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Baustein: Wie man die Figuren in Kafkas Parabeln
verstehen kann
Die menschlichen Figuren in Franz Kafkas
Parabeln sind keine modernen Paradiesvögel
Die menschlichen
Figuren - wir nehmen seine "Tiere" mit ihrer Sonderrolle zunächst
einmal aus -, die in den Werken ▪
Franz Kafkas, hier vor allem in seinen ▪
Parabeln auftauchen, haben Interpreten
schon immer in besonderer Weise beschäftigt.
Sie sind als
individuelle Personen nicht greifbar, handeln meistens zumindest
merkwürdig und lassen offen, was die Antriebe ihres Handelns sind
und wohin sie dieses führt oder führen könnte.
Da Kafkas "Geschichten von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgängen
jenseits psychologischer Erklärungsmuster" (Oschmann
2010, S. 440) erzählen, bleiben auch seine Figuren
undurchsichtig, "da sie dem Leser zwar ein Inneres vorführen, aber
den (identifikatorischen) Zugang dazu gleichzeitig verbauen." (ebd.)
Keine guten
Aussichten also für einen Leser oder eine Leserin, sich den Sinn
dieser Geschichten zusammenzubasteln, zumal man dabei kaum Angebote im Text
findet, den Sinn des Denkens, Fühlens und Handelns der Figuren mit
den gewohnten Schemata zu verstehen.
Kafkas Figuren wirken, psychologisch ausgedrückt, auf uns weder
echt, noch stimmig und ihr Sein und Handeln oft nicht kongruent. Die
Figuren Franz Kafkas irritieren und verstören. Sie haben
Störpotential und legen sich unserer gewohnten Sicht auf die Welt
und die Menschen quer, wirken, um es ganz salopp zu sagen, einfach
"schräg".
Dabei sind sie
keine "Paradiesvögel", sind eher grau als bunt in der äußeren
Erscheinung und ihrem Habitus eher angepasst als unangepasst, eben
gar nicht so, wie uns Paradiesvögel allenthalben in einer
multikulturellen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichsten
Lebensformen und Lebensentwürfen begegnen oder medial zur Anschauung
gebracht werden. Sie sind aber anders und uns oft von Grund auf
fremd, eigentlich weit mehr als nur "schräg".
Ausgewählte Thesen aus der
Literaturwissenschaft zum Verständnis der Figuren Franz Kafkas
Die
Literaturwissenschaft hat bei ihrem Bemühen, den Entstehungskontext
der Parabeln Franz Kafkas zu (re-)kontextualisieren ganz
unterschiedliche Ergebnisse gebracht, die hier weder gewürdigt, noch
gegeneinander abgewogen werden können. Die Auswahl, die hier
vorgenommen wird, ist dementsprechend willkürlich und versteht sich
dennoch als literaturdidaktisch motivierte Hilfestellung für die
Behandlung des Themas im Literaturunterricht der Sekundarstufe II.
Die werkimmanente Sicht: Figuren, die heimat- und orientierungslos
unterwegs sind
Im Hinblick auf die Figuren in Kafkas Parabeln ist die These von
der "kosmologische(n) Obdachlosigkeit" (Yun
Mi Kim 2012, S.22), der menschlichen Figuren in
modernen Parabeln, "die sich auf dem Weg zu dem nicht
vorhandenen bzw. nicht erreichbaren Absoluten verirren" (ebd.,
S.20) in der Literaturwissenschaft immer wieder formuliert
und belegt worden. Auf der Textebene von Kafkas Parabeln zeigt
sich dies auch bei einer
werkimmanenten Betrachtung der Figuren auf unterschiedliche Art
und Weise, wie Thomas
Söder (2008, S.228) analysiert und zusammengefasst hat.
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Alle Figuren, so
sagt er, seien "heimatlos", "vertrieben" und "isoliert". Dabei
sei diese Isolation zweifach: eine Isolation von der
Gesellschaft und als Isolation von sich selbst. Beides können
sie nicht überwinden.
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Ihre
immerwährenden Versuche, Bindung an die Gesellschaft zu
bekommen, misslingen und die Art und Weise, wie sie versuchen,
"innerhalb der Gesellschaft Einlass zu finden", entfremde sie
dieser und sich selbst immer mehr. Indem sie sich immer weiter
von ihren eigentlichen Zielen und Wünschen entfernten, agierten
sie auch zusehends in Abhängigkeit von Umständen, die sie gar
nicht verstünden.
-
Seine Figuren, so
betont Söder weiter, können nichts in einem ausgewogenen
Gleichgewicht sehen. Sie seien ständig unterwegs, kämen niemals
an und würden fortwährend gestört. So könne es passieren, dass
einem die Figuren Kafkas "wie Puppen aus einem
Wachsfigurenkabinett" vorkommen könnten: "Wirklichkeitsgetreu
nachgebildet, bis ins letzte Detail genau modelliert, aber ohne
Leben. Abgezogen und weltfremd ähneln sie Personen, die nur
entworfen sind, ohne irgendeine Entscheidung zur Tat."
-
Allen Figuren sei
gemeinsam, dass sie sich nicht zum Handeln, zu einer Tat,
durchringen könnten. Wenn sie dennoch eine "scheinbare Tat"
zustande bringen, dann treibe sie "ihre Einsicht, dass sie
nichts in der Wirklichkeit ausrichten können, (...) wieder
zurück in ein tatenloses Leben. [...] Sie kommen nie zu sich
selber, da sie nur mit sich selber beschäftigt sind."
Neben der Auffassung, dass Kafkas Werk insgesamt als
"Darstellung seines 'traumhaften inneren Lebens' (Kafka
1951, 420)" anzusehen ist, das Dinge zum Ausdruck bringt,
die rational (noch) nicht greifbar und auch (noch) nicht
verbal artikulierbar sind, hat sich in der modernen
Kafka-Forschung die Auffassung verbreitet, in den Figuren
und Gegenständen seiner literarischen Texte innerpsychische
Instanzen am Werke zu sehen, die "nicht mehr stellvertretend
für soziale Gruppen oder Phänomene" seien. Dementsprechend
seien auch die dargestellten "Ereignisse und
Handlungsabfolgen" als "innere Konflikte" der Figur(en) zu
verstehen. (Nickel-Bacon
2014., S.94f.) Die daraus erwachsende Eigendynamik prägt
damit auch Kafkas Figuren, die auf eine verstörend
undurchschaubare, sich oft als "entmutigend bis
indifferent, häufig auch strafend" erweisende Umwelt träfen.
Diese Sichtweise verändert auch den Blick auf bestimmte ▪
erzähltechnische Mittel, die in Kafkas Parabeln
verwendet werden. Das geht soweit, dass man die These
aufgestellt hat, Kafka lasse seinen Erzähler völlig
"unabhängig von der gewählten grammatischen Form" das
Geschehen nicht in
Außensicht
darbieten, sondern "konsequent aus dem Blickwinkel der
erlebenden Figur" (ebd.,
S.95) in personaler Innensicht. Wenn man so will, handelt es
sich, wenn grammatisch Außensicht gestaltet ist, nur
um eine Art fingierte Außensicht oder strukturbedingte
Innensicht.
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Baustein: Wie man die Figuren in Kafkas Parabeln
verstehen kann
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024
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