Die
Handlung der
Szene I,2 (2. Auftritt) im
1. Akt von
Lessings
Drama »Nathan
der Weise« spielt in einem Flur in Nathans Haus. (Handlungsort).
Als
Recha erscheint, um ihren Vater
Nathan zu begrüßen, schildert sie unter
großer emotionaler Erregung ihre Version einer von einem Engel bewirkten Rettung.
Nathan, der um die starken Gefühle weiß, die Rechas Interpretation der
Ereignisse ermöglichen, versucht Recha Schritt um Schritt einer rationalen
Betrachtung der Dinge zugänglich zu machen. Er will ihr verständlich und
emotional nachvollziehbar machen, dass sie von einem Menschen, einem
leibhaftigen Tempelherrn, gerettet worden ist. Aus diesem Grund greift er Rechas
und Dajas Vorstellungen zunächst nicht frontal an, sondern versucht sie für
den rationalen Diskurs über den Begriff des Wunders zu interessieren. So
zeigten sich die "wahren, echten Wunder" ganz anders als der naive und
kindliche Wunderglaube annähme, im alltäglichen Wunder des Lebens und der
Welt. Ein derartiges Wunder, das zur Erklärung keine übersinnlichen,
metaphysischen Begründungen verlange, sei eben die Tatsache gewesen, dass
Saladin den Tempelherrn wegen seiner vermeintlichen Ähnlichkeit mit seinem
Bruder Assad begnadigt habe. Während sich Recha augenscheinlich der rationalen
Perspektive des Vaters, die Glaube und Vernunft verbindet, nicht mehr entziehen
kann, hält Daja geradezu starrköpfig
an der Engelsversion fest. So sieht sich Nathan gezwungen, seinen
Argumentationsstil zu verschärfen. In dem von ihr vertretenen Standpunkt sieht
er nichts anderes als Unsinn, Überheblichkeit, falschen Stolz, zuletzt gar eine
Gotteslästerung. Um die begonnene Einsicht Rechas zu vertiefen, lässt Nathan
im weiteren Gespräch vor den Augen seiner beiden mehr und mehr betroffen
emotional reagierenden Zuhörerrinnen das Bild eines menschlichen Retters
entstehen, der, weil unter Umständen schwer krank, nicht mehr auffindbar sei,
aber eigentlich dringend Hilfe benötige. Dem von Nathan damit erzeugten Affekt
des Mitleids können sich beide Frauen, besonders aber Recha, nicht mehr
entziehen. An ihrer emotionalen Anteilnahme am Schicksal des
Tempelherrn aber erkennt Nathan, dass Recha sich in ihren Retter verliebt hat.
Auf der anderen Seite hat er sich, was den Engelsglauben anbelangt, als weiser
Erzieher seiner Tochter erwiesen, der ihr Wege zur autonomen Erkenntnis
aufgezeigt hat.
I,1
< I,2 >
I,3
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.04.2021
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