Das Verhältnis von
• Michael Berg
zu seinem Vater in • Bernhard
Schlinks Roman • »Der
Vorleser« ist von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet.
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Der Vater ist Professor der Philosophie und beschäftigt
sich vor allem mit den beiden Philosophen
»Immanuel Kant (1724- 1804) und
»Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831).
Während der Zeit des
Nationalsozialismus verliert er seine Stelle als Dozent für Philosophie,
weil er eine Vorlesung über den niederländischen jüdischen Philosophen
»Spinoza (1632-1677) halten wollte.
Während des Krieges ernährt er
seine Familie als Lektor eines Verlags für Wanderkarten und -bücher. (vgl.
S.88)
Für die Alltagsbelange seiner Familie zeigt der Vater kaum
Interesse, und wenn er von seiner Frau einmal auf Kinder oder Haushalt
angesprochen wird, schweigt er gewöhnlich und sieht nur nachdenklich
drein. Er redet nicht über sich und schon gar nicht über die Vergangenheit
und wirkt auf den Ich-Erzähler als ganz und gar verschlossen.
Unfähig,
seinen Kindern gegenüber Gefühle zu zeigen oder etwas mit deren Gefühlen
für ihn etwas anfangen zu können (vgl. S. 134), gibt er sich vollkommen
dem hin, was ihn wirklich beschäftigt: das Denken als Philosoph (vgl. S.
31)
Damit entspricht er bis zu einem gewissen Grade der Vaterfigur, die in
der familientherapeutischen Literatur als konturloser Vater
bezeichnet
wird. Mit seinen Attributen (randständig, emotional schwach und wenig
beteiligt) ist der konturlose Vater zwar "nicht wirklich konturlos, er hat
nur nicht die Eigenschaften, die in seiner Familie gebraucht werden." (Schnack/Neutzling
1990, S.85)
Sein emotionsloses bis abweisendes Verhalten gegenüber den
eigenen Kindern verletzt den Ich-Erzähler sehr, der beklagt, dass er
manchmal das Gefühl gehabt habe, die Mitglieder seiner Familie seien für
den Vater lediglich "Haustiere". Und so klingt es wie ein verspäteter
Aufschrei des Erzählers, wenn er - wenn auch fast beiläufig notiert: "Ich
hätte gerne gehabt, dass wir, seine Familie, sein Leben gewesen wären."
(S.31)
Zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Vater herrscht eine Distanz,
die auf der Unnahbarkeit und der unbestrittenen intellektuellen Autorität
des Vaters beruht.
Die emotionale Distanzierung des Vaters findet ihren
Ausdruck in der räumlichen. Abgeschottet vom Familienleben und der
Außenwelt führt er sein Leben in seinem Arbeitszimmer, einem "Gehäuse" das
selbst die eigenen Kinder nur nach Vereinbarung eines Termins und nach
Anklopfen betreten dürfen. (vgl. S.135)
Das Vorbild, das der vollends "verkopfte"
Vater seinem Sohn gibt, ist orientiert an einem Bild von Männlichkeit, in
dem echte Gefühle keinen Platz haben, rationales Denken aber alles
bestimmt. Aus diesem Grunde ist ein offenes Gespräch von Vater und Sohn
wegen des Prozesses von Hanna nicht möglich und wird vom Ich-Erzähler auch
überhaupt nicht in Erwägung gezogen, als er sich im Zwiespalt nach seiner
Entdeckung von Hannas Analphabetismus befindet. Da der Ich-Erzähler wie
sein Vater auch die gleichen Schwierigkeiten hat über seine Gefühle zu
sprechen, sieht er gerade darin die Chance mit dem Vater sein Problem rein
abstrakt zu erörtern.