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Audiodatei: Der Text gesprochen von Hans-Jörg Große
Franz Kafka, Ein Landarzt
Ich war in großer
Verlegenheit: eine dringende Reise
stand mir bevor;
ein Schwerkranker
wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe;
starkes
Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen
Wagen
hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen
taugt;
in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand
ich reisefertig schon auf dem Hofe;
aber das Pferd fehlte, das Pferd.
Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, [18] infolge der
Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet;
mein Dienstmädchen
lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war
aussichtslos, ich wusste es,
und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer
unbeweglicher werdend stand ich zwecklos da. Am Tor
erschien das
Mädchen, allein, schwenkte die Laterne;
natürlich, wer leiht jetzt sein
Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof;
ich fand
keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit dem Fuß an die
brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Sie
öffnete sich und klappte in den Angeln auf und zu.
Wärme und Geruch wie
von Pferden kam hervor. Eine trübe
Stalllaterne schwankte drin an einem
Seil. Ein Mann, zusammengekauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte
sein
offenes blauäugiges Gesicht. "Soll ich anspannen?" fragte er,
auf allen
Vieren hervorkriechend. Ich wusste nichts zu sagen und beugte mich nur,
um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab.
Das Dienstmädchen stand
neben mir. "Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig
hat," sagte es und wir beide lachten.
"Holla, Bruder, holla Schwester!"
rief der Pferdeknecht, und
zwei Pferde, mächtige, flankenstarke Tiere,
schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten
Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres
Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten. Aber gleich standen
sie aufrecht, hochbeinig, mit dicht ausdampfendem Körper. "Hilf ihm," sagte ich, und
das willige Mädchen eilte, dem Knecht das [19] Geschirr
des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm,
umfasst es der Knecht
und schlägt sein Gesicht an ihres.
Es schreit auf und flüchtet sich zu
mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange.
"Du
Vieh," schreie ich wütend, "willst du die Peitsche?"
besinne mich aber
gleich, dass es ein Fremder ist;
dass ich nicht weiß, woher er kommt,
und dass er mir freiwillig aushilft, wo alle andern versagen.
Als wisse
er von meinen Gedanken, nimmt er meine Drohung nicht übel, sondern
wendet sich nur einmal, immer mit den Pferden beschäftigt, nach mir um.
"Steigt ein,"
sagt er dann und tatsächlich:
alles ist bereit.
Mit so
schönem Gespann, das merke ich, bin ich noch nie gefahren, und
ich
steige fröhlich ein. "Kutschieren werde aber ich, du kennst nicht den
Weg,“ sagte ich. "Gewiss,“ sagt er, "ich fahre gar nicht mit,
ich bleibe
bei Rosa." "Nein," schreit Rosa und läuft
im richtigen Vorgefühl der
Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus;
ich höre die Türkette
klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloss einspringen;
ich sehe,
wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter
verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. "Du fährst mit," sage ich zum
Knecht, "oder ich verzichte auf die Fahrt, so dringend sie auch ist.
Es
fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt das Mädchen als Kaufpreis
hinzugeben." "Munter!" sagt er;
klatscht in die Hände;
der Wagen wird
fortgerissen, wie Holz in die Strömung;
noch höre ich, wie die Tür
meines Hauses unter dem Ansturm des Knechtes birst und splittert,
dann
sind mir Augen und Ohren von einem zu allen [20] Sinnen gleichmäßig
dringenden Sausen erfüllt.
Aber auch das nur einen Augenblick, denn,
als
öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines Kranken, bin ich
schon dort; ruhig stehen die Pferde;
der Schneefall hat aufgehört;
Mondlicht ringsum;
die Eltern des Kranken eilen aus dem Haus; seine
Schwester hinter ihnen, man hebt mich fast aus dem Wagen; den verwirrten
Reden entnehme ich nichts; im Krankenzimmer ist die Luft kaum atembar;
der vernachlässigte Herdofen raucht; ich werde das Fenster aufstoßen;
zuerst aber will ich den Kranken sehen.
Mager, ohne Fieber, nicht kalt,
nicht warm, mit leeren Augen, ohne Hemd hebt sich der Junge unter dem
Federbett, hängt sich an meinen Hals, flüstert mir ins Ohr:
"Doktor,
lass mich sterben."
Ich sehe mich um; niemand hat es gehört; die Eltern stehn stumm vorgebeugt und
erwarten mein Urteil; die Schwester hat einen
Stuhl für meine Handtasche gebracht. Ich öffne die Tasche und suche
unter meinen Instrumenten; der Junge tastet immerfort aus dem Bett nach
mir hin, um mich an seine Bitte zu erinnern; ich fasse eine
Pinzette,
prüfe sie am Kerzenlicht und lege sie wieder hin. "Ja,"
denke ich
lästernd, "in solchen Fällen helfen die Götter, schicken das fehlende
Pferd, fügen der Eile wegen noch ein zweites hinzu,
spenden zum Übermaß
noch den Pferdeknecht —"
Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein;
was tue
ich, wie rette ich sie, wie ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht
hervor, zehn Meilen von ihr entfernt,
unbeherrschbare Pferde vor meinem
Wagen? Diese Pferde, die jetzt die Riemen irgendwie gelockert haben; die
Fenster, [21] ich weiß nicht wie, von außen aufstoßen; jedes durch ein
Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt durch den Aufschrei der Familie,
den Kranken betrachten. "Ich fahre gleich wieder zurück," denke ich, als
forderten mich die Pferde zur Reise auf, aber ich dulde es, dass die
Schwester, die mich durch die Hitze betäubt glaubt, den Pelz mir
abnimmt. Ein Glas Rum wird mir bereitgestellt,
der Alte klopft mir auf
die Schulter,
die Hingabe seines Schatzes rechtfertigt diese
Vertraulichkeit. Ich schüttle den Kopf;
in dem engen Denkkreis des Alten
würde mir übel;
nur aus diesem Grunde lehne ich es ab, zu trinken.
Die
Mutter steht am Bett und lockt mich hin; ich folge und lege,
während ein
Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den
Kopf an die Brust des Jungen,
der unter meinem nassen Bart erschauert.
Es bestätigt sich, was ich
weiß: der Junge ist gesund, ein wenig schlecht durchblutet,
von der
sorgenden Mutter mit Kaffee durchtränkt,
aber gesund und am besten mit
einem Stoß aus dem Bett zu treiben.
Ich bin kein Weltverbesserer und
lasse ihn liegen.
Ich bin vom Bezirk angestellt und tue meine Pflicht
bis zum Rand, bis dorthin wo es fast zuviel wird.
Schlecht gezahlt, bin
ich doch freigebig und hilfsbereit gegenüber den Armen.
Noch für Rosa
muss ich sorgen,
dann mag der Junge recht haben und auch ich will
sterben. Was tue ich hier in diesem endlosen Winter!
Mein Pferd ist
verendet und da ist niemand im Dorf, der mir seines leiht.
Aus dem
Schweinestall muss ich mein Gespann ziehn; wären es nicht zufällig
Pferde, müsste ich mit Säuen fahren. [22] So ist es. Und
ich nicke der
Familie zu.
Sie wissen nichts davon und wenn sie es wüssten, würden sie
es nicht glauben.
Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit
den Leuten verständigen ist schwer. Nun,
hier wäre also mein Besuch zu
Ende, man hat mich wieder einmal unnötig bemüht,
daran bin ich gewöhnt,
mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der ganze Bezirk,
aber dass
ich diesmal auch noch Rosa hingeben musste,
dieses schöne Mädchen,
das
jahrelang, von mir kaum beachtet, in meinem Hause lebte — dieses Opfer
ist zu groß und ich muss es mir
mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise in
meinem Kopf irgendwie zurechtlegen,
um nicht auf diese Familie
loszufahren, die mir ja beim besten Willen Rosa nicht zurückgeben kann.
Als ich aber meine Handtasche schließe und nach meinem Pelz winke,
die
Familie beisammensteht, der Vater schnuppernd über dem Rumglas in seiner
Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich enttäuscht — ja, was erwartet
denn das Volk? — tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein
schwer blutiges Handtuch schwenkend,
bin ich irgendwie bereit unter
Umständen zuzugeben, dass der Junge doch vielleicht krank ist.
Ich gehe
zu ihm, er lächelt mir entgegen, als brächte ich ihm die allerstärkste
Suppe, — ach jetzt wiehern beide Pferde;
der Lärm soll wohl, höhernorts
angeordnet, die Untersuchung erleichtern —
und nun finde ich: ja, der
Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in der Hüftengegend hat sich
eine handtellergroße Wunde aufgetan.
Rosa, in vielen Schattierungen,
dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den [23] Rändern, zartkörnig, mit
ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags.
So aus der Entfernung.
In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung.
Wer
kann das ansehen, ohne leise zu pfeifen?
Würmer, an Stärke und Länge
meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem
blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen
Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht.
Armer Junge, dir ist nicht zu
helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden;
an dieser Blume in
deiner Seite gehst du zugrunde.
Die Familie ist glücklich, sie sieht
mich in Tätigkeit;
die Schwester sagt’s der Mutter, die Mutter dem
Vater, der Vater einigen Gästen, die auf den Fußspitzen, mit
ausgestreckten Armen balancierend, durch den Mondschein der offenen Tür
hereinkommen. "Wirst du mich retten?"
flüstert schluchzend der Junge,
ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde.
So sind die Leute in
meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen.
Den alten
Glauben haben sie verloren;
der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die
Messgewänder, eins nach dem anderen; aber der Arzt soll alles leisten
mit seiner zarten chirurgischen Hand. Nun, wie es beliebt:
ich habe mich
nicht angeboten; verbraucht Ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch
das mit mir geschehn; was will ich Besseres,
alter Landarzt,
meines
Dienstmädchens beraubt!
Und sie kommen, die Familie und die Dorfältesten, und
entkleiden mich;
ein Schulchor mit dem Lehrer an der
Spitze steht vor dem [24] Haus und singt eine äußerst einfache Melodie
auf den Text
"Entkleidet ihn, dann
wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
S’ist nur ein Arzt, s’ist nur ein Arzt.“
Dann bin ich entkleidet und
sehe, die Finger im Barte, mit geneigtem
Kopf die Leute ruhig an.
Ich bin durchaus gefasst und allen überlegen
und bleibe es auch, trotzdem es mir nichts hilft,
denn jetzt nehmen sie
mich beim Kopf und bei den Füßen und tragen mich ins Bett.
Zur Mauer an
die Seite der Wunde legen sie mich.
Dann gehen alle aus der Stube;
die
Tür wird zugemacht; der Gesang verstummt;
Wolken treten vor den Mond;
warm liegt das Bettzeug um mich;
schattenhaft schwanken die Pferdeköpfe
in den Fensterlöchern.
"Weißt du," höre ich, mir ins Ohr gesagt,
"mein
Vertrauen zu dir ist sehr gering.
Du bist ja auch nur irgendwo
abgeschüttelt, kommst nicht auf eigenen Füßen.
Statt zu helfen, engst du
mir mein Sterbebett ein.
Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus."
"Richtig," sage ich, "es ist eine Schmach.
Nun bin ich aber Arzt.
Was
soll ich tun? Glaube mir, es wird auch mir nicht leicht."
"Mit dieser
Entschuldigung soll ich mich begnügen?
Ach, ich muss wohl. Immer muss
ich mich begnügen.
Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war
meine ganze Ausstattung." "Junger Freund," sage ich,
"dein Fehler ist:
du hast keinen Überblick.
Ich, der ich schon in allen Krankenstuben,
weit und breit, gewesen bin, sage dir:
deine [25] Wunde ist so übel
nicht.
Im spitzen Winkel mit zwei Hieben der Hacke geschaffen.
Viele
bieten ihre Seite an und hören kaum die Hacke im Forst, geschweige denn,
dass sie ihnen näher kommt." "Ist es wirklich so, oder täuschest du mich
im Fieber?" "Es ist wirklich so, nimm das Ehrenwort eines Amtsarztes mit
hinüber.“ Und er nahm’s und wurde still.
Aber jetzt war es Zeit, an
meine Rettung zu denken.
Noch standen treu die Pferde an ihren Plätzen.
Kleider, Pelz und Tasche waren schnell zusammengerafft;
mit dem
Ankleiden wollte ich mich nicht aufhalten;
beeilten sich die Pferde wie
auf der Herfahrt, sprang ich ja gewissermaßen aus diesem Bett in meines.
Gehorsam zog sich ein Pferd vom Fenster zurück;
ich warf den Ballen in
den Wagen;
der Pelz flog zu weit, nur mit einem Ärmel hielt er sich an
einem Haken fest. Gut genug.
Ich schwang mich aufs Pferd.
Die Riemen
lose schleifend, ein Pferd kaum mit dem andern verbunden, der Wagen
irrend hinterher, der Pelz als letzter im Schnee.
"Munter!", sagte ich,
aber munter ging’s nicht;
langsam wie alte Männer zogen wir durch die
Schneewüste;
lange klang hinter uns der neue, aber irrtümliche Gesang
der Kinder:
"Freuet euch, ihr
Patienten,
Der Arzt ist euch ins Bett gelegt!“
Niemals komme ich so nach Hause;
meine blühende Praxis ist verloren;
ein
Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht
ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht;
Rosa ist sein
Opfer; ich will es nicht ausdenken.
Nackt, dem Froste dieses [26]
unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen
Pferden, treibe ich mich alter Mann umher.
Mein Pelz hängt hinten am
Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen,
und keiner aus dem beweglichen
Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen!
Einmal dem
Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt —
es ist niemals gutzumachen.
(Franz Kafka, Ein Landarzt, in: Die neue Dichtung. Ein
Almanach, Leipzig, Dezember 1917, S.17-25, an die zeitgenössische
Rechtschreibung angepasst G. E.)
Dieses Werk (Ein
Landarzt, von
Franz Kafka), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.10.2024
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