor; aber indem kamen alle Erinnerungen der Vorzeit über mich. Mellefont, Antiochus, Richard, Linzeus, Codrus, Tellheim, Orosmann – alle diese Gestalten stiegen vor mir auf, und hielten den Lorberkranz über Eckhofs Haupt. Ich mußte weinen – mein Herz betete den vollendeten Künstler an – aber ich konnte ihm nichts sagen.
Er reichte mir treuherzig die Hand – Durch alle Glieder fuhr mir die Weihe.
Seine Fürsorge entschied meine Anstellung. Ich verdanke es ihm ewig.
Den 15ten März 1777 habe ich auf dem herzoglichen Hoftheater zu Gotha zuerst die Bühne betreten.
Von dem unvergeßlichen Eckhof sah ich nur noch schöne Reste, dennoch einige Momente mit seiner ganzen Kraft ausgestattet, allmächtige Wahrheit in edlem Gewande, die tiefste Wirkung durch die einfachsten Hülfsmittel. Viele Stellen des Fürsten im Julius von Tarent, sein Sittmann im Ehescheuen, Billerbeck in Geschwind eh' es jemand erfährt, wurden mit voller Kraft von ihm noch gegeben. Ob überhaupt seine Kunst wirkte, oder mehr noch sein reges Gefühl, darüber will ich nicht entscheiden, denn er kann nicht mehr antworten. Allein das weiß ich, er konnte meine Thränen fließen machen wenn er wollte, und ich erinnere mich nicht, oder höchst selten, daß die Reflexion mir nachher Vorwürfe über meine Thränen gemacht hätte.
Böck hatte den Ton des feinen Weltmanns durchaus in seiner Gewalt, und oft rührte ein schöner schmelzender Ton und traf das Herz, wenn auch da, wo mehr der Ton der Ueberzeugung als der Rührung hätte herrschen sollen.
Zu gleicher Zeit entwickelte sich Beils Genie für das feine Komische. Wahrheit, Kraft, Leben und Feinheit seiner Gemählde war schon damals unverkennbar.
Mit vielen Hoffnungen, sehr treu gegen die Schwierigkeiten seines Faches kämpfend, fing zugleich mit mir Beck seine Laufbahn an.
Was mich betrifft, so würde ich mehr als gewiß unter den Schwierigkeiten erlegen seyn, in welche mich Lebhaftigkeit, Voreiligkeit, Unmuth und Unerfahrenheit verwickeln mußten, wenn nicht mit eigner Güte ein sehr edelmüthiger Mann den wankenden Kunstliebhaber und Jüngling kraftvoll ergriffen und auf die rechte Bahn geleitet hätte:

Gotter!

Feier seinem Gedächtniß! Dankbare Thränen und kindliches inniges Gefühl heiligen den Kranz, den ich um seine Urne winden möchte!
Ihm verdanke ich alles, was man als Künstler an mir billigt, und so vieles von dem, was als Mensch das Glück meines Lebens ausmacht. Mit Unverdrossenheit leitete er meine Schritte, mit unermüdeter Geduld lenkte er mich von Abwegen, und mit Freundlichkeit ohne gleichen empfing er meine Rückkehr.
Edler Mann! Ich weiß nicht, ob du im Leben genug erkannt warest – aber ich weiß es, daß nie Haß und übler Wille in deine Seele kam, wie manche Härte du auch erfahren mochtest. Deine Hülle ist hinab gesenkt, mit ihr aller Mißverstand.
Dein Vaterland ehrt deinen Genius. Er handelt noch in deinen Zöglingen, und immerdar wird er leben in den Schöpfungen deines Geistes.
Oft und lebendig gedenke ich deiner, und manchmal umwölkt sich mein Auge, wenn mit deinem letzten Händedruck der letzte Blick deines sanften scheidenden Auges mir erscheint.
Beil, Beck und ich, uns nahe an Jahren, Heiterkeit und Wärme für die Kunst – wir lebten stets zusammen. Wir waren einer dem andern strenge Richter, und spotteten oft über uns selbst, bey Linkheiten, mißlungenem oder schiefem Ausdruck, ohne alle Schonung, erzürnten uns – und fielen bey der ersten kräftigen Wahrheit des Ausdrucks, den einer am andern wahrnahm, mit Rührung einander in die Arme.
Der schönen, herrlichen Zeit!
Wir kannten die Welt wenig, ihre Verhältnisse und Schranken nagten und ängstigten uns nicht.
Rede und Frage, Streit und Resultat, Zweifel und Gewißheit über Kunst und Künstler – Genuß an diesem allen, Genuß der Dichtung, Leben und Weben in Kunst und Phantasie, in Natur, Freundschaft und Freude – das war unser liebliches Tagewerk. Manchmal standen wir Nachts auf, um über Kunstgegenstände zu reden. Wir stritten ohne streiten zu wollen. Die Nachbarn glaubten uns in unversöhnlichem Hader, und wir feierten mit lauter Stimme ein gefundenes Resultat. So wandelten wir denn zu Zeiten ohne Zweck, fast ohne Wissen, vor Tage noch in der Lebhaftigkeit der Unterredung vor das Thor hinaus. Wir kümmerten uns nicht um die Menschen, die uns begegneten, fragten nicht nach den Namen der Dörfer, die wir durchzogen, nicht nach dem Wetter, das uns sengte, durchnäßte und wieder trocknete, bis wir an einen Berg kamen, oder in einen Wald; dann hauseten wir in seinem Schatten, badeten in seinen Teichen, holten unser kärgliches Mittagsmahl aus der nächsten Hütte, oder gruben es aus frischem Boden, und lernten es in der Asche braten. – Die Nacht kam heran, der Mond leuchtete uns heim. Fröhlich und lebendig waren wir ausgezogen, fröhlich und lebendig kehrten wir heim.
Die Menschen begriffen uns nicht; aber wir waren sehr glücklich. Wir waren die glücklichsten Menschen im ganzen Herzogthum.
Selbst die kleinen und großen Verlegenheiten an barer Münze und Geldeswerth, welche, eben wie im akademischen Leben, jene Zeit so merklich auszeichnen, waren uns selten ein Gegenstand der Sorge, nie ein Gegenstand des Kummers, oft ein Fest der muthwilligsten Laune, des lauten Gelächters. Der entschiedene Mangel aller drey Kassen war ein Festtag. Dann wurden die Trümmer gesammelt, nicht reichere Gäste mit noch geringeren Trümmern geladen. Ein Junge trug den Korb mit der Hoffnung des Mittages voraus, die jubelnde Gesellschaft zog am frühen Morgen in das Siebeleber Holz, und lagerte sich in seinen Schatten.
Nie, nie werde ich der Feiertage in diesem schönen Walde vergessen. Außer uns pflegte ihn niemand zu besuchen. An einer Quelle, welche gleich rechts vorn an im Walde entspringt, wurde gewöhnlich unser Mittagsmahl genommen. Das schöne, wohlhabende, milde regierte Land liegt da in fruchtbarer Ebne hinab – der Seeberg rechts – so wie die Schlösser der Gleichen – das freundliche Gotha links – der blaue Brocken schließt die romantische Ferne.
Eines Tages wanderten wir über die andere Seite des Berges hinab, querfeldein, und blieben die Nacht in Wegmar. Wir dachten an keinen Schlaf, zogen im Mondschein umher, und verweilten am Kirchthurme eines nahe gelegnen Dorfes. Der erste unaufhaltsame Perpendikelschlag der Thurmuhr machte uns still und ernst. In einer langen Pause sprach keiner von uns. Endlich erwähnte einer des Augenblicks, wo Hamlet den Geist erwartet. Jeder wurde von der Idee ergriffen, jeder folgte seiner Phantasie, keiner sprach. Wir hörten unsern Athem. Schauer des Grabes war über jeden verbreitet.
Die Räder knarrten in dem alten Thurme, die Glocke schlug – wir verließen einer nach dem andern die Stäte.
Vor dem Dorfe sammelten wir uns, und sprachen über Leben, Lebenswerth, und wie man den Augen blick festhalten müsse – vieles, was Wahrheit und Herzlichkeit hatte.
Der andere Tag war schön, und wurde wieder im Siebeleber Holze verlebt.
Wir waren hier zu Hause, lasen, scherzten, ruheten, lernten Rollen und spielten sie dort, jeder von dem andern abgesondert.
Diesen Nachmittag wurde von Siebeleben eine Bank herauf getragen und an das Ende des Waldes hingesetzt. Die Träger verloren sich ohne uns zu bemerken.
Vergeblich verloren wir uns in Vermuthungen, als endlich an der Waldspitze einer der benachbarten Kirchenräthe sichtbar ward.
Er stand stumm, starr und unbeweglich. Die zerstreuten Kleider, die Hüte auf Stangen – die Menschen, welche tragische Verwünschungen im Nachtgewande mit Begeisterung hersagten – der sonderbare Hausrath um das brennende Feuer – alles schien ihm sehr zuzusetzen. Wir reiheten uns und begriffen ihn nicht. Beide Theile sahen sich unbeweglich an. Da trat in züchtigem Schritt seine weibliche Familie den Berg heran – Um die Zeit wandte er sich – winkte aus der Ferne ihnen zu abwärts zu gehen, drehte sich mühsam um, ging feierlich ihnen nach und mit ihnen hinab, wo er hergekommen war.
Eine Weile nachher holten die Bauern die Bank weg, und sahen mißtrauisch nach uns herüber.
Es war nun klar, daß die geistliche Familie auf dieser Breterbank die schöne Natur hatte genießen wollen, und daß unsere bunte Gruppe dem ehrwürdigen Manne ein arger Spuk zu seyn gedünkt hatte. Wir lachten viel darüber und trieben unser Wesen weiter.
Mühsam kletterten wir auf Bäume, um trocknes Holz für unser Nachtfeuer am kühlen Abende zu holen. Schleppten es mit Lärm und Gesang herbey, und sahen die helle Flamme in die Höhe steigen.
Das ahndeten wir nicht, daß wir an diesem Tage zum letzten Male hier seyn sollten.
Der Tag endete besonders feierlich. Von frohen Spielen und einem Gange auf den Seeberg ermüdet, lagerten wir uns um das Feuer. Da saßen wir, versunken in die Natur um uns her. Der rief eine Erinnerung seiner Vorzeit herauf – jener eine Geschichte von Ernst dem Frommen – einer eine Erzählung vom Grimmenstein – Hier lasen wir Wielands Mönch und Nonne auf dem Mittelstein – sanken in Stille und Ernst – sprachen von unsrer Zukunft – von aller Zukunft – von Unsterblichkeit der Seele – und reichten uns dann mit süßen Thränen die Hand zum Bunde der Freundschaft über das Gras hinaus.
Wir gingen den Abend in ernsten Gesprächen zur Stadt zurück. Es war, uns unbewußt, eine Abschiedsfeier von jenem schönen Wäldchen, unter welchem nachher keiner von uns wieder gewandelt hat.
Einer sonderbaren Begebenheit will ich erwähnen, welche uns damals begegnet ist.
Jene nächtliche Scene am Kirchhofthurme unweit Wegmar hatte einen tiefen Eindruck in uns hinterlassen. Wir sannen darauf, ob nicht auf dem Theater, wenn Hamlet auf dem Kirchhofe den Geist erwartet, der Perpendikelschlag angebracht werden könnte, der uns so sehr erschüttert hatte. Wir theilten dem Theatermeister unsere Ideen mit. Hatte er uns, so ein vernünftiger Mann er sonst auch war, nicht gehörig begriffen, oder mischte sich am Ende ein muthwilliger Genius in diese Sache, dessen entsinne ich mich nicht mehr ganz genau.
Hamlet wurde gegeben. Er starrt dem kommenden Geist entgegen. Eckhof, als Geist, trat auf – Hamlet schauderte vor den Geheimnissen der Ewigkeit. Der Geist hebt an zu reden.
Indem hört man ein sehr widriges, einförmiges Geklapper, nahe, laut – und das ganze Publikum lacht.
Hamlet sieht einwärts und wüthet – der Geist sieht auf der andern Seite hineinwärts und flucht.
Von diesem allen nicht unterrichtet, schlägt der Theatermeister in gleichförmigem Tempo aus freyer Hand mit einem eisernen Stabe unermüdet an zwey Bretchen, welches denn der Perpendikel in der Dänischen Hofkirchenuhr seyn und vorstellen sollte.
Das lachende Getöse im Publikum nimmt zu – das Fluchen Hamlets und des Geistes nimmt vollends überhand.
Die Acteurs, die Arbeitsleute fahren den Theatermeister an, was um Gottes willen er doch nur für ein verruchtes Geklapper treibe?
Er antwortet ruhig lächelnd – »Etwas ganz neues! Hier geht der Perpendikel.«
Da man ihn indeß von der wüthenden Stimmung der ersten tragischen Personen unterrichtet, von dem gellenden Gelächter der Versammlung, so stand seine Zukunft am Ende des Akts hart vor ihm. Er fing an sich zu vertheidigen. Da er aber in der Lebhaftigkeit des Gesprächs unbewußt mit dem eisernen Stabe von einem Brete zum andern schneller schlug und immer schneller, so ging das Skandal aufs Aeußerste.
Da nun auch die lachten, welche gekommen waren, ihm Vorwürfe zu machen, so citierte er endlich uns als seine Autoritäten, gerieth aber dabey so in Wuth, daß er immer heftiger trommelte. Das Gelächter nahm zu, der Geist verschwand – und der unten noch den alten Schatzgräber spielen sollte, fluchte so irdisch, daß wir, der Perpendikel und sein Lenker die Flucht nahmen.
Nach dem Akte vereinigten sich Hamlet und der Geist in so fern, daß sie über die Entflohenen das Anathema aussprachen. Bald veruneinigten sich aber auch diese beiden, indem Hamlet darüber, daß der Geist seinerseits gehustet hatte, welches dem Perpendikelschlage des Theatermeisters gleich zu achten sey, in Zorn ausbrach. Eckhof, als Geist, erwiederte: Der Geist, welcher reden kann, kann auch husten.
Das Gothaische Theater, welches nach der damaligen Einrichtung ohnehin aus einem schwachen Personal bestand, verlor nach und nach manchen guten oder angenehmen Künstler. Da nun auch im Junius 1778 Eckhof gestorben war, so verlor diese Bühne neben dem innern Werth auch an äußerm Glanz und Rufe.
Die damalige Regie derselben war nicht bemüht genug, mit dem Geiste der Zeit vorwärts zu gehen. Daher entstand eine gewisse Einförmigkeit, welche das Vergnügen stört.
Dieß ist mir die wahrscheinlichste Ursache, welche Ostern 1779 den regierenden Herzog bewogen haben mag, sein Theater unvermuthet und auf Einmal zu entlassen. Da es ihm nicht hoch zu stehen kam, ihm keine eigentlich verdrießliche Augenblicke, und dem Publikum viel Vergnügen gemacht hat, so weiß ich keine andere Ursache.
Es ist mir begreiflich, daß dieser Fürst, als ein feiner Kenner, kein Vergnügen mehr an einem Etablissement hatte, welches mehr und mehr herab gesunken war, und daß es seine Geduld erschöpft hat, eine auf alle Fälle kostbare und langsame Verbesserung des selben abzuwarten.
Michaelis 1779 wurde das Gothaische Hoftheater aufgehoben. Das Publikum verlor dieses Vergnügen sehr ungern. Mit dankbaren Erinnerungen schieden die Schauspieler von einem freundlichen Publikum. Es sey mir verstattet, hier, wo ich von jenem Theater scheide, ehe ich zu der Manheimer Bühne und damit zu einer andern Epoke übergehe, ein Wort über die älteren und neueren Deutschen Schauspieler zu sagen.
Unstreitig waren die Schauspieler der älteren Zeit in Ausführung ihrer Rollen sorgfältiger, präciser, und mehrentheils unterhaltender, als die neueren es sind. Die Stücke, worin sie aufzutreten genöthigt waren, hatten weniger Handlung, mehr Verflößung der Charaktere in Dialogen, als in grellen Zügen. Schon darum waren die Schauspieler verbunden, wenn sie anders interessieren wollten, ihre langen Reden nicht bloß zu erzählen, sondern durch das Leben, das sie hinein zu legen sich bemühten, ein wirkliches Menschengemählde zu schaffen.
Die ehemaligen Parterre wollten doch auch von der Nothwendigkeit einer Handlung überzeugt seyn. Stufenweise mußte der Dichter und Schauspieler handeln, und so den Antheil des Auditoriums gewinnen.
Dieß setzt, wenigstens in den ersten zwey Akten, Ruhe voraus; aber Ruhe ohne Kälte, Ruhe, von jenen Kleinigkeiten angenehm belebt, welche das Geschäftsleben oder den Weltton charakterisieren. Diese Aufgabe ist nicht leicht.
Eckhof fürchtete die Folgen der Shakspearischen Stücke auf Deutschen Bühnen. Er sagte mir einst: »Das ist nicht, weil ich nichts dafür empfände, oder nicht Lust hätte, die kräftigen Menschen darzustellen, die darin aufgestellt sind; sondern weil diese Stücke unser Publikum an die starke Kost verwöhnen, und unsere Schauspieler gänzlich verderben würden. Jeder, der die herrlichen Kraftsprüche sagt, hat dabey auch gerade nichts zu thun, als daß er sie sage. Das Entzücken, das Shakspeare erregt, erleichtert dem Schauspieler alles. Er wird sich alles erlauben, und ganz vernachlässigen.« So sagte er, und leider hat er nicht sehr Unrecht gehabt. Wie oft ist Geschrey für starken Ausdruck, Grobheit für Kraft, Roheit für Natur, und Uebertretung all und jeden Wohlstandes für Eigenheit gebraucht worden!
Unsere heutigen Theater können die Stücke von Marivaux und Destouches nicht so geben, wie die Schauspieler vor fünf  und zwanzig Jahren auf dem Ackermannschen und Seylerschen Theater sie geben konnten.
Wie angenehm war nicht der respektuöse Anstand, die feine Galanterie, womit man damals in der Darstellung gegen die Frauenzimmer sich betrug! Mit diesen gehen oft die Dichter, und noch öfter die Schauspieler, jetzt unsanft um und hart. Kaum daß sie eines Seitenblicks sie würdigen, und selten gehen sie ihnen aus dem Wege, wenn diese ihren Platz ändern.
Man zieht sich an, stellt sich hin, sagt seine Lection her, läßt, ohne sich umzusehen, Einheimische und Fremde ins Zimmer kommen, wartet seine Kraftscenen ab, nimmt dann an nichts mehr Theil, zerrt, wenn es hoch kommt, das gnädige Fräulein wie ein Stubenmädchen, Brust an Brust, herum, begegnet dem herein kommenden Vater wie dem Johann – und wenn das alles nur mit Force geschieht – so steht alles wohl und gut.
Ich hoffe nicht, daß man mir die Albernheit zutrauen werde, als habe ich sagen wollen, es hätten keine Stücke von Shakspeare gegeben werden sollen. Aber daß sie eine lange Zeit ausschließlich gegeben worden sind, daß man nichts als Stücke in diesem Zuschnitt, und endlich Ritterstücke gegeben hat, dadurch sind Publikum und Schauspieler entwöhnt, jenen Menschen- und Seelenzustand darstellen zu sehen, der doch wahrlich Herz und Verstand sehr interessiert, wenn er auch nicht stets in Sturm und Drang an den äußersten Enden schwebt. Hat bey der verstärkten Manier irgend eine Vorstellungsart gewonnen, so ist es, sollt' ich meinen, das Fach der hochkomischen Charakterrollen. Die Darstellungen in denselben werden seitdem von manchen nicht, wie sonst, in einer Manier, sondern vielmehr mit ganz eigner Individualität und Wahrheit gegeben.
So ist auch ein gewisser Zunftgeist verscheucht, der sonst überall, auch selbst im Privatleben der Schauspieler, besonders von Aelteren gegen Jüngere, zu walten pflegte. Bey unserm Anfange spukte dieß Phantom, eine Mischung von Handwerkshochmuth und hängen gebliebenen Staatsactionen, noch gewaltig. Manchen jungen Künstler hatte dieses Unwesen scheu gemacht, hatte ihm bittere Thränen gekostet.
Wir ehrten das Talent mit Innigkeit; aber jene Unform, jene todte tragische Larve, wenn eine Blähung sie ins Privatleben übertrug, wollten wir an dem bedeutenden Manne nicht bemerken, wir verspotteten und verlachten sie laut, wenn ein Wicht darin zu erscheinen wagte. Die Vernunft gewann, der Ton änderte sich, und viele konnten es nicht begreifen, weßhalb eine Sache, die sie früher hätten verlachen sollen, ihnen jemals Kummer gemacht hatte.
Durch eine fehlerhafte Kopie von Eckhofs Gutem und eine sklavische Kopie seiner Fehler, vielmehr seiner Gebrechen, welche man neben dem Guten zu sehen so lange gewohnt war, hatte ich nach seinem Tode dem Gedächtniß an ihn Nahrung gegeben. Das Fach der hochkomischen Alten, welches ich übernehmen mußte, erleichterte mir dieß.
So wie die Rede von Entlassung des Theaters war, legte ich plötzlich diese fehlerhafte Weise ab, ging, so gut ich es vermochte, nun gleich meinen eigenen Weg, um ihn anderwärts fortzusetzen.
Zwey Wochen nach aufgehobenem Theater zu Gotha kamen Briefe des Freyherrn von Dalberg aus Manheim an die Gemahlin des Gothaischen Ministers von Lichtenstein, worin jener, Namens des Churfürsten von der Pfalz, fast das gesammte Theater von Gotha dorthin zu engagieren den Antrag machte, worin auch ich begriffen war.
Ich hatte dazu keinen Sinn. Hamburg – Schröder – das Theater, dessen herrliche Darstellungen so oft mich entzückt hatten – dahin ging mein Wunsch. Ich schlug das Anerbieten von Manheim geradezu ab.'
Es kam ein Bevollmächtigter des Herrn von Dalberg nach Gotha, um die Engagements in der Form abzuschließen. Diese wurden auch mit Beil und Beck vollzogen. Ich allein schlug die wiederholten Anträge aus. Ich hielt es für ein Vergehen, meine Dienste nicht dem Hamburger Theater zu widmen, welches ich als meine erste Schule betrachten konnte.
Ein zufälliger Umstand entschied in dieser Sache. In eben derselben Zeit fuhren wir drey eines Tages nach Eisenach. Wir tranken Kaffee auf der Wartburg. Es war ein heitrer Frühlingstag. Wir besahen diese alte Burg von allen Seiten, wandelten in den alten Mauern umher, und überließen uns dem Eindruck, den die fremden Gegenstände auf uns machen mußten. Wir ruheten zuletzt in den Fenstern eines Erkers. Gerade dazumal leuchtete die Sonne so milde hin über den Wald unter uns und die lange Heerstraße nach Frankfurt zu. – Es war ein abenteuerliches Gefühl, womit wir dieß alles genossen. Ich war sehr still; aber desto reger und lauter sprachen die andern von ihrer bevorstehenden Reise nach Manheim, daß sie nun bald alle diese Straße, die da unten sich vor uns hinschlängelte, ziehen, und den Rhein begrüßen würden.
So sollte denn nun ich allein über Heilgenstadt, Dingelstadt und die Lüneburger Heide an die Elbe hinziehn, wo kein Wein wächst?
Da sah ich den Mönch und die Nonne – die Felsen, über welche Wieland gedichtet hat – dachte an den Bund der Freundschaft im Siebeleber Holze – sah die Straße nach Frankfurt an – wir umarmten uns – ausgestrichen wurde die Reise nach Hamburg, zugesagt für Manheim, andern Tages in Form unterschrieben, und von nun an lebten wir nur für diese Reise. Wir fluteten auf dem breiten Rheine, ruheten im Schatten der Weinberge, bestiegen die Ritterburgen – ach – wir lebten im Vorgefühl aller dieser Dinge das schönste halbe Jahr.
Gegen Ende desselben legte ich einen Besuch, den ersten seit meiner etwas eigenmächtig gewählten Laufbahn, bey meinem ehrwürdigen Vater ab.
Wie steht er noch heute vor mir, dieser ängstliche, feierliche, schöne Tag!
Vatersegen weihete mich ein, nach Manheim zu wandeln.
Ich rücke den Vorhang sanft wieder vor dieses Gemählde hin. Wenn ich nicht mehr seyn werde, wird man von diesem Manne, und dann auch von diesem Tage, lesen, was gute Menschen nahe angeht.
Je näher es auf Michaelis zuging, je mehr ward uns dennoch bange vor unsrer Zukunft in Manheim.
Wir freueten uns auf eine Stadt, welche dafür bekannt war, in den bildenden Künsten guten, sehr guten Geschmack zu besitzen. Da aber der Hof so lange ein gutes Französisches Theater neben der trefflichen Italiänischen großen Oper gehalten hatte, viele Franzosen und Italiäner dort in Diensten oder ansässig waren, Manheim selbst so nahe an Frankreich liegt; – so fürchteten wir uns, man möchte dort mehr Grazie als Wahrheit von uns verlangen. Zwar waren wir uns bewußt, der Wahrheit, welche mir fühlten, nicht den härtesten Ausdruck zu geben; allein wir fühlten doch auch den Mangel an körperlicher Beredsamkeit, wenn ein Publikum ausschließlich von diesem Standpunkte ausgehen wollte uns zu beurtheilen.
Ich erinnere mich, daß Beil und ich oft scherzten, und mehrere Scenen unserer Rollen im outrierten Französischen Style auf dem Zimmer uns vorspielten. Die Zankscene zwischen Gröbing und Billerbeck aus Geschwind eh' es jemand erfährt, probierten wir einst in dieser Manier bey einem Spaziergange um Mitternacht auf dem Markte zu Gotha. Wir fanden uns links, lachten uns aus, und so wurde denn endlich fest beschlossen, daß wir in unserm Wesen bleiben und so zu Manheim auftreten wollten.[...]
Unser Einzug zu Manheim geschah an einem Sonntag früh. Es regnete und war ein kalter, düstrer Tag. Die meisten Menschen waren in den Kirchen, daher schien die Stadt mir leer. Ich warf mich in das erste beste Logis.
Da war ich nun, ohne einen Führer, ohne einen Bekannten – Es war trübe in meiner Seele, und ich fand nirgends die Stelle, wo ich hätte eine Hütte bauen mögen.
Doch das Getümmel, das des andern Tages, wo eben Messe war, in der Stadt entstand, ein großer Vauxhall, wo ich die Menschen sehr leicht und fröhlich fand, die Musik, der Gesang, die überall in Stadt und Land mir entgegen tönten, dieß alles machte bald einen fröhlichern Eindruck auf mich.
Der Churfürst sollte nun das erste Schauspiel von diesem neuen Theater sehen. Der Intendant, Herr Baron von Dalberg, versammelte also diejenigen von uns, mit denen etwas zu überlegen war, bey sich. Der Baron Otto von Gemmingen, der Hof-Kammerrath Herr Schwan, der um die Deutsche Litteratur in der Pfalz sich sehr verdient gemacht hat, und der Direktor Herr Seyler waren dabey gegenwärtig. Jeder durfte dabey von seinen Wünschen reden, wurde nicht nur gehört, sondern man suchte ihm zu begegnen.
Gern wollte man die zuerst erscheinen lassen, deren noch nicht ausgebildete Talente am meisten die Wärme des ersten guten Willens bedurften. Deßwegen wurde beschlossen, daß das churfürstliche Nationaltheater zu Manheim mit dem Lustspiele: Geschwind eh' es jemand erfährt, von Bock nach Goldoni, eröffnet werden sollte. Wir sahen vorher alle edlen und schönen Institute, die der Churfürst Karl Theodor mit freygebiger Hand den Wissenschaften gewidmet hat. [...]
Dieses Schauspiel errichtete und hielt der Churfürst mit beträchtlichen Kosten deßhalb in Manheim, weil er dieser Stadt ein Vergnügen nicht rauben wollte, welches er dadurch, daß er sein Hoftheater und die Kapelle nach München mitzunehmen genöthigt war, hätte stören müssen. Auch hielt er es in Ansehung der Fremden mit Recht für einen Nahrungszweig der Stadt, den er erhalten wollte.
Die erste Vorstellung wurde angesetzt. Wir bereiteten uns fast gar nicht darauf vor, denn wir sahen es für entschieden an, daß wir nur wenig gefallen würden. Harmlos, mit guter Laune und – dadurch vielleicht mit einer gewissen Eigenheit, traten wir auf.
Der Churfürst und das Publikum fanden Vergnügen an der ungeschminkten Wahrheit unserer Darstellung; sie bewiesen es uns mit steigender Lebhaftigkeit und Wärme. Diese Aufnahme erhöhte unsere Kräfte. Die Fortdauer derselben entwickelte in kurzem, fast auf der Stelle, manches Vermögen, dessen wir uns vorher nicht bewußt waren. Das Feuer für die Kunst, die Liebe für unsere jetzigen Verhältnisse, wurde mit jedem Tage mehr und mehr beseelt.
Die Stelle eines Intendanten der churfürstlichen Schauspiele war bis daher mit einer ansehnlichen Besoldung begleitet gewesen. Der Freyherr von Dalberg schlug diese aus, bezahlte sogar seine eigene Loge im Schauspielhause, und übernahm aus reinem Kunsteifer die mühsame Führung der Intendanz. Er ließ alles, was Kunst und Künstler betraf, sich mit einem Eifer, einer Sorgfalt für die kleinsten Details angelegen seyn, welche unmittelbar zum Zweck der möglichsten Veredlung des Ganzen führen mußten.
Herr Seyler war als Direktor angestellt worden. Seine Erfahrung, seine Kenntnisse, wodurch so mancher bedeutende Künstler berichtigt und gebildet worden ist, die glühende Liebe für diese Kunst, welcher er so manche und kostbare Opfer gebracht hatte, machten diese Wahl zu einem schönen Geschenk für die Bühne. Seiner Zurechtweisung, seiner feinen, gründlichen, nicht schonenden, aber nie bittern Kritik, lernten wir vieles verdanken.
Unverwandt beobachtend war sein Platz zwischen dem Proscenium und der ersten Coulisse. Es war Lob, Anfeuerung, Belohnung, wenn man ihn da ausdauern sah, ein warnender Tadel, wenn er seine Lorgnette einsteckte, eine Bestrafung, wenn er seinen Platz verließ.
In seinem Umgange verlebten wir frohe Stunden, und er gab sie mit der heitern Laune eines Jünglings.
Die Kunstausstellungen der Madam Seyler waren in einem hohen edlen Style. Sie gebot über Verstand und Empfindung.
Madam Brandes war damals noch im Besitz der Gewalt, die Gefühle mit sich fortzureißen. Ihre Ariadne war das würdige Gegenstück zur Medea der Madam Seyler.
Mißverstand zwischen beiden Künstlerinnen, deren jede doch die andere ganz anerkannte, veranlaßte Parteyen im Publikum. Hieraus entstand niemals ein unangenehmer Augenblick im Schauspielhause; das Publikum war gerecht und erkenntlich gegen beide Künstlerinnen: aber das häusliche Vergnügen beider Familien wurde desto tiefer zerrüttet.
Da Madam Seyler manche Rollen übernehmen mußte, welche nicht vortheilhaft für sie waren, ein Fall, worin Madam Brandes nicht seyn konnte, da sie das erste Liebhaberinnen-Fach ausschließlich besetzte; da manche ihrer Tochter, der reitzenden Minna Brandes, Verehrung bezeigen zu können glaubten, wenn sie gegen die bedeutende Rivalin sich erklärten: so ward die Partey, ohne Brandes eigentliche Schuld, für diese überwiegend, zu Seylers Nachtheil.
Dieses Verhältniß verursachte der Intendanz große Unannehmlichkeiten, und endete zum Theil dadurch, daß die Familie Brandes einem vortheilhaften Rufe folgte, und die Manheimer Bühne verließ. Indeß schrieb der größere Theil des Publikums, welches nicht anders unterrichtet war, diesen Abgang auf die Rechnung von Seylers Unverträglichkeit. Die ungünstige Stimmung gegen diese nahm also um so mehr zu, je weniger Seylers Umgang und Verhältnisse mit dem Publikum hatten, wodurch dieses hätte berichtigt werden können, wie es sonst wohl in dergleichen Fällen geschehen mag.
Der Antheil des Publikums neigte sich nun ganz auf die Seite einer gewissen Toskani.
Als eine Schülerin der Madam Seyler, vergaß sie alles, was sie diesem Hause schuldig war, so bald und so sehr, daß sie auf einer Probe, bey einer kaltblütigen, vorsetzlichen Uebertretung der Theatergesetze, auf die ruhigste Zurechtweisung des Direktors Seyler, mit steigender Unart und so hämischer Kälte und offenbarem Hohn antwortete, daß der gekränkte, vom Gefühl des schändlichen Undanks überwältigte, lebhafte Mann, da sie eben eine boshafte Tirade ihm dicht unter die Augen sagte – sich vergaß und mit der Hand antwortete. Dem Freyherrn von Dalberg, welcher Seylern ehrte und liebte, war dieser Vorgang äußerst schmerzlich.
Auf höhern Befehl wurde eine Comitee von churfürstlichen Räthen niedergesetzt. Es wurden Zeugen verhört, Protokoll formiert und abgeurtheilt. Die Familie Seyler wurde nach den Theatergesetzen »wegen unsittlicher Aufführung« entlassen. Die Toskani zahlte »wegen Widersetzlichkeit« eine Wochengage Strafe. Der Ausspruch wurde von dem Staatsminister von Oberndorf bestätigt. Der Buchstabe des Gesetzes hatte entschieden.
Ob aber Seyler, der vier Jahre vorher mit seinem Theater von Dresden nach Manheim berufen wurde, [...]  deßhalb nicht eine andere Rücksicht verdient hätte, wenn besonders die erwiesene, von Zeugen bestätigte, offenbare, vorsetzliche, injurierende Reitzung und Widersetzlichkeit der Gegnerin mit dem Verlust einer Wochengage als ausgeglichen erachtet werden konnte – das überlasse ich der Ueberzeugung jener Comitee, welche freylich den Buchstaben des Gesetzes in Seylers Vergehen furchtbar gerächt hat.
Das Publikum, so wenig es für Seylers gestimmt war, urtheilte anders. Es belegte die Toskani mit der Gleichgültigkeit, welche sie verdiente. Von niemand beachtet, wurde sie ein Jahr darauf durch Entlassung dem Ueberdruß der Zuschauer entrissen.
Bey unserer Ankunft in Manheim waren schon viele Familien zu dem Hoflager des Churfürsten nach München abgegangen; dennoch waren diese kaum die Hälfte von denen, welche überhaupt dazu bestimmt waren. Manheim war Anfangs noch sehr lebhaft; und da die Fremden noch in der vieljährigen Gewohnheit waren, diese glänzende Residenz zu besuchen, die benachbarten Fürsten theils noch Wohnungen dort hatten, oder doch oft hinkamen, so gab es Tage, besonders bey Anwesenheit des Churfürsten, wo die Stadt ein sehr fröhliches und sogar noch ein prächtiges Ansehen hatte.
Allein da nach und nach immer mehrere Familien nach München ziehen mußten, so verlor sich alles dieses merklich. Gegen Anfang des Jahres 1781 war es auffallend leer geworden. Man rechnete auf vier tausend Menschen, welche nach München gezogen waren. Die Hoffnung von beständiger Rückkehr des Hofes, womit die Pfälzer, welche den Churfürsten nicht vergessen konnten, sich bis dahin immer noch geschmeichelt hatten, war nun gänzlich verschwunden.
Eine sichtbare Freudenlosigkeit war über die Stadt verbreitet; viele Gewerbe des Luxus standen still, mehrere gingen ein; von den Fabriken zu Frankenthal verlosch eine nach der andern; mehrere zur Ruhe gesetzte Hofdiener, welche dem Hofe nicht nach München folgen konnten oder mochten, schränkten sich sehr ein; Einschränkung war die allgemeine Losung.
Da nun auch die churfürstliche Hofkammer mehrere Einschränkungen verordnete, und deren Mitglieder in den Gesprächen des Privatlebens noch engere Einschränkungen vermuthen ließen: so sprachen einige diese angstvolle Losung aus wahrem Bedürfnisse, andere aus Nachahmung, viele aus einer geglaubten Politik, alle, weil es nun einmal überall Sitte geworden war, dieß Wort zu gebrauchen. Es verbreitete sich ein Geist des Kleinmuths, der Kleinlichkeit, welcher gegen alle Lebensfreude strebte.
Die allgemeine Stimmung war nirgend fühlbarer als im Theater, und hier war sie sehr drückend. Diese Periode, so sehr im Widerspruch mit unserm fröhlichen Anfange, war beengend und ängstlich. Das Theater ging zwar seinen Weg damals fort, aber ohne Ermunterung, ohne Kraft, ohne Freude, in der gewohnheitsmäßigen, nicht geachteten Anstrengung alltäglicher Tagewerker.
Eine glänzende Erscheinung hatte vorher im Jahre 1780 alles in Leben und Bewegung gesetzt:

Schröder!

Er kam auf seiner Reise von Wien über München nach Manheim. Die Erwartung, die Freude in der Stadt war groß, größer die unsrige; allein nichts glich der Sehnsucht, womit ich ihn erwartete.
Ich war eben krank, und durfte das Zimmer nicht verlassen. Ich beneidete jeden, der ihn zuerst sehen konnte. Er hatte die Güte, mich zu besuchen. Ich zitterte vor Freude, ich konnte kaum reden. Niemals hat die Weihe des Papstes einen Gläubigen in eine höhere Schwärmerey versetzen können, als die war, wozu mich seine mir dargereichte Hand erhob. Er war es, Er selbst! Er, den ich so oft bewundert hatte; der meine Gefühle mit sich fortgestürmt hatte, wohin er wollte; in dessen Tempel ich das glühende Gefühl für die Kunst empfangen, genährt hatte; dem ich gefolgt, in den Weg gegangen war, wie ein Liebhaber seiner Geliebten! Ich konnte mir sagen – Schröder weiß von mir; er kam zu mir, reichte mir die Hand! Ich war außer mir. Ich konnte nicht schlafen. Ich achtete nicht meiner Gesundheit, noch meines Arztes. Ich ging zu ihm, umlagerte ihn, hing an seinen Blicken.
Er trat auf in der ganzen Kraft, Eigenheit und Vollendung seines Genius. Dieß hatte noch niemand gesehen, empfunden, und so hatte auch ich ihn nicht gesehen noch empfunden. War es ein Wunder bey diesem Gefühl von ihm, daß ich, wenn ich neben ihm auftreten mußte, nur Worte hersagen, Hände bewegen, kommen und gehen konnte? Er wandte sich daher freundlicher zu Beils fröhlicherm Genius, der aus den Gründen, die ihn nicht zurückhalten konnten, weniger von Zartheit des Gefühls bestürmt, und eben deßhalb unbefangener, seinen Werth entwickeln konnte, als es mir möglich war.
Schröders unterscheidender Gunst folgte die Stimmenmehrheit. Das schmerzte mich, ohne deßhalb mein Gefühl für Schröder zu entkräften. Außer dem Kummer, dem Manne, dem ich unter allen am liebsten etwas hätte seyn mögen, unbedeutend geschienen zu haben, minderte dieser Vorgang, durch die Unzufriedenheit über mich selbst, einige Zeit in mir das Selbstgefühl, ohne welches man nichts erreicht.
Hierzu kam nun noch, daß das Publikum nach Schröders  Abreise, da es das Vollkommene gesehen hatte, um es desto herber zu vermissen, uns alle eine Weile seine Kälte fühlen ließ. Dieß, die nachherige, aus politischen Ursachen entstandene Antheillosigkeit der Stadt, wie ich sie oben beschrieben habe, die entschiedene Abneigung der verstorbenen Churfürstin, welche zu Manheim Hof hielt, gegen das Deutsche Schauspiel, eine Abneigung, welche aus Nachgiebigkeit oder aus Ueberzeugung sich mehreren mittheilte – wahrlich – ich erinnere mich nicht, eine Zeit meines Lebens abgespannter und trüber verlebt zu haben, als diese. Ich beschloß es fest, Manheim zu verlassen. Dazu wollte ich mich indeß doch vorbereiten. Ich war also viel allein. Ich las viel, beobachtete genau die Fehler und Vorzüge der Uebrigen, ich ging sehr viel allein umher, und genoß die schöne Natur dieses herrlichen Landes.
Um diese Zeit erschien in den Baierischen Beyträgen Engelhofs Leben von Westenrieder. Ich las einen Theil davon. Die Sprache, die Charaktere, die Gefühle, ergriffen mich auf das lebhafteste. Auf einmal wurde ich aus der dumpfen Betäubung gerissen, die mich so kläglich übermannt hatte. Ich berief Beil und Beck. Wir schlossen uns ein; wir lasen zusammen Engelhofs Leben; wir weinten, freuten uns zusammen; alle drey wurden wir von dieser Lektüre in andere und bessere Empfindungen erhoben; wir sprachen von diesem schönen Genuß bis weit über Mitternacht hinaus. Die Kunst belebte uns wieder neu. Wir thaten uns das Gelübde, alle alte Rollen neu zu studieren, mit besonderer Energie darzustellen. Wir gaben uns das Wort, daß die augenblickliche Kälte des Publikums unsern Eifer nicht hemmen, einzelne schiefe Meinungen uns nicht niederschlagen sollten; daß, ohne uns um Einzelne zu bekümmern, welche in Kritiken eine Vollkommenheit begehrten, die sie selbst wohl noch nicht gesehen hatten, und die nach unserm Ideale nicht Vollkommenheit war, das ganze Publikum ein respektabler Richter sey, dem wir das Aufgebot aller Kräfte schuldig wären.
Wir hielten uns Wort, beobachteten uns gewissenhaft, tadelten, ehrten uns wechselsweise, und leisteten achtungswerthe Kunstübungen. Das Ganze griff mit ein, das Theater that einen großen Schritt vorwärts, das Publikum wurde erwärmt, und die bessere Periode des Manheimer Theaters begann. Ich fand einen Beruf zur Thätigkeit, eine Freude darin, für welche das Lernen und Studieren meiner Rollen mir allmählich ein zu geringer Wirkungskreis ward. Ich schrieb einige Aufsätze über Schauspielkunst, welche in die Rheinischen Beyträge aufgenommen worden sind. Dieß Unternehmen war über meine Kräfte, und ließ um so mehr eine Leere in meinen Empfindungen. Ich fühlte so viel mehr als ich verstand, wußte jenes nicht zu ordnen, und litt schmerzlich an einem Drange mich mitzutheilen, ohne mir erklären zu können, was das sey.
Im Jahre 1781 wurde die Oper Alceste von Wieland und Schweizer gegeben. Die Ouvertüre dieser Oper erregte alle jene herzlichen Gefühle und jede Erinnerung lebhaft und stürmisch in mir. Ich konnte nicht ruhig unter den Zuschauern auf meinem Platze bleiben. Ich verließ die Vorstellung, und ging mit schnellen Schritten an dem schönen hellen Winterabend auf einem großen freyen Platze oft auf und ab. Meine Empfindung ward immer feuriger. Die angenehme Unruhe, welche sich meiner bemeistert hatte, beengte meine Brust; und doch hätte ich um alles nicht gewünscht, daß es anders gewesen wäre. Ich schrieb Briefe an geliebte Menschen in allen Gefühlen dieses Augenblicks. Das genügte mir nicht. Dadurch konnte ich mich nicht der leidenschaftlichen Gefühle entladen, die mich so unerklärbar ergriffen hatten. Ich entwarf den Plan zu einem Schauspiele. Ich schrieb Albert von Thurneisen. Die erste Vorstellung davon wurde mit Nachsicht, mit Freundschaft, mit Wärme aufgenommen. Die schöne Wirkung, viele Menschen für Seelenleiden und Menschenschicksale erwärmt, laut und herzlich erklärt zu sehen, riß mich hin, machte mich unaussprechlich glücklich. So entstand der Vorsatz, mehrere bürgerliche Verhältnisse nach und nach dramatisch zu behandeln.
Um diese Zeit half Schröder dem Mangel an Schauspielen durch eigne Arbeiten und Bearbeitungen von entschiedenem Werthe ab.
Der Sturm von Boxberg des Hofgerichtsraths Meyer hatte Nationalinteresse, indem er an die Thaten des Churfürsten Friedrichs des Siegreichen erinnerte.
Fust von Stromberg von eben diesem Verfasser, mit den Rechten, Sitten und Gebräuchen der Vorzeit, war eine eigne Schöpfung. Diese Vorstellung wurde so viel als möglich mit aller der Eigenheit gegeben, darin sie geschrieben ist.
Hierauf erschien Schillers Genius. Die Räuber wurden im Jahre 1782 zum ersten Male gegeben.
Der Freyherr von Dalberg that alles Mögliche dieses Talent zu ehren. Die Vorstellung wurde an Dekorationen, Kostüme, Fleiß und Genie auf eine bewundernswürdige Art gegeben. Wenn Böck auch nicht ganz das Ideal des Karl Moor erreicht hat, so waren doch viele Scenen, besonders die mit Amalien im vierten Akt, und ganz vorzüglich die Scene am Thurm, sein Triumph. Das Publikum, Acteur und Statisten wurden mit ihm fortgerissen in dem allgewaltigen Feuerstrome. Stärker konnte der Dichter nicht gefühlt haben, als er ihn wieder gab.
Franz Moor war für mich ein eignes Fach, in dem es mir, glaub' ich, gelungen ist Neuheit und Kraft zu entwickeln.
Die Intendanz wußte jedes aufkeimende Verdienst zu ermuntern. Herr von Dalberg erklärte sich ernstlich und thätig gegen jedes Kunstmonopol. Dem Verdienst und dem Fleiße wurde die Bahn zum edlen Wettkampfe nie verschlossen. Dennoch fröhnte man nicht der aufkeimenden Neuheit, sondern dem lang' erworbenen Verdienst wurde mit Achtung begegnet.
Nach des Direktors Seyler Abgange wurde ein erster Ausschuß unter Vorsitz der Intendanz von den Schauspielern gewählt. Die Intendanz ernannte zu dessen Unterstützung einen zweyten Ausschuß, welcher letztere alle drey Monate wechselte.
Erster Ausschuß ward der Schauspieler Meyer, und blieb es bis zu seinem Tode im September 1783. Er war ein Schauspieler von Fleiß und Verdienst, bekannt mit den Geschäften und der Ordnung des Theaters. Zu ängstlich mit letzterer beschäftigt, erschwerte er sich seine Stelle ohne Noth.
Wichtiger, als die Anordnung dieser Stellen, war der Ausschuß, welcher alle vierzehn Tage bey dem Intendanten sich versammelte. Er berathschlagte über Verbesserung des Theaters, brachte neue Stücke in Vorschlag, las die Rezensionen über empfangene Schauspiele vor, empfing Lob oder Tadel über bedeutende Vorstellungen von dem Intendanten selbst verfaßt, stimmte ab über eingegangene Vorstellungen, Klagen, Vorschläge, und es war jedermann, der nicht im Ausschusse war, verstattet, dahin zu kommen und seine Sache selbst zu führen. Die Beantwortungen der vorher aufgegebnen Kunstgegenstände wurden von jedem verlesen, die neue Aufgabe ähnlicher Gegenstände wurde vertheilt, und mit Verlesung des Protokolls der vorherigen Sitzung geschlossen. Die Rezensionen wurden den übrigen Schauspielern von dem Intendanten versiegelt zugestellt. Freymüthige Widerlegung war nie versagt.
Diese Einrichtung war ganz das eigne Werk des Freyherrn von Dalberg. Sie hat sehr viel Gutes gestiftet, dem Einzelnen und dem Ganzen eine Haltung und Richtung gegeben, welche nicht genug zu verdanken ist. Seine Kritik war stets mit Gründen gegeben, nie einseitig, noch auf vorgefaßte Meinung gegründet. Sie verhinderte, daß man sich nicht verleiten lassen konnte, den Beyfall für ausschließlich verdient aufzunehmen. Da er auch selbst mehrentheils die Proben neuer Stücke zu besuchen pflegte, so hatten diese durch die Achtung für dessen Gegenwart sehr bald eine gewisse Anständigkeit gewonnen, welche den Vorstellungen alles Rauhe und Gemeine nahm, den Ton der bessern Welt einflößte, und manchmal sogar Eleganz darüber verbreitet hat.
Die Versammlungen des Ausschusses dauerten von Ostern 1782 bis Michaelis 1785 unausgesetzt.
Vier Foliobände in Manuskript, welche bey den Manheimer Theaterakten befindlich sind, zeugen mit einem interessanten Inhalt für die ernstlichen Bemühungen der Versammlung, wie für die rastlose Thätigkeit, womit der Freyherr von Dalberg sich der guten Sache der Kunst stets gewidmet hat. Die zunehmenden Geschäfte desselben hinderten ihn, diese Versammlung ferner unter seinem Vorsitze zu halten, und ohne ihn verlor sie für uns zu viel von dem, was Ehre bringend, nützlich und zweckmäßig war; also endete der versammelte Ausschuß.
Das Publikum hatte zwey übel gerathene Versuche von Schauspielen mit Nachsicht gegen mich vorüber gehen lassen. Ich habe sie gern vernichtet.
Den 9ten März 1784 wurde das Schauspiel, Verbrechen aus Ehrsucht, zu Manheim zum ersten Male gegeben, und mit inniger Theilnahme empfangen. Ich hörte von mehreren Orten dasselbe, und erlebte es zu Frankfurt am Main selbst.
Mehr als tausend Menschen nach und nach zu Einem Zwecke gestimmt, in Thränen des Wohlwollens für eine gute Sache, allmählich in unwillkührlichen Ausrufungen, endlich schwärmerisch in dem lauten Ausruf, der es bestätigt, daß jedes schöne Gefühl in ihnen erregt sey, zu erblicken – das ist ein herzerhebendes Gefühl. Die meisten Menschen verlassen mit innigem Wohlwollen die Versammlung, bringen es mit sich in ihren häuslichen Zirkel, und verbreiten es auf ihre Angehörigen. Lange noch tönt die Stimmung nach, welche sie in den dicht gedrängten Reihen empfangen haben, und schon vertönt, wird, wenn auch später ähnliche Gefühle an dieser Saite vorüber ziehen, diese nun leichter ergriffen, und antwortet in vollerem Klange.
Davon überzeugt, habe ich den 9ten März 1784, als bey jener Vorstellung das Publikum von Manheim sich so herzlich, laut, so feurig äußerte – an dem Tage habe ich mir selbst das Gelübde gethan: die Möglichkeit, auf eine Volksversammlung zu wirken, niemals anders als in der Stimmung für das Gute zu gebrauchen. Mit meinem Wissen habe ich dieses Gelübde nicht gebrochen.
Unter den Schauspielerinnen entwickelte sich Madam Ritter, geborne Baumann, sehr vortheilhaft. Mariane, Amalie in den Räubern, Juliane von Lindorack, Lotte im Hausvater, Imoinde im Oronoko, sind Rollen, die sie mit Gefühl, mit weiblicher Würde und feinen Accenten giebt. Das Achtungswerthe ihres Charakters interessiert um so mehr für jedes Wort, welches sie herzlich spricht.
Karoline Ziegler, verheirathete Beck, starb 1784. Sie verschwand, eben da sie jedermann die volle Ueberzeugung gegeben hatte, daß das seltenste Genie, die feinste Zartheit mit der innigsten Kraft gepaart, durch eine idealische Gestalt veredelt, mit ihr auf der Bühne erschienen war. Nie habe ich den Augenblick der Dichtung so wiedergeben sehen. Nie habe ich diese Accente wieder gehört, noch die Melodie der Liebe, wie sie in Fiesko's Gattin von diesen Lippen tönte. Wahrscheinlich hat ein unglücklicher Fall in Emilia Galotti, wo aus Odoardo's Armen ihr Kopf schmetternd auf den Boden fiel, und hierauf eine, einem reisenden Freunde zu gefallen in drey Tagen gelernte Rolle ihr Ende veranlaßt. Sie starb zehn Tage nach jenem Falle am Schlage.
Demoiselle Boudet aus Manheim, nachher verehlichte Müller, verbindet mit einem vortheilhaften Aeußern eine sehr angenehme Singstimme. Sie macht, obgleich sie in allen Opern mit verdientem Beyfall auftritt, dennoch besonders in den Französischen Opern davon sehr angenehmen Gebrauch. Sie hat Verdienst in naiven Rollen des Schauspiels, und überhaupt gefälligen Anstand.
Demoiselle Schäfer, ebenfalls aus Manheim, jetzt verheirathete Beck, eine Schülerin der berühmten Dorothea Wendling, betrat als Zemire 1782 die Bühne. Ihr ausdrucksvoller, herrlicher Gesang, nicht von den Verkrüppelungen der falschen Mode und den unsinnigen Ueberladungen der Charlatanerie entstellt, hat immer die Empfindungen mit sich fortgerissen und die Kenner entzückt. Sie liebt die Kunst, denkt darüber, und studiert mit Wärme. Sie hat allerdings jene bunten Zierathen, welche den Gesang verbrämen, in ihrer Gewalt; allein sie übt sie selten, weil es gegen ihre Ueberzeugung ist – wenn ich mich des Gleichnisses bedienen darf – Zucker auf Zucker zu streuen.
Zur selbigen Zeit betrat Herr Gern der Aeltere die Bühne. Seine ausdrucksvolle, seltne Tiefe, überhaupt sein beredter Gesang, sind eben so anziehend, als sein gutes, getreues Spiel und seine komische Laune unterhaltend ist.
Auch Herrn Epps Anfang fiel in jene Zeit. Er ist ebenfalls aus Manheim. Reichards Urtheil über diesen herrlichen Tenor, und daß eine Stimme, wie die seine, nur sehr selten gefunden werde, entscheidet ganz für ihn. Seine Anstrengung, dieses Talent zu bilden, ist achtungswerth.
Nach Meyers Tode wurde die Wahl des Schauspielers, Herrn Renschüb, als Regisseur, bestätigt.
Ich muß noch anführen, daß unter die ausgezeichneten Unglücksfällen dieses Theaters die vielen Krankheiten gehören, womit es besonders im Jahre 1782, wo die Influenza über Europa wüthete, heimgesucht wurde. Zwar spielten alle Kranken, sogar im heftigsten Fieber manchmal; allein es gab Perioden, wo die Bühne ganz geschlossen werden mußte.
Nach dem Tode der Karolina Beck machte diese Bühne die unschätzbare Akquisition der Demoisell Witthöft von Berlin. Der feinste Weltton, das graziöseste Benehmen, liebenswürdige Laune, dicht an Muthwillen, im beständigen Geleit der sittlichsten Weiblichkeit, sind das Eigenthum dieser liebenswürdigen Künstlerin. Ihre Hedwig von der Aue, Rutland, Gurli, und ihr Triumph – Susanne im Figaro, werden mir stets unvergeßlich seyn.
Im Jahre 1784 und 1785 wurden die Mündel und die Jäger gegeben; die Jäger zuerst auf dem Gesellschaftstheater des Fürsten von Leiningen zu Dürkheim. Einige Jahre vorher schon wurden auf diesem Theater im Winter Vorstellungen gegeben. Ich machte dadurch die Bekanntschaft dieser höchst liebenswürdigen Familie.
 [...]
Das Jahr 1785 zeichnete sich noch durch zwey merkwürdige Vorstellungen aus.
Julius Cäsar, nach Shakspeare, vom Freyherrn von Dalberg bearbeitet, wurde im April desselben Jahres mit beträchtlichem Aufwand auf die Bühne gebracht. Das Kapitolium wurde nach einem getreuen Abriß dargestellt. Die Scene, wo Cäsar im sitzenden Senat ermordet wird, bestand aus zwey Reihen abgesonderter Sitze hinter einander, welche in einem großen Halbzirkel drey Theile der Bühne einnahmen, die zweyte Reihe höher als die erste. Ein solcher Sitz war die genaue Abbildung der Sella curulis im alten Rom. Hinter dieser doppelten Reihe waren in den Kolonnaden der Coulissen Gallerien für zahlreiche Statisten, welche das Volk auf den Tribunen vorstellten. Die Scene, wo Cäsar an der Bildsäule des Pompejus sterbend niedersank, die nicht unterrichteten Senatoren von ihren Sitzen aufstürmten, die unterrichteten die gährende Masse zum Stehen und Anhören bewegen wollten, das Volk auf den Tribunen mit Geschrey herab stürzte, seine Sitze zerbrach, theils nach dem gemordeten Cäsar hinstarrte – theils wüthend, oder mit Klaggeschrey davon rannte – wurde mit großer Energie und Präzision gegeben.Eben so und ganz vortrefflich die, wo Cäsars Leichnam vom Kapitol herab gebracht wird, wo erst Brutus, hernach Antonius, das Volk pro rostris anreden. Die stufenweise Wirkung jener hinreißenden Reden auf das Volk – sein Antheil – seine Rührung – die Wuth, womit es den geliebten Leichnam aufrafft – mit ihm davon stürmt und Krieg und Tod dem Triumvirat schwört – wurde noch genauer und fast vollendeter dargestellt. Anziehend war die Scene zwischen Brutus und Cassius im vierten Akte. Aber vollkommen war der schauerliche Auftritt, wo Cäsars Schatten dem Brutus Nachts im Zelte erscheint. Kaum waren die letzten Töne von der Laute des Sklaven verschollen – kaum war Brutus neben dem blauen Flämmchen der Nachtlampe auf sein Lager hingestreckt – so quoll aus einer Ecke des Zeltes eine Rauchwolke hervor, und in dieser wankte Cäsars Schatten heran. Feierliche Todesstille ehrte stets diesen furchtbaren Augenblick.
Zum Schlachtfelde im fünften Akte stellte das ganze Theater ein Thal mit wild und schrecklich durch einander geworfenen Felsenmassen vor. Seine Tiefe, von Pechpfannen beleuchtet, ging hinten bergabwärts. Man hatte dazu das Magazin des Theaters benutzt. Da herauf kamen die zerstreuten Heerhaufen, die Flüchtenden, der sterbende Cassius, Brutus auf seiner Flucht, und endlich im Siegesgeschrey das Römische Heer. Julius Cäsar war die Lieblingsvorstellung des eben anwesenden Churfürsten: er sah dieses Schauspiel dreymal.
Mit nicht minderer Präzision und großer Eleganz wurde Figaro gegeben. Herr Cervais, ehemaliger churfürstlicher Hoftänzer, der eben von Paris gekommen war, hatte es übernommen, diese Vorstellung einzurichten. Beck stellte den Figaro mit Leichtigkeit und Anstand vor. Demoisell Witthöft war als Susanna im hohen Grad liebenswürdig und fein.
Der Churfürst hatte zu München einer Gattung Obergewalt der Umstände nachgegeben, vermöge deren dort die Vorstellung nicht zugelassen wurde. Der Hochwürdige in Gott, Pater Frank, soll ihn zu Manheim daran erinnert, der Churfürst aber gelächelt und darauf geantwortet haben: »Das habe hier zu Manheim nichts auf sich.« Er sah die Vorstellung mit Vergnügen, und bemerkte, wie gewöhnlich, jede Feinheit zuerst und laut. Auch wurde in seiner Anwesenheit noch der Cholerische, nach dem Englischen von Herrn von Dalberg bearbeitet, gegeben, und erregte vieles Vergnügen.
Dieses Jahr wurden auch auf dem Hoftheater zu Schwetzingen mehrere Stücke vorgestellt. Dieser schöne Garten, angefüllt mit einer Volksmenge, welche aus Manheim, aus dem sehr nahen Speyer und Heidelberg dahin strömte, gewährt alsdann einen überaus reitzenden Anblick.
Die Menschen, welche in den Gasthöfen von Schwetzingen weder unterkommen, noch Nahrung erhalten konnten, wandelten mit portatifen Diners in den Alleen von Schwetzingen, und ganze Massen gruppierten sich in den Tempeln, Hainen, Moscheen und Berceaus des Gartens.
Abends nach der Vorstellung ergoß sich die Menge aus dem Schauspielhause, welches im Garten selbst ist, wie ein Strom, in die großen Parterre desselben, und verlor sich allmählich in die abgelegnern Partien. Nun fingen nach und nach, bald hier bald dort, die Lichter an durch das grüne Dickicht hervor zu schimmern. Die Gesellschaften suchten, riefen sich, gaben sich Zeichen. Der fröhliche Lärm ward immer lauter und lauter. Man hörte die Gläser klingen, Chöre und Lieder wechselten ab in den wallend warmen Nächten, während daß im Orte Schwetzingen das fröhliche Toben der Musik, der Tanzenden – aus jedem Gasthofe erscholl, und vor allen Häusern die Bewohner und ihre Gäste in beredten Halbzirkeln vor den Thüren saßen.
Auf der Heimkehr um Mitternacht war der drey Stunden lange Weg einem Gesellschaftssaale gleich. Wagen an Wagen, rollte einer dem andern vor. Die Gesellschaften in den vorderen Wagen riefen denen zu, die hinten fuhren. Diese antworteten. Die Fußgänger sangen Lieder. Die Reitenden machten den Weg manchmal eine Strecke hin und wieder zurück. Es war die ganze Nacht hindurch ein Verkehr der guten Laune, des Weinmuths und der Fröhlichkeit, der auch den gleichgültigsten Menschen in dem allgemeinen Taumel mit fortreißen mußte.
Der Churfürst hatte das Manheimer Theater in drey ahren nicht gesehen. Er war mit dessen Fortschritten so sehr zufrieden, daß er seinen jährlichen, ohnehin beträchtlichen Beytrag zu dessen sicherern Erhaltung mit einigen tausend Gulden jährlich erhöhte.
Er verlangte die Vorstellung des Königs Lear, sagte aber dem Herrn von Dalberg vorher: »Er möge ja bewirken, daß in dem ersten Akte die Scene hinzu gesetzt werde, wo Lear das Reich unter seine Töchter vertheilt. Er sey gewiß, daß diese Scene nicht bloß erzählt, sondern lebendig dargestellt, das Interesse für den König Lear noch weit mehr erhöhen müsse. Er habe sie bisher bey jeder Vorstellung ungern vermißt.« Er sandte zu dem Ende den Theil des Shakspeare, worin Lear enthalten ist, in der Englischen Ausgabe aus seiner Bibliothek an Herrn von Dalberg. Der Churfürst liest nämlich diesen Autor in der Ursprache.
In eben diesem Jahre 1785 machte ich eine Reise nach Lübeck und Hamburg. Ich spielte in Lübeck, auf Herrn Schröders Einladung, in seiner Gegenwart, aber eben deßhalb nicht minder mittelmäßig, als einst in Manheim.
Es gehört zu jeder Kunstübung eine Ueberzeugung, daß man das gut leiste, was man zu thun hat. Außer dieser wird wohl eine kalte Richtigkeit gedeihen; aber jenes Leben in unnennbaren Kleinigkeiten, die letzte Hand, der Lustre wird fehlen, und mit diesem fehlt alles was eigentlich interessiert. Ich vermochte es nun einmal nicht, weder jetzt noch nachher, und werde es wohl nie über mich gewinnen, in der Gegenwart eines so großen Künstlers diese Art von nöthiger Prätension anzunehmen. Nach dem, was ich darüber gesagt habe, ist dieser Zustand weder Mangel an billigem Selbstgefühl, noch minder falsche Bescheidenheit.
Herr Schröder ermunterte mich, ferner Schauspiele zu schreiben, und erbot sich dagegen zu einem ehrenvollen Akkord für meine Manuskripte, den ich billig eine Belohnung nenne.
In Hamburg wurde ich sehr warm aufgenommen. Aber bey aller Erkenntlichkeit dafür hatte ich einen so entschiedenen Hang für Ruhe, und ein kleineres Verhältniß, darin ich der Kunst mit Muße ohne Trägheit mich widmen onnte, daß ich mit einer Art von Sehnsucht nach Manheim wieder zurückkehrte. [...]
Von Michaelis 1786 bis dahin 1793 war überhaupt die beste Periode des Manheimer Theaters.
Im September 1786 beschenkte der Freyherr von Dalberg die Bühne mit seiner Bearbeitung des Einsiedlers von Karmel. Dieses war von allen Seiten eine treffliche Vorstellung. Das Theater hatte das Jahr zuvor an Herrn Julius Quaglio, Neffen des berühmten Dekorateurs dieses Namens, eine überaus schätzbare Akquisition gemacht. Seine Kenntniß der Wirkung, sein Geschmack für den edelsten Styl, seine herrliche Perspektive, sind die Bewunderung aller Kenner. In diesem Schauspiel erschien die erste Dekoration von seiner Erfindung und Ausführung. Sie erwarb ihm den vollkommensten Beyfall, welchen das Publikum laut bewies. Das Kostüme war genau beobachtet; und diese Vorstellung, in welcher die Künstler ihren Antheil an der Sache, wie ihren dankbaren Antheil an dem Verfasser, so unverkennbar bewiesen haben, erregte das erste Mal, und eben so bey mehreren Wiederholungen, das lebhafteste Vergnügen.
Im Winter wurde auch noch die Oper, Helena und Paris, mit Musik von Winter, gegeben. Madam Müller, damals noch Demoisell Boudet, zeigte sich als Amor in einem Gesange von größerm Umfange als bisher und sehr angenehmer Vorstellungsart. Madam Beck bestätigte mit hinreißendem Gesange und wahrer Kunst den Ruhm, den sie sich schon erworben hatte. Die Arrangements der Vorstellung machten dem Regisseur, Herrn Rennschüb, Ehre.
Im Sommer desselben Jahres hatte ich zu Käfferthal das Schauspiel, Bewußtseyn, geschrieben. Es wurde den 12ten December mit Beyfall gegeben.
Beck gab den Ruhberg hinreißend schön. Die sanften Stellen des vierten Akts besonders charakterisierte er durch eine Wehmuth und Würde, welche alles erreichte, was ich mir gedacht hatte.
Beil, als Kammerdiener Meyer, war die Wahrheit selbst. Eine Menge kleiner Züge, die nur ihm eigen waren, ein Detail der Ausmahlung, was nur seinem Genius glücken konnte, verwandelten diese Skizze in einen lebendigen Menschen.
Böck, als Minister – edel und warm.[...]
Die Revolution in Frankreich, welche in diesem Jahre ausgebrochen war, warf sehr bald eine Menge Flüchtlinge aller Art nach Deutschland. Noch mehrere kamen 1790 an. Sehr groß war die Anzahl, welche entweder in Manheim, oder der umliegenden Gegend sich niederließ, oder durchreiste.
Der lebhafte Charakter der Franzosen ward bald im Schauspielhause sehr merklich. Die Schnelligkeit, womit sie in eine Lage sich versetzen, das Interesse, womit sie dieselbe, lebhafter als die Deutschen, ergreifen und umfassen, äußerte sich auf das kräftigste. Ein erhöheter Grad von Wärme theilte unwillkührlich dem übrigen Publikum sich mit, erleichterte alles Thun der Künstler, entwickelte schneller den Keim in jedem Anfänger, erhob viele Vorstellungen zu einer Lebendigkeit, warf ein Feuer in dieselben, daß, sich unbewußt, die Schauspieler auf eine Höhe gelangten, dahin sie ohne dieses Treiben des Publikums schwerlich gekommen seyn würden.
Um Ostern 1790 bekam ich auf Befehl des Königs den Antrag, die Direktion des Berliner Nationaltheaters zu übernehmen. Die Bedingungen waren ehrenvoll und glänzend. Ich wurde davon angenehm überrascht, ohne daß irgend eine Stimmung mich dafür entschieden hätte. [...]
Nachdem die ersten Stürme zu Paris vorüber waren, ließen die großen Begebenheiten dort reinen Gewinn für die Menschheit hoffen, nicht so furchtbar erkauft, als es nachher geschehen ist. Jedermann nahm mehr oder minder lebhaften Theil daran, alle freuten sich des aufgehobenen Drucks, und da war niemand, dem nicht die Erklärung der Nationalversammlung, »daß sie Frankreichs Heil zu begründen, zu schützen, aber Eroberungen zu machen nicht verlange,« – das hochherzigste Gefühl gegeben hätte. Man sah das bunte Getümmel der Ausgewanderten, ihre charakteristischen Eigenheiten, ihre Thorheiten, freute sich des interessanten Umganges mit einigen gebildeten Männern – man lebte ganz angenehm in dem Quodlibet, das jeden Tag eine andere Gestalt gewann. Die Verwickelungen, den Blutkampf, der daraus entstehen, unsern und jeden Frieden so grausam zerreißen sollte, ahndeten wir nicht.
Schon in der Mitte des Jahrs 1791, noch mehr gegen Ostern 1792, hatte sich die Gestalt der Dinge und ihr Eindruck auf die Menschen merklich verändert. Alle Begebenheiten und Menschen, welche vorher Unterhaltung gewährt, und zu ruhigen, witzigen oder ernsten Gesprächen geführt hatten, erhitzten nun, erbitterten und veranlaßten oft traurige Augenblicke. Der Krieg der Meinungen begann mit Hartnäckigkeit. Die Unbefangenheit des täglichen Verkehrs war früher, als man es bemerkt hatte, gestört. Diese Störung wirkte erst schwächer, dann stärker im Schauspiele, und ging auf das Privatleben der Schauspieler über. Es ward allmählich zur Sitte, daß die Anhänger dieses und jenes Systems durch künstlich bewirkte oder gebotene Kälte, wie durch jauchzenden Beyfall im Schauspielhause, ihre Ueberzeugung geltend zu machen sich bestrebten.
Das unweise, oft übermüthige Betragen der Emigranten im gemeinen Leben beleidigte den ruhigen Bürger, und ihr lauter, stürmischer, gebieterisch scheinender Enthusiasmus, wenn in den Schauspielen Situationen oder Stellen vorkamen, welche mit ihren Empfindungen Aehnlichkeit hatten, war nur wenigen faßlich, vielen beschwerlich, und allen, welche an Ludwig dem Sechzehnten keinen, oder Antheil gegen ihn nahmen, im höchsten Grade zuwider.
Besonders war dieß der Fall nach der Einholung des Königs auf der Flucht nach Varennes, und äußerte sich in den verschiedenen Meinungen nach der Aufführung der Oper, Richard Löwenherz. Diese Vorstellung wurde durch lautes Schluchzen, ein wildes Geschrey, Umarmungen und durch alle Bewegungen bezeichnet, in welche ein so lebhaftes Volk, in dicht gedrängter Menschenmasse, gequält von Schmerz, Wuth, Eitelkeit, Unglück und Hoffnung, nur auszubrechen vermag. Verse wurden auf das Theater geworfen, und nicht eher war der Aufstand zu stillen, bis diese abgelesen waren. Der Sturm der Burg am Schlusse der Oper, wo Richard von Blondel befreyt wird, riß diese erschütterten Menschen in die Höhe; sie stiegen auf die Bänke, das Geschrey der Stürmenden war im Parterre, unterbrochen von manchem Angstruf um Ludwig den Sechzehnten, dessen Schicksal nach der Einholung von Varennes damals noch nicht entschieden war.
Die Vorstellung endete. Alle Franzosen und sehr viele Einwohner riefen mit unablässigem Ungestüm, und verlangten die Erscheinung des ganzen Personals, welches die Oper aufgeführt hatte. Dieß geschah. Es wäre sehr besonnen gewesen, wenn alle sich verbeugt und niemand gesprochen hätte.
Der Vorhang war hinauf – das ganze Theater stand da – eine feierliche Stille erfolgte. Das Publikum erwartete, wie gewöhnlich nach dieser Art seiner Begrüßung geschieht, eine Antwort. Es war eben so kritisch, einer Volksmasse in dieser gewaltigen Bewegung nichts zu antworten, als es schwer war, nicht etwas zu antworten, was jetzt einigen und später hin der Mehrheit mißfallen konnte. Der Augenblick gebot – zur Ueberlegung war kaum ein Athemzug Zeit.
Erschüttert von allem Tumult, noch mehr von so manchem schmerzlichen Ausruf, welches von der Reitzbarkeit eines Künstlers von Empfindung wohl begreiflich ist – sagte ich auf Französisch: »Möge der König einen Blondel finden, der sein Leben rettet!« Das ganze Publikum, Deutsche und Franzosen, stimmte in den Wunsch ein, ohne daß ein Mißlaut gehört wurde. Der Vorhang fiel. – Ohne daß gleich darauf über diese Begebenheit vieles von einiger Bedeutung gesprochen worden wäre, datiert sich doch von dieser Vorstellung so mancher Mißverstand, und einige höchst schmerzliche Augenblicke, die so sehr in mein Leben und meine Laufbahn als Künstler verwickelt sind, daß ich nicht umhin kann, ihrer hier zu erwähnen.
Alle Theile, oder doch gewiß die Mehrheit, welche in Ludwig dem Sechzehnten keinen Beruf zur Königswürde finden, waren damals darüber einig, und scheinen es jetzt wieder zu seyn, daß er als Privatmann von mancher Seite Achtung, und überhaupt Mitleiden verdiene. Dieß empfand ich bey jener Vorstellung; nicht mehr drückte ich aus, als ich sagen mußte.
Daß Frankreich ein Jahr darauf sich zur Republik erklären würde, sahen vielleicht damals die bedeutendsten Staatsmänner nicht voraus: es ist also wohl zu denken, daß die meisten von denen, welche über diesen Vorfall mich bitter getadelt und verschrien haben, unter ähnlichen Umständen nicht viel anders gehandelt haben würden.
Wie ernstlich ich mich auch stets um den Antheil der Mehrheit durch Anstrengung beworben habe, so habe ich dennoch nie den Antheil irgend einer Partey gesucht. Ich bin in dem Bestreben, auch den Anschein davon zu vermeiden, zu meinem offenbaren Nachtheil, viel zu weit gegangen.
Die Emigranten, mit denen ich – einen einzigen schätzbaren Mann, den ich lange vor der Revolution gekannt habe, ausgenommen – nie Verkehr hatte, bewiesen mir ihren Antheil nach diesem Vorfalle während der Vorstellungen, in welchen ich zu thun hatte, nicht viel, aber doch etwas lebhafter wie zuvor. Ein bedeutender Schauspieler glaubte aber, und eine Partey machte ihn glauben, daß ich auf diesem Nebenwege Beyfall und eine Gattung Ruf erhalte, welcher den seinigen übertreffen könne. Diese Sorge warf eine Art Eifersucht in seine Seele, welche er vorher nie gekannt hatte. Um nun auch seinerseits auf einem nicht minder bedeutenden Nebenwege mich wieder einzuholen, ergriff Er – der für die Sorge um alle öffentliche Angelegenheiten von jeher viel zu leichtsinnig gewesen war – den Anschein – denn mehr war es nicht – unter der Aegide der entgegen gesetzten Partey zu stehen, und diese für sich wirken zu lassen. – Hieraus entstanden Gespräche, wurden Meinungen angenommen und von mir festgesetzt, welche, so wie ihre Wirkungen, ich erst einige Zeit nachher in ihrer ganzen Bedeutung erfahren habe. [...]

Berlin, den 17ten April

1798.

Iffland

(Quelle: zeno.org, 1.1.09)

 Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 20.11.2023

    
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie die Umstände heraus, unter denen sich die Entwicklung Ifflands zum Schauspieler entwickelt.

  2. Zeigen Sie Charakteristika seines Darstellungsstils als Schauspieler gegenüber anderen im Text beschriebenen Darstellungsstilen auf.

  3. Iffland tritt selbst als Autor zahlreicher Rührstücke auf. Wie beschreibt er die Wirkung, die er mit seinen Stücken zu erzielen sucht?

  4. Für Iffland sind Freundschaftsbeziehungen als Schauspieler sehr wichtig. Arbeiten Sie die Bedeutung des Freundschaftsbundes vom Siebeleber Holz für seine Arbeit als Schauspieler heraus. Ziehen Sie dazu auch den Gesamttext heran (vgl. zeno.org, )

 
   
 

 
ARBEITSTECHNIKEN und mehr
Arbeits- und ZeitmanagementKreative ArbeitstechnikenTeamarbeit ▪ Portfolio ● Arbeit mit Bildern  Arbeit mit Texten Arbeit mit Film und VideoMündliche KommunikationVisualisierenPräsentationArbeitstechniken für das Internet Sonstige digitale Arbeitstechniken 
 

 
  Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA)
Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von
externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de
-
CC-Lizenz