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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
VIERTER AUFZUG
FÜNFTER AUFTRITT
Saladin und Sittah.
SITTAH.
Ganz sonderbar!
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SALADIN. Gelt, Sittah?
Muß mein Assad nicht ein braver,
Ein schöner junger Mann gewesen sein?1
SITTAH.
Wenn er so war, und
nicht zu diesem Bilde
Der Tempelherr vielmehr gesessen!2 – Aber
Wie hast du doch vergessen können dich
Nach seinen Eltern zu erkundigen?
SALADIN. Und ins besondre wohl nach seiner Mutter?
Ob
seine Mutter hier zu Lande nie
Gewesen sei? – Nicht wahr?
SITTAH.
Das machst du gut!
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SALADIN.
O, möglicher wär' nichts! Denn
Assad war
Bei hübschen Christendamen so willkommen,
Auf hübsche Christendamen so erpicht,
Daß einmal gar die Rede ging3
– Nun, nun;
Man spricht nicht gern davon.4
– Genug; ich hab
Ihn wieder! – will mit allen seinen Fehlern,
Mit allen Launen seines weichen Herzens
Ihn wieder haben! – Oh! das Mädchen muß
Ihm Nathan geben. Meinst du nicht?
SITTAH.
Ihm geben?
Ihm lassen!
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SALADIN. Allerdings! Was hätte Nathan,
So bald er nicht ihr Vater ist, für Recht
Auf sie? Wer ihr das Leben so erhielt,
Tritt einzig in die Rechte des, der ihr
Es gab.
SITTAH. Wie also, Saladin? wenn
du
Nur gleich das Mädchen zu dir nähmst? Sie nur
Dem unrechtmäßigen Besitzer gleich
Entzögest?
SALADIN. Täte das wohl Not?
SITTAH.
Not nun
Wohl eben nicht! –
Die liebe Neubegier
Treibt mich allein5, dir diesen Rat zu geben.
Denn von gewissen Männern6 mag ich gar
2850
Zu gern, so bald wie möglich, wissen, was
Sie für ein Mädchen lieben können.
SALADIN.
Nun,
So schick' und laß sie holen.
SITTAH.
Darf ich, Bruder?
SALADIN.
Nur schone Nathans! Nathan muß durchaus
Nicht glauben, daß man mit Gewalt ihn von
Ihr trennen wolle.
SITTAH.
Sorge nicht.
SALADIN.
Und ich,
Ich muß schon selbst sehn, wo Al-Hafi bleibt.7
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
Sittah hat als erheblich jüngere Schwester ihren Bruder Assad nie zu
Gesicht bekommen (vgl. IV,3 Anm. 5);
sie kennt sein Aussehen nur über das kleine Gemälde, das sie unter ihren
Sachen gefunden hat (IV,3
V 2621 im Nebentext)
2
Sittah bestätigt im Vergleich mit dem Gemälde ihres Bruders Assad (IV,3
V 2621 im Nebentext) die überaus große Ähnlichkeit von Assad/Wolf
von Filnek und dem Tempelherrn/Leu von Filnek →Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren
3
Saladin bestätigt, dass er zumindest vom Hörensagen weiß, weshalb Assad
eines Tages, wie er in IV,3
V 2633 sagt, nach einem morgendlichen Ausritt weggeblieben
sei; 4
Verwendung des
Indefinitpronomens "man" unterstreicht die innere Distanzierung
Saladins von seinem Bruder im Gegensatz zu seinen sonstigen
Beteuerungen; Saladin beteiligt sich damit an der Tabuisierung des
Verschwindens und der wahrscheinlichen Konvertierung Assads vom Muslim
zu einem Christen
5
vgl. V,6 V 3634, wo
Sittah erwähnt, dass sie schon etwas ahnt
6
u. U. ein Hinweis dafür, dass Sittah das Tabu um Assad kennt, aber auch
nichts weiter darüber äußern kann
7
Saladin weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sich Al Hafi, sein
Schautzmeister, schon zum Ganges auf den Weg gemacht hat, um dort als
Bettelmönch zu leben - vgl. II,9
Textauswahl
-
IV,1
- Die zweite Begegnung von Tempelherr und Klosterbruder
-
IV,2
- Der Tempelherr beim Patriarchen
-
IV,3 - Saladin und Sittah warten auf den Tempelherrn
-
IV,4
-
Der Tempelherr bringt vor Saladin seine Klage
gegen Nathan vor
-
IV,6
-
Nathan wird von Daja unter Druck gesetzt, der
Heirat zuzustimmen
-
IV,7
- Nathan und der Klosterbruder
-
IV,8
-
Daja versichert Nathan, ihn nicht beim
Patriarchen angezeigt zu haben und berichtet,
Recha sei zu Sittah geholt worden
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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