|
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich
vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im
Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen
der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das
hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom
Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal
sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen,
halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum
Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!
Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater und obendrein sollte man
ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte,
drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult
umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm.
Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und
Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein
die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände -
worauf er weglief.
Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an
einer Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte
Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewusst:
»Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn
ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel
zuwenig.«
Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen
bald, es dem Vater zu melden, dass sie sich Bier holten, und bald ließ er
kokett aus sich die Stunde herausschmeicheln, zu der Herr Heßling
zurückkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: er kannte
sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttenschöpfer gewesen in den
alten Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen
alle Kriege mitgemacht und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine
Papiermaschine kaufen können. Ein Holländer und eine Schneidmaschine
vervollständigten die Einrichtung. Er selbst zählte die Bogen nach. Die
von den Lumpen abgetrennten Knöpfe durften ihm nicht entgehen. Sein
kleiner Sohn ließ sich oft von den Frauen welche zustecken, dafür, dass
er die nicht angab, die einige mitnahmen. Eines Tages aber hatte er so
viele beisammen, dass ihm der Gedanke kam, sie beim Krämer gegen Bonbons
umzutauschen. Es gelang - aber am Abend kniete Diederich, indes er den
letzten Malzzucker zerlutschte, sich ins Bett und betete,
angstgeschüttelt, zu dem schrecklichen lieben Gott, er möge das
Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater,
der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten
Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte, zuckte diesmal die Hand,
und in die eine Bürste seines silberigen Kaiserbartes lief, über die
Runzeln hüpfend, eine Träne. »Mein Sohn hat gestohlen«, sagte er
außer Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen
verdächtigen Eindringling. »Du betrügst und stiehlst. Du brauchst nur
noch einen Menschen totzuschlagen.«
Frau Heßling wollte Diederich nötigen, vor dem Vater hinzufallen und ihn
um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber
Diederichs Instinkt sagte ihm, dass dies den Vater nur noch mehr erbost
haben würde. Mit der gefühlsseligen Art seiner Frau war Heßling
durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fürs Leben. Übrigens
ertappte er sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie
Romane las! Am Sonnabendabend war nicht immer die Wochenarbeit getan, die
ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu rühren, mit dem
Mädchen… Und Heßling wusste noch nicht einmal, dass seine Frau auch
naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen
und schlich nachträglich an den Schrank. Hätte sie sich in die
Werkstätte getraut, würde sie auch Knöpfe gestohlen haben.
Sie betete mit dem Kind »aus dem Herzen«, nicht nach Formeln, und bekam
dabei gerötete Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf
und verzerrt von Rachsucht. Oft war sie dabei im Unrecht. Dann drohte
Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er ins Kontor,
und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, dass sie nun Angst hatte.
Ihre zärtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte gar keine Achtung
vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er
achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen
durch sein Leben, das vor den Aufgaben des Herrn nicht hätte bestehen
können.
Dennoch hatten die beiden von Gemüt überfließende Dämmerstunden. Aus
den Festen pressten sie gemeinsam, vermittelst Gesang, Klavierspiel und
Märchenerzählen, den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am
Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von seiner Mutter bewegen,
noch ein Weilchen zu glauben und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu
und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnäckig
und der Vater, der davon nichts hören wollte, schien ihm zu stolz,
beinahe strafwürdig. Die Mutter nährte ihn mit Märchen. Sie teilte ihm
ihre Angst mit vor den neuen, belebten Straßen und der Pferdebahn, die
hindurchfuhr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen
sie das wohlige Grausen.
Ecke der Meisestraße hinwieder musste man an einem Polizisten vorüber,
der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz
klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber
dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn
aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich
rein und ohne Schuld fühlte - und mit zitternder Stimme fragte Diederich
den Schutzmann nach der Uhr. Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen
man unterworfen war, den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem
Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch
den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war,
und dem Doktor, der einem im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man
schrie - nach allen diesen Gewalten geriet Diederich unter eine noch
furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule.
Diederich betrat sie heulend und auch die Antworten, die er wusste, konnte
er nicht geben, weil er heulen musste. Allmählich lernte er den Drang zum
Weinen gerade dann ausnützen, wenn er nicht gelernt hatte - denn alle
Angst machte ihn nicht fleißiger oder weniger träumerisch -, und vermied
so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen.
Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war
plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht
gehaltenen Arm hinweg, voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den
scharfen Lehrern ergeben und willfährig. Den gutmütigen spielte er
kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte. Mit
viel größerer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den
Zeugnissen, von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er:
»Heute hat Herr Behneke wieder drei durchgehauen.« Und wenn gefragt
ward, wen: »Einer war ich.«
Denn Diederich war so beschaffen, dass die Zugehörigkeit zu einem
unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden,
maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, dass die
Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend teilhatte,
sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und
Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.
Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebrochene
Katastrophen ihn mit heiligem und süßem Schauer. Ein Hilflslehrer war
vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer
ward wahnsinnig. Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus,
waren hier grässlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt
hatten. Von unten, klein, aber unversehrt, durfte man die Leichen
betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.
Die Macht, die ihn in ihrem Räderwerk hatte, vor seinen jüngeren
Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mussten nach seinem Diktat schreiben
und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen,
damit er mir roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie waren
grausam. Die Kleinen schrien - und dann war es an Diederich, sich zu
demütigen, um nicht verraten zu werden.
Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen nötig; ihm
genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers und sah
die Trommel die Lumpen ausschlagen. »Den hast du weg! Untersteht euch
noch mal! Infame Bande!« murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen
glomm es. Plötzlich duckte er sich; fast fiel er ins Chlorbad. Der
Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestört aus seinem lästerlichen
Genuss.
Denn recht geheuer und seiner Sache gewiss fühlte er sich nur, wenn er
selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem Übel. Höchstens bat
er einen Kameraden: »Nicht auf den Rücken, das ist ungesund.«
Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen
Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, dass Prügel, die er bekam,
dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen realen
Verlust zufügten. (…)
Einmal nur, in Untertertia, geschah es, dass Diederich jede Rücksicht
vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker
ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner
Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen
Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichen dienten, erbaute er auf dem
Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn
fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte,
war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die
überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte
die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter
Verantwortlichkeit und einem Selbstbewusstsein, das kollektiv war!
Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein,
aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut
zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Diederich lächelte mit
demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die
Klasse konnte dem die Ehrung nicht versagen, der die Gunst des Ordinarius
besaß. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch
später. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche
ausplauderten, ein ungeübtes, aber herzliches Lachen, als ernster, junger
Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn - und dann in der Pause, wenn
er dem Professor das Klassenbuch vorlegte, berichtete er. Auch
hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrührerischen Rede,
die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimmte bebte, nun er sie
wiederholte, noch etwas von dem wollüstigen Erschrecken, womit er sie,
hinter gesenkten Lidern, angehört hatte. Denn er spürte, ward irgendwie
an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung,
etwas ganz unten sich Bewegendes, fast wie ein Hass, der zu seiner
Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige
der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.
Andererseits empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine
Tätigkeit in Frage stellte, zumeist keine persönliche Abneigung. Er
benahm sich als pflichtgemäßer Vollstrecker einer harten Notwendigkeit.
Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz
aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefasst, der schon
längst verdächtig war, alles abzuschreiben. Diederich überließ ihm,
mit Wissen des Lehrers eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte
absichtlich gefälscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend
nach dem Zusammenbruch des Betrügers saßen einige Primaner vor dem Tor
in einer Gartenwirtschaft, was zum Schluss der Turnspiele erlaubt war, und
sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als
ausgetrunken war, ließ er die Rechte vom Krug herab, auf die des anderen
gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Basstönen, die von
Gemüt schleppten, ganz allein an: »Ich hatt einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit…«
(aus: Heinrich Mann, Der Untertan, München : dtv 35. Aufl. 1993,
S.5-12;)
|
|