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Ein prosanaher Vers: Der Blankvers
Lessing
nennt sein Drama »Nathan der Weise«
"Ein
dramatisches Gesicht in fünf Aufzügen" und weist dabei auf die
Gedichtform als sprachliches Merkmal seines dramatischen Textes hin.
Schon
ein kurzer Blick auf die ersten Äußerungen von Daja und Nathan am
Dramenbeginn zeigen, dass der Text nicht in Prosa-, sondern in Versform
dargeboten wird.
DAJA. Er ist es! Nathan! - Gott sei ewig Dank, Dass Ihr doch endlich einmal wiederkommt. NATHAN. Ja, Daja; Gott sei Dank! Doch warum endlich? Hab ich denn eher wiederkommen wollen? Und wiederkommen können? Babylon Ist von Jerusalem, wie ich den Weg, Seitab bald rechts, bald links, zu nehmen bin Genötigt worden, gut zweihundert Meilen; Und Schulden einkassieren, ist gewiss Auch kein Geschäft, das merklich fördert, das
10 So von der Hand sich schlagen lässt.
Den Vers, die Lessing im "Nathan" verwendet und den er aus der zunächst
von ihm geschriebenen Prosafassung des Stücks entwickelte (vgl.
Fick 2010,
S. 489), bezeichnet man als
Blankvers.
Schon ein kurzer Blick genügt, um festzustellen, dass sich die in
diese Versform gebundenen Äußerungen der Figuren auch nicht reimen. Daher
auch die aus dem Englischen stammende Bezeichnung (blank = ungereimt).
Das Besondere
seiner sprachlichen Gestalt liegt daher vor allem in der Abfolge von unbetonten
und betonten Silben, der metrischen Struktur, der Verse.
-
Wer den Text (laut) liest, spürt leicht
heraus, dass sich diese Sprache irgendwie fremd anhört.
-
Es stellt sich
nämlich ein merkwürdiger Redeklang
ein, der das Gesprochene irgendwie verfremdet.
Die prosanahe Rezitation des Blankverses
Dabei zeigt schon die
Versanordnung der dramatischen Rede, dass die Verse keineswegs völlig gleich
aufgebaut sind.
Was typografisch mit der Zeilenanordnung in Versen wie ein
herkömmliches Gedicht daherkommt, ist nämlich durch zwei rhetorische
Hilfsmittel so arrangiert, dass eine
prosanahe
Rezitation
möglich wird, also ein Sprechen des Textes, das die Gebundenheit der
Sprache in Versen etwas abschwächt. Das entspricht auch Lessings "Forderung
nach Natürlichkeit oder Realistik des gesprochenen Wortes" (Göbel
1971/1984, S. 232)
-
Realisiert wird dies zum einen durch die
häufige Verwendung des Zeilensprunges (Enjambement),
bei dem z. B. ein Satz über das Ende eines Verses hinweg weitergeführt wird.
Das Enjambement steht damit einem versbezogenen "Herunterleiern" entgegen,
das nur der metrischen Rhythmisierung folgend das Versende betont, ohne den
syntaktisch-logischen Satz- bzw. Aussagenzusammenhang zu erhalten.
-
Zum
anderen verteilt Lessing das, was von den Figuren gesprochen wird, oft auf
ein und denselben Vers, so dass die eine Figur im jeweiligen Vers zu
sprechen beginnt, eine andere den Rhythmus aufnimmt und den Vers zu Ende
führt. Man nennt dies Hakenstil (Antilabe).
(vgl.
Fricke/Zymner
1993, S.264f.)
Wenn sich bei der von Lessing gewählten Versform
"Versrhythmus und Satzrhythmus [...] oft ins Gehege [kommen]" (Nisbet
2008, S.790), dann war das von Lessing gewollt, denn ihm war wohl klar,
dass sein "hemdsärmlig gehandhabter Blankvers" anstelle ausgefeilterer, aber
auch gekünstelt und salbungsvoll wirkender Verse eine gewisse Distanz
schafft, die der symbolischen Bedeutung des Stücks von Nutzen ist. (vgl.
ebd.)
Die exotistisch-morgenländische Wirkung des Blankverses
Lessing wusste ziemlich genau, was für
eine Wirkung dies bei zeitgenössischen Zuschauern des Stückes haben würde. Diese
waren nämlich bis dahin eine solche Versform im Theater nicht gewöhnt.
So
konnte Lessing also damit rechnen, was er auch seinem Bruder Karl
geschrieben hat, dass das Ganze in den Ohren des Theaterpublikums seiner
Zeit irgendwie fremdartig, geradezu exotisch klingen
würde. (vgl.
Fricke/Zymner
1993, S.264f.)
So verlieh die alternierende Abfolge von betonten und
unbetonten Silben, ein Versmaß, das man als Jambus bezeichnet, den
Äußerungen der Figuren u. U. eine Art morgenländisches Flair. Damit wurde
"die 'morgenländische' Handlung in redeklanglicher Hinsicht
orientalisch" koloriert. (vgl.
ebd.)
In gewisser Weise hat sich Lessing mit dem stilisierenden Blankvers dabei "in
ein folgenschweres Dilemma manövriert". (Demetz 1984,
S.181).
Mit seiner Entscheidung für die Ringparabel Boccaccios brachte er
etwas Orientalisches in sein Stück ein, das die gewünschte Wirkung aber nur
dann entfalten konnte, wenn es sich als etwas Zauberhaftes und Exotisches
gewissermaßen aus der Distanz rezipieren ließ und nicht in eine Gemengelage
mit den für ein Familienstück typischen Rührung geriet, die den Zuschauer
zur "Identifikation mit den Tränen, Tugenden und Seligkeiten seiner Helden"
veranlassen will. (ebd.)
Blankvers in geschichtsphilosophischer Dimension
Für
Gerhard
Kaiser (1976b, S.133ff.) hat die Verwendung des Blankverses durch
Lessing eine geschichtsphilosophische Dimension. Wenn es in dem analytisch
angelegten Stück darum gehe, "ein Erkennen und Erkennenlassen von
Zusammenhängen und Zusammengehörigkeiten" zu ermöglichen, das mit Hilfe
einer Sprache realisiert werde, "die auf vernunfthelle Durchleuchtung der
Vorstellungen und Leidenschaften gerichtet" sei, die Wahrheit aber, wie die
Ringparabel
zeige, letztlich eine Idee sei, werde dies eben auch durch die Sprache
stilisiert, die mit dem Blankvers eine idealisierende Form habe.
Blankvers als Teil einer "Guerilla-Strategie" Lessings im
Fragmentenstreit?
Ein weiterer Grund, der Lessing veranlasst haben könnte, seinen "Nathan" als
Gedicht abzufassen, könnte auch persönlich-politischer Natur sein.
Salopp formuliert: Ausgerechnet die Verssprache könnte als eine Art
"Guerilla-Strategie" in einem Schreibkonzept fungiert haben, mit dem Lessing
den "Maulkorb", dem ihn seine Polemik mit dem Hamburger
Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787)
einbrachte, zu umgehen versuchte.(→Fragmentenstreit)
Lessing demnach hat mit dem Stück als Ganzem und
seiner sprachlichen Form im Besonderen auf das ihm vom Herzog auferlegte
▪
Veröffentlichungsverbot
von Texten reagiert, die sich kritisch mit der
lutherischen Lehrmeinung auseinandersetzten.
"Lessing fand den Ausweg, seine
Gedanken zu Grundfragen menschlichen Glaubens und gesellschaftlichem
Zusammenlebens in einem Theaterstück zu verarbeiten. Dazu galt es, die
argumentative Erörterung der Zeitschriftenartikel in einen Handlungsverlauf
zu verwandeln, abstrakte Begriffe in ein anschauliches Geschehen, Thesen und
Argumente in lebendige Figuren - und diese Handlung war aus dem zeitlichen
Hier und Jetzt seiner Gegenwart in den Abstand einer anderen Zeit und eines
anderen Ortes zu versetzen. Selbst die Sprache goss er, anstelle der Prosa,
in die verfremdende - und gleichzeitig den Anspruch der Aussage steigernde,
eindringlichere - rhythmisch bewegte Versform." (Sedding 1992,
S.5)
In diesem "ästhetischen Reflexionsraum" (Fick
2010, S. 489) konnte er umsetzen, was er sich u. a. mit dem "Nathan"
selbst vorgenommen hatte: "Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten
Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen."
(Brief an Elise Reimarus, 6.9.1778, zit. n.
ebd.)
Merkmale des Blankverses
Der Blankvers, der sich im Allgemeinen durch seine
Geschmeidigkeit, die Vereinheitlichung der Sprecher, die Denaturalisierung des
Sprechers und durch seine Differenzqualität zur Alltagssprache
auszeichnet, besitzt in Lessings
Drama
eine Anzahl weiterer Merkmale, die sich aus unterschiedlichen
Aspekten der Betrachtung ergeben.
Das Versmaß, auch
Metrum
genannt, das Lessing für seine Verse verwendet, legt dabei eine bestimmte
regelmäßige Ab- und Tonfolge von betonten (und unbetonten) Silben fest.
Dazu
ist die Länge der Verse, die im "Nathan" vorkommen, auf zehn oder elf betonte
Silben beschränkt, denen jeweils eine unbetonte Silbe folgt.
Diese Tonfolge
von betonter und unbetonter Silbe wird in der Verslehre (Metrik)
als Jambus bezeichnet. Der
Jambus
ist die kleinste Einheit dieser Tonfolge und wird als
Versfuß bezeichnet.
Das Wort "Jambus" selbst ist als Versfuß, was es bezeichnet, nämlich eine
Abfolge von einer unbetonten Silbe gefolgt von einer betonten. Notiert wird
der Versfuß entweder nach antikem Muster als "v-" oder nach deutschem Muster xẋ
oder xX oder xx. Im deutschen Vers spricht man auch
statt Betonung bzw. Nicht-Betonung von
Hebung
(Starkton) und
Senkung
(Schwachton).
Ob eine Silbe eine Hebung oder eine Senkung erforderlich
macht, ergibt sich aus den Betonungsregeln, die aber unabhängig von der
Bedeutung und ebenso unabhängig von Vers oder Prosa sind. Einsilbige
Wörter können je nach Wortumgebung als Hebung oder Senkung vorkommen.
Mitunter ist es gar nicht so einfach herauszuhören, ob es sich bei einer
Silbe um eine Hebung oder eine Senkung handelt. Vielleicht hilft da die
Faustregel weiter: Als "schwer" gilt eine Silbe dann, wenn sie "schwerer"
ist als ihre unmittelbare Nachbarsilbe, als "leicht", wenn sie "leichter"
als die unmittelbare Nachbarsilbe ist. (vgl.
Fricke/Zymner 1993, S.104)
Wer genauer hinsieht, wird feststellen, dass Lessings Blankverse im "Nathan"
entweder zehn- oder elfsilbig sind. Zehn Silben lang sind die Verse dann,
wenn sie, wie man sagt, einen männlichen Ausgang haben (männliche
Kadenz). Solche
Versenden, von denen man auch sagt, sie seien "stumpf" bestehen aus
einsilbigen Wörtern mit einer
Hebung.
Lessings Blankverse mit einer Länge von 11 Silben haben dagegen einen
weiblichen Ausgang (weibliche
Kadenz). Ihr letzter
Versfuß besteht aus zwei Silben und besteht aus einer
Senkung und einer
Hebung.
Weil ein solcher "weiblicher Reim" mehr "klingt" als ein "männlicher Reim"
spricht man in diesem Falle auch von einer klingenden Kadenz.
Zusammenfassung
Die metrische Struktur des Blankverses besteht, kurz zusammengefasst, aus
reimlosen Verszeilen mit alternierendem jambischen (v-)
Metrum von zehn Silben bei männlichem (der
Vers schließt mit einer Hebung) oder elf bei weiblichem (der
Vers
schließt mit Hebung und Senkung) Ausgang. Da der Vers aus einer Abfolge
von 5 Hebungen besteht, bezeichnet man die metrische Struktur des
Blankverses auch als fünfhebigen Jambus. Ganz durchgehalten hat Lessing die
Fünfhebigkeit im "Nathan" freilich nicht, was in Rudolf
Hallers
"Studie über den deutschen Blankvers" (1957, S.389) schon akribisch
festgestellt wurde. Und obwohl, wie
Peter
von Düffel (1985, S.3-4) betont, Lessing "sechshebige
Verse zu eliminieren trachtete …, bleiben selbst in der zweiten Ausgabe
noch mindestens 18 Verse stehen, die nach strengen Maßstäben als
sechshebig (bzw. zwölf- und dreizehnsilbig) zu bezeichnen sind […] und es
sind mindestens 16 vierhebige bzw. acht- und neunsilbige […] zu finden."
Dabei hat die Art und Weise, wie Lessing den Blankvers behandelte, aber
System. Wenn es letztlich keinen metrischen Verstoß gibt, den er
sich nicht zuschulden kommen ließ (vgl.
Demetz 1984, S.181), dann ist dies bei einem Dichter seines
Ranges natürlich keine Stümperei, sondern Ausdruck eines gewollten Paradox,
das nach Demetz (ganz kurz so formuliert werden kann: "Lessing nützt eine
besondere Form der Sprache, aber zerstört sie zugleich." (ebd.)
Was er dazu tat, ist Ergebnis "eines bewussten Kalküls" (ebd.,
S.182)
Die "Vers-Störungen", von denen schon die Rede war, gehören dabei als
Elemente dieses Kalküls ebenso dazu wie "die völlige Rücksichtslosigkeit im
Gebrauch des Spondäus, den Lessing einsetzte, wo immer es ihm behagte
(selbst im letzten Versfuß); die Tonverschiebung von schwachen und starken
Silben; die Kakophonien in der Häufung einsilbiger Worte; die exzentrische
Stellung der Verspausen, vor allem am Anfang und Ende der Zeile; und, nicht
zuletzt, eine Technik des enjambements, die fast ins Monomane
grenzte." (ebd.)
Kein Wunder, dass Lessing selbst mit dem Gedanken spielte, nach dem "Nathan"
noch einen theoretischen Essay zu verfassen, in dem er seine
Interpunktionsprinzipien, die mit seinen "Vers-Störungen" Hand in Hand
gingen, erläutern wollte.
Dabei sorgen nicht nur die Vers-Störungen und
seine akustische Interpunktion dafür, dass die Welt Nathans nicht fugenlos
stilisiert wird und "durch die monolithische Glätte einer verstechnischen
Perfektion gänzlich ins Entfernte" rückt (ebd.)
Auch das Sprachmaterial, das er verwendet ist immer wieder von
volkstümlichen Prägungen, Fremdworten und auch von Worten durchsetzt, die
einem niederen Stil zugeordnet werden können. (vgl.
ebd.,
S.183)
Für
Demetz (1984, S.183) macht Lessing mit diesen Strategien eines
sprachlich-metrischen Experiments im "Nathan" aus dem Blankvers eine Art
"Anti-Vers" (ebd.),
"welcher das Orientalische reizvoll entrückt" und zugleich versucht, "diesen
Vers, um des Familiären und seiner Botschaft willen, bis an die Grenze der
Zerstörung zu desintegrieren. Das hat er allerdings so konsequent getan,
dass "Nathan der Weise" in seiner Sprachgestalt seiner Epoche vorauseilt. Im
Schutze des Verses drängt Lessing auf eine "realistische" Bühnensprache hin,
die sich der alltäglichen Sprache jenseits der Rampenlichter durch Brüche
und Pausen immer intimer verbündet; eben weil er Verse schreibt, darf
Lessing hinter ihrem deckenden Schilde weiter gehen, als ihm die
ungeschützte "Prose" gestatten würde, und selbst volkstümliches,
"fachliches" und profanes Vokabular in seinem Text absorbieren."
Ob der der Text heute solche Wirkungen noch entfalten
kann, ist wohl eher zu bezweifeln, auch wenn die so in Versform gebrachte dramatische Rede
Theaterneulingen oder auch Schülerinnen und Schülern, die dem Text in der
Schule begegnen, immer noch seltsam, befremdlich, mitunter sogar unnötig
geziert erscheinen mag.
Oft steigert sich dieses Befremden hin zu einer
Abwehrhaltung, die einer auch nur annähernd genussvollen Lektüre im
schulischen Literaturunterricht klar entgegensteht.
Um dies aufzufangen,
aber auch um die Besonderheit dieser gebundenen Sprache herauszuarbeiten,
sind "kreative" Arbeiten mit der sprachlichen Gestalt des Textes, z. B.
Umwandlung des dramatischen Textes in eine Prosafassung, Modernisierungen
mit Travestiecharakter,
Verfassen von Zeitungsberichten u. ä. zu einzelnen Szenen heute aus dem
Unterricht zum "Nathan" kaum mehr wegzudenken. (vgl.
Textvarianten: Blankvers und Prosa)
Interessant vielleicht auch in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass sich
beim Umschreiben der "bewegtesten Passagen des Lessingschen Stücks ohne
Rücksicht auf Versende und Versanfang als Prosa" herausstellen kann, "dass
der Dialog des 'Nathan' den viel späteren
Sekundenstil,
welcher die zivile Umgangssprache fast stenographisch festhalten will,
fernhin, aber entschlossen vorausnimmt." (Demetz 1984,
S.184)
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vgl. auch die Bausteine:
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.11.2020
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