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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
FÜNFTER AUFZUG
SECHSTER AUFTRITT
Szene: in Sittahs Harem.
Sittah und Recha in Unterhaltung begriffen.
SITTAH. Was freu ich mich nicht deiner, süßes Mädchen! – Sei so beklemmt nur nicht! so
angst1! so schüchtern! –
3520 Sei munter! sei gesprächiger! vertrauter2! RECHA. Prinzessin, ... SITTAH.
Nicht doch! nicht Prinzessin!
Nenn Mich Sittah, – deine Freundin, – deine Schwester.
Nenn mich dein Mütterchen!
– Ich könnte das Ja schier auch sein. –
So
jung! so klug! so fromm! Was du nicht alles weißt! nicht alles mußt Gelesen haben! RECHA.
Ich gelesen? – Sittah, Du spottest deiner kleinen albern Schwester.
Ich kann kaum lesen. SITTAH.
Kannst kaum, Lügnerin! RECHA. Ein wenig meines Vaters Hand!3 – Ich meinte,
3530 Du sprächst von Büchern. SITTAH.
Allerdings! von Büchern. RECHA. Nun, Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen! – SITTAH. Im Ernst? RECHA.
In ganzem Ernst.
Mein Vater
liebt Die kalte Buchgelehrsamkeit,4
die sich Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt, Zu wenig. SITTAH. Ei, was sagst du! – Hat indes Wohl nicht sehr Unrecht! – Und so manches, was Du weißt ...? RECHA.
Weiß ich allein aus seinem Munde. Und könnte bei dem meisten dir noch sagen, Wie? wo? warum? er michs gelehrt.
3540 SITTAH.
So hängt Sich freilich alles besser an. So lernt Mit eins die ganze Seele. RECHA.
Sicher
hat Auch Sittah wenig oder nichts gelesen! SITTAH. Wie so? –
Ich bin
nicht stolz aufs Gegenteil. – Allein wie so? Dein Grund! Sprich dreist. Dein Grund? RECHA. Sie ist
so schlecht und recht5; so unverkünstelt; So ganz sich selbst nur ähnlich ... SITTAH.
Nun? RECHA.
Das sollen Die Bücher uns nur selten lassen: sagt Mein Vater.
SITTAH.
O was ist dein Vater für Ein Mann! RECHA. Nicht wahr? SITTAH.
Wie nah er immer
doch
3550 Zum Ziele trifft! RECHA.
Nicht wahr? – Und diesen Vater – SITTAH. Was ist dir, Liebe? RECHA.
Diesen Vater – SITTAH.
Gott! Du weinst? RECHA. Und diesen Vater
– Ah! es muß Heraus! Mein Herz will Luft, will Luft ...
(Wirft sich, von Tränen überwältiget, zu ihren Füßen.)
SITTAH.
Kind, was Geschieht dir? Recha? RECHA.
Diesen Vater soll – Soll ich verlieren! SITTAH.
Du? verlieren? ihn? Wie das? – Sei ruhig! – Nimmermehr! – Steh auf! RECHA. Du sollst vergebens dich zu meiner Freundin, Zu meiner Schwester nicht erboten haben! SITTAH. Ich bins ja! bins! – Steh doch nur auf! Ich muß
3560 Sonst Hülfe rufen. RECHA
die sich ermannt und aufsteht. Ah! verzeih! vergib! – Mein Schmerz hat mich vergessen machen, wer Du bist.
Vor Sittah gilt kein Winseln, kein Verzweifeln. Kalte, ruhige Vernunft Will alles über sie allein vermögen. Wes Sache diese bei ihr führt, der siegt! SITTAH. Nun dann? RECHA. Nein; meine Freundin, meine Schwester Gibt das nicht zu! Gibt nimmer zu, daß mir Ein andrer Vater aufgedrungen werde! SITTAH. Ein andrer Vater? aufgedrungen? dir?
3570 Wer kann das? kann das auch nur wollen, Liebe? RECHA. Wer?
Meine gute böse Daja kann Das wollen, – will das können. – Ja; du kennst Wohl diese gute böse Daja nicht? Nun, Gott vergeb' es ihr! – belohn' es ihr!
Sie hat mir so viel Gutes, – so viel Böses Erwiesen! SITTAH. Böses dir? – So muß sie Gutes Doch wahrlich wenig haben.
RECHA.
Doch! recht viel, Recht viel! SITTAH. Wer ist sie? RECHA.
Eine Christin, die In meiner Kindheit mich gepflegt; mich so
3580 Gepflegt! – Du glaubst nicht! –
Die mir eine
Mutter So wenig missen lassen! – Gott vergelt' Es ihr! – Die aber mich
auch so geängstet!6 Mich so gequält! SITTAH.
Und über was? warum? Wie? RECHA.
Ach! die arme Frau, – ich sag'
dirs ja –
Ist eine
Christin; – muß aus Liebe quälen; –
Ist eine von den Schwärmerinnen,7 die Den allgemeinen, einzig wahren Weg Nach Gott, zu wissen wähnen! SITTAH.
Nun versteh' ich! RECHA. Und
sich gedrungen fühlen, einen jeden,
3590 Der dieses Wegs verfehlt, darauf zu lenken. –
Kaum können sie auch anders.
Denn ists wahr, Daß dieser Weg allein nur richtig führt: Wie sollen sie gelassen ihre Freunde Auf einem andern wandeln sehn, – der
ins Verderben stürzt, ins ewige Verderben? Es müßte möglich sein, denselben Menschen Zur selben Zeit zu lieben und zu hassen. – Auch ists das nicht, was endlich laute Klagen Mich über sie zu führen zwingt. Ihr
Seufzen,
3600 Ihr Warnen, ihr Gebet, ihr Drohen hätt' Ich gern noch länger ausgehalten; gern!
Es brachte mich doch immer auf Gedanken, Die gut und nützlich. Und wem schmeichelts doch Im Grunde nicht, sich gar so wert und teuer, Von wems auch sei, gehalten fühlen, daß Er den Gedanken nicht ertragen kann, Er müß' einmal auf ewig uns entbehren! SITTAH. Sehr wahr! RECHA.
Allein – allein – das geht zu weit! Dem kann ich nichts entgegensetzen; nicht
3610 Geduld, nicht Überlegung; nichts! SITTAH.
Was? wem? RECHA. Was sie mir
eben itzt entdeckt will haben. SITTAH. Entdeckt? und eben itzt? RECHA.
Nur eben itzt!8 Wir nahten, auf dem Weg' hierher, uns einem
Verfallnen Christentempel.
Plötzlich stand Sie still; schien mit sich selbst zu kämpfen; blickte Mit nassen Augen bald gen Himmel, bald Auf mich. Komm, sprach sie endlich, laß uns hier Durch diesen Tempel
in die Richte gehn9! Sie geht; ich folg' ihr, und
mein Auge schweift
3620 Mit Graus die wankenden Ruinen durch. Nun steht sie wieder; und ich sehe mich
An den versunknen Stufen eines morschen Altars mit ihr. Wie ward mir?
als sie da Mit heißen Tränen, mit gerungnen Händen, Zu meinen Füßen stürzte
... SITTAH.
Gutes Kind! RECHA. Und bei der Göttlichen10, die da wohl sonst So manch Gebet erhört, so manches
Wunder11 Verrichtet habe,
mich beschwor; – mit Blicken Des wahren Mitleids mich beschwor, mich meiner
3630 Doch zu erbarmen! – Wenigstens, ihr zu Vergeben,
wenn sie mir entdecken müsse, Was ihre Kirch' auf mich für Anspruch habe. SITTAH. (Unglückliche! –
Es ahndte mir12!)13 RECHA.
Ich sei Aus christlichem Geblüte; sei getauft;
Sei
Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater! –
Gott! Gott! Er nicht
mein Vater! – Sittah! Sittah! Sieh mich
aufs neu' zu deinen Füßen ...14 SITTAH.
Recha! Nicht doch! steh auf! –
Mein Bruder kömmt! steh auf!15
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
ängstlich 2
vertraulicher, offener, intimer
3
(Hand-)Schrift
4
Lessing hegt eine gewisse Skepsis gegenüber Büchern als Mittel der
Persönlichkeitsbildung, wie er in einem Brief vom 20.1.1749 zum Ausdruck
bringt: "Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber
nimmermehr zu einem Menschen machen."
5
schlicht, ungekünstelt
6
Ängste bereitet hat, geängstigt hat
7
h: religiöse Fanatikerinnen
8
vgl.IV,8
V 3144f. 9
den kürzesten Weg nehmen, den Weg abschneiden/abkürzen
10 Maria, Mutter von Jesus
Christus 11
vgl. Wunderglaube Dajas I,1
V 79f., trotz Rechas Einwände gegen den Wunderglauben Dajas (vgl.
III,1 V 1577f.), versucht Daja hier Recha wieder mit ihren
religiösen Überzeugungen zu bedrängen
12
vgl.
IV,5 V 2848ff.: Sittah will Recha zu Saladin holen lassen, aus
Neugier, wie sie sagt
13
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte)
14
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
15
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
Textauswahl
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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