In den letzten
Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.
Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in
eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren
andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem
Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme; jeder
wollte den Hungerkünstler zumindest einmal täglich sehn; an den spätern
Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig
saßen; auch in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erhöhung der
Wirkung bei Fackelschein; an schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie
getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der
Hungerkünstler gezeigt wurde; während er für die Erwachsenen oft nur ein
Spaß war, an dem sie der Mode halber [32] teilnahmen, sahen die Kinder
staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand
haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig
vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem
Stroh saß, einmal höflich nickend, angestrengt lächelnd Fragen
beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine Magerkeit
befühlen zu lassen, dann aber wieder ganz in sich selbst versank, um
niemanden sich kümmerte, nicht einmal um den für ihn so wichtigen Schlag
der Uhr, die das einzige Möbelstück des Käfigs war, sondern nur vor sich
hinsah mit fast geschlossenen Augen und hie und da aus einem winzigen
Gläschen Wasser nippte, um sich die Lippen zu feuchten.
Außer den wechselnden
Zuschauern waren auch ständige, vom Publikum gewählte Wächter da,
merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer, welche, immer drei
gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu
beobachten, damit er nicht etwa auf irgendeine heimliche Weise doch
Nahrung zu sich nehme. Es war das aber lediglich eine Formalität,
eingeführt zur Beruhigung der Massen, denn die Eingeweihten [33] wussten
wohl, dass der Hungerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter
keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das Geringste nur
gegessen hätte; die Ehre seiner Kunst verbot dies. Freilich, nicht jeder
Wächter konnte das begreifen, es fanden sich manchmal nächtliche
Wachgruppen, welche die Bewachung sehr lax durchführten, absichtlich in
eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel
vertieften, in der offenbaren Absicht, dem Hungerkünstler eine kleine
Erfrischung zu gönnen, die er ihrer Meinung nach aus irgendwelchen
geheimen Vorräten hervorholen konnte. Nichts war dem Hungerkünstler
quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten ihm
das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand er seine Schwäche und
sang während dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten
zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten. Doch half das wenig; sie
wunderten sich dann nur über seine Geschicklichkeit, selbst während des
Singens zu essen. Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum
Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht
begnügten, sondern [34] ihn mit den elektrischen Taschenlampen
bestrahlten, die ihnen der Impresario zur Verfügung stellte. Das grelle
Licht störte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und
ein wenig hindämmern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder
Stunde, auch im übervollen, lärmenden Saal. Er war sehr gerne bereit,
mit solchen Wächtern die Nacht gänzlich ohne Schlaf zu verbringen; er
war bereit, mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten aus seinem
Wanderleben zu erzählen, dann wieder ihre Erzählungen anzuhören, alles
nur um sie wachzuhalten, um ihnen immer wieder zeigen zu können, dass er
nichts Essbares im Käfig hatte und dass er hungerte, wie keiner von
ihnen es könnte. Am glücklichsten aber war er, wenn dann der Morgen kam,
und ihnen auf seine Rechnung ein überreiches Frühstück gebracht wurde,
auf das sie sich warfen mit dem Appetit gesunder Männer nach einer
mühevoll durchwachten Nacht. Es gab zwar sogar Leute, die in diesem
Frühstück eine ungebührliche Beeinflussung der Wächter sehen wollten,
aber das ging doch zu weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um
der Sache willen ohne Frühstück die [35] Nachtwache übernehmen wollten,
verzogen sie sich, aber bei ihren Verdächtigungen blieben sie dennoch.
Dieses allerdings gehörte
schon zu den vom Hungern überhaupt nicht zu trennenden Verdächtigungen.
Niemand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler
ununterbrochen als Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus
eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos
gehungert worden war; nur der Hungerkünstler selbst konnte das wissen,
nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte
Zuschauer sein. Er aber war wieder aus einem andern Grunde niemals
befriedigt; vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert,
dass manche zu ihrem Bedauern den Vorführungen fernbleiben mussten, weil
sie seinen Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert aus
Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein nämlich wusste, auch kein
Eingeweihter sonst wusste das, wie leicht das Hungern war. Es war die
leichteste Sache von der Welt. Er verschwieg es auch nicht, aber man
glaubte ihm nicht, hielt ihn günstigstenfalls für [36] bescheiden, meist
aber für reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das Hungern
allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen verstand, und
der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehn. Das alles musste er
hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber
innerlich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm, und noch niemals,
nach keiner Hungerperiode – dieses Zeugnis musste man ihm ausstellen –
hatte er freiwillig den Käfig verlassen. Als Höchstzeit für das Hungern
hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt, darüber hinaus ließ er
niemals hungern, auch in den Weltstädten nicht, und zwar aus gutem
Grund. Vierzig Tage etwa konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich
sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr
aufstacheln, dann aber versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme
des Zuspruchs war festzustellen; es bestanden natürlich in dieser
Hinsicht kleine Unterschiede zwischen den Städten und Ländern, als Regel
aber galt, dass vierzig Tage die Höchstzeit war. Dann also am
vierzigsten Tage wurde die Tür des mit Blumen umkränzten Käfigs
geöffnet, eine begeisterte Zuschauerschaft [37] erfüllte das
Amphitheater, eine Militärkapelle spielte, zwei Ärzte betraten den
Käfig, um die nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein
Megaphon wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen
zwei junge Damen, glücklich darüber, dass gerade sie ausgelost worden
waren, und wollten den Hungerkünstler aus dem Käfig ein paar Stufen
hinabführen, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgfältig ausgewählte
Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick wehrte sich der
Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in
die hilfsbereit ausgestreckten Hände der zu ihm hinabgebeugten Damen,
aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen
aufhören? Er hätte es noch lange, unbeschränkt lange ausgehalten; warum
gerade jetzt aufhören, wo er im besten, ja noch nicht einmal im besten
Hungern war? Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu
hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der
er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu
übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu [38]
hungern fühlte er keine Grenzen. Warum hatte diese Menge, die ihn so
sehr zu bewundern vorgab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt,
noch weiter zu hungern, warum wollte sie es nicht aushalten? Auch war er
müde, saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufrichten und
zu dem Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstellung Übelkeiten
verursachte, deren Äußerung er nur mit Rücksicht auf die Damen mühselig
unterdrückte. Und er blickte empor in die Augen der scheinbar so
freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen Damen und schüttelte den auf
dem schwachen Halse überschweren Kopf. Aber dann geschah, was immer
geschah. Der Impresario kam, hob stumm – die Musik machte das Reden
unmöglich – die Arme über dem Hungerkünstler, so, als lade er den Himmel
ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen
bedauernswerten Märtyrer, welcher der Hungerkünstler allerdings war, nur
in ganz anderem Sinn; fasste den Hungerkünstler um die dünne Taille,
wobei er durch übertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem
wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und übergab ihn – nicht
ohne [39] ihn im geheimen ein wenig zu schütteln, so dass der
Hungerkünstler mit den Beinen und dem Oberkörper unbeherrscht hin und
her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen Damen. Nun duldete
der Hungerkünstler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er
hingerollt und halte sich dort unerklärlich; der Leib war ausgehöhlt;
die Beine drückten sich im Selbsterhaltungstrieb fest in den Knien
aneinander, scharrten aber doch den Boden, so, als sei es nicht der
wirkliche, den wirklichen suchten sie erst; und die ganze, allerdings
sehr kleine Last des Körpers lag auf einer der Damen, welche
hilfesuchend, mit fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt
nicht vorgestellt – zuerst den Hals möglichst streckte, um wenigstens
das Gesicht vor der Berührung mit dem Hungerkünstler zu bewahren, dann
aber, da ihr dies nicht gelang und ihre glücklichere Gefährtin ihr nicht
zu Hilfe kam, sondern sich damit begnügte, zitternd die Hand des
Hungerkünstlers, dieses kleine Knochenbündel, vor sich herzutragen,
unter dem entzückten Gelächter des Saales in Weinen ausbrach und von
einem längst bereitgestellten Diener abgelöst werden musste. Dann [40]
kam das Essen, von dem der Impresario dem Hungerkünstler während eines
ohnmachtähnlichen Halbschlafes ein wenig einflößte, unter lustigem
Plaudern, das die Aufmerksamkeit vom Zustand des Hungerkünstlers
ablenken sollte; dann wurde noch ein Trinkspruch auf das Publikum
ausgebracht, welcher dem Impresario angeblich vom Hungerkünstler
zugeflüstert worden war; das Orchester bekräftigte alles durch einen
großen Tusch, man ging auseinander, und niemand hatte das Recht, mit dem
Gesehenen unzufrieden zu sein, niemand, nur der Hungerkünstler, immer
nur er.
So lebte er mit
regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von
der Welt geehrt, bei alledem aber meist in trüber Laune, die immer noch
trüber wurde dadurch, dass niemand sie ernst zu nehmen verstand. Womit
sollte man ihn auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig? Und wenn
sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn bedauerte und ihm erklären
wollte, dass seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme,
konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, dass der
Hungerkünstler mit einem Wutausbruch antwortete [41] und zum Schrecken
aller wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann. Doch hatte für
solche Zustände der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er
entschuldigte den Hungerkünstler vor versammeltem Publikum, gab zu, dass
nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen nicht ohne
weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers
verzeihlich machen könne; kam dann im Zusammenhang damit auch auf die
ebenso zu erklärende Behauptung des Hungerkünstlers zu sprechen, er
könnte noch viel länger hungern, als er hungere; lobte das hohe Streben,
den guten Willen, die große Selbstverleugnung, die gewiss auch in dieser
Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach
genug durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft
wurden, zu widerlegen, denn auf den Bildern sah man den Hungerkünstler
an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung.
Diese dem Hungerkünstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn
entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der
vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte [42] man hier als die
Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unverstandes
zu kämpfen, war unmöglich. Noch hatte er immer wieder in gutem Glauben
begierig am Gitter dem Impresario zugehört, beim Erscheinen der
Photographien aber ließ er das Gitter jedes Mal los, sank mit Seufzen
ins Stroh zurück, und das beruhigte Publikum konnte wieder herankommen
und ihn besichtigen.
Wenn die Zeugen solcher
Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten, wurden sie sich oft
selbst unverständlich. Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung
eingetreten; fast plötzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gründe
haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines
Tages der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge
verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte. Noch einmal
jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich
nicht noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich;
wie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine
Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das [43]
in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich
jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht
genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt
etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. Zwar war es sicher, dass
einmal auch für das Hungern wieder die Zeit kommen werde, aber für die
Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerkünstler tun? Der,
welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich nicht in Schaubuden auf
kleinen Jahrmärkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war
der Hungerkünstler nicht nur zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu
fanatisch ergeben. So verabschiedete er denn den Impresario, den
Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und ließ sich von einem großen
Zirkus engagieren; um seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die
Vertragsbedingungen gar nicht an.
Ein großer Zirkus mit
seiner Unzahl von einander immer wieder ausgleichenden und ergänzenden
Menschen und Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit
gebrauchen, auch einen Hungerkünstler, bei entsprechend bescheidenen
[44] Ansprüchen natürlich, und außerdem war es ja in diesem besonderen
Fall nicht nur der Hungerkünstler selbst, der engagiert wurde, sondern
auch sein alter berühmter Name, ja man konnte bei der Eigenart dieser im
zunehmenden Alter nicht abnehmenden Kunst nicht einmal sagen, dass ein
ausgedienter, nicht mehr auf der Höhe seines Könnens stehender Künstler
sich in einen ruhigen Zirkusposten flüchten wolle, im Gegenteil, der
Hungerkünstler versicherte, dass er, was durchaus glaubwürdig war,
ebenso gut hungere wie früher, ja er behauptete sogar, er werde, wenn
man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres,
eigentlich erst jetzt die Welt in berechtigtes Erstaunen setzen, eine
Behauptung allerdings, die mit Rücksicht auf die Zeitstimmung, welche
der Hungerkünstler im Eifer leicht vergaß, bei den Fachleuten nur ein
Lächeln hervorrief.
Im Grunde aber verlor
auch der Hungerkünstler den Blick für die wirklichen Verhältnisse nicht
und nahm es als selbstverständlich hin, dass man ihn mit seinem Käfig
nicht etwa als Glanznummer mitten in die Manege stellte, sondern draußen
an einem im übrigen recht gut zugänglichen Ort in [45] der Nähe der
Stallungen unterbrachte. Große, bunt gemalte Aufschriften umrahmten den
Käfig und verkündeten, was dort zu sehen war. Wenn das Publikum in den
Pausen der Vorstellung zu den Ställen drängte, um die Tiere zu
besichtigen, war es fast unvermeidlich, dass es beim Hungerkünstler
vorüberkam und ein wenig dort haltmachte, man wäre vielleicht länger bei
ihm geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die Nachdrängenden,
welche diesen Aufenthalt auf dem Weg zu den ersehnten Ställen nicht
verstanden, eine längere ruhige Betrachtung unmöglich gemacht hätten.
Dieses war auch der Grund, warum der Hungerkünstler vor diesen
Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck natürlich herbeiwünschte,
doch auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die
Vorstellungspausen kaum erwarten können; entzückt hatte er der sich
heranwälzenden Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald – auch die
hartnäckigste, fast bewusste Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen nicht
stand – davon überzeugte, dass es zumeist der Absicht nach, immer
wieder, ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser Anblick von
der Ferne [46] blieb noch immer der schönste. Denn wenn sie bis zu ihm
herangekommen waren, umtobte ihn sofort Geschrei und Schimpfen der
ununterbrochen neu sich bildenden Parteien, jener, welche – sie wurde
dem Hungerkünstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen wollte,
nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune und Trotz, und jener
zweiten, die zunächst nur nach den Ställen verlangte. War der große
Haufe vorüber, dann kamen die Nachzügler, und diese allerdings, denen es
nicht mehr verwehrt war, stehen zu bleiben, solange sie nur Lust hatten,
eilten mit langen Schritten, fast ohne Seitenblick, vorüber, um
rechtzeitig zu den Tieren zu kommen. Und es war kein allzu häufiger
Glücksfall, dass ein Familienvater mit seinen Kindern kam, mit dem
Finger auf den Hungerkünstler zeigte, ausführlich erklärte, um was es
sich hier handelte, von früheren Jahren erzählte, wo er bei ähnlichen,
aber unvergleichlich großartigeren Vorführungen gewesen war, und dann
die Kinder, wegen ihrer ungenügenden Vorbereitung von Schule und Leben
her, zwar immer noch verständnislos blieben – was war ihnen Hungern? –
aber doch in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von neuen, [47]
kommenden, gnädigeren Zeiten verrieten. Vielleicht, so sagte sich der
Hungerkünstler dann manchmal, würde alles doch ein wenig besser werden,
wenn sein Standort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre. Den Leuten
wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn
die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das
Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie bei
der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrückten. Aber bei der
Direktion vorstellig zu werden, wagte er nicht; immerhin verdankte er ja
den Tieren die Menge der Besucher, unter denen sich hie und da auch ein
für ihn Bestimmter finden konnte, und wer wusste, wohin man ihn
verstecken würde, wenn er an seine Existenz erinnern wollte und damit
auch daran, dass er, genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu
den Ställen war.
Ein kleines Hindernis
allerdings, ein immer kleiner werdendes Hindernis. Man gewöhnte sich an
die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen
Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das
Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut [48] hungern, als er nur
konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an
ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es
nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen
Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riss sie herunter,
niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der
abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich
erneut worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den
ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig
geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es
früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie
er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand,
nicht einmal der Hungerkünstler selbst wusste, wie groß die Leistung
schon war, und sein Herz wurde schwer. Und wenn einmal in der Zeit ein
Müßiggänger stehen blieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und
von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche
Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn
nicht der [49] Hungerkünstler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die
Welt betrog ihn um seinen Lohn.
Doch vergingen wieder
viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der
Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut
brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenützt stehen
lasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an
den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und
fand den Hungerkünstler darin. „Du hungerst noch immer?“ fragte der
Aufseher, „wann wirst du denn endlich aufhören?“ „Verzeiht mir alle“,
flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter
hielt, verstand ihn. „gewiss,“ sagte der Aufseher und legte den Finger
an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal
anzudeuten, „wir verzeihen dir.“ „Immerfort wollte ich, dass ihr mein
Hungern bewundert“, sagte der Hungerkünstler. „Wir bewundern es auch“,
sagte der Aufseher entgegenkommend. „Ihr sollte es aber nicht
bewundern“, sagte der Hungerkünstler. „Nun, dann bewundern wir es [50]
also nicht,“ sagte der Aufseher, „warum sollen wir es denn nicht
bewundern?“ „Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders“, sagte der
Hungerkünstler. „Da sieh mal einer,“ sagte der Aufseher, „warum kannst
du denn nicht anders?“ „Weil ich,“ sagte der Hungerkünstler, hob das
Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade
in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich
nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie
gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich
vollgegessen wie du und alle.“ Das waren die letzten Worte, aber noch in
seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze
Überzeugung, dass er weiterhungre.
„Nun macht aber Ordnung!“
sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In
den Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem
stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses
wilde Tier sich herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die
ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht
einmal die Freiheit schien er [51] zu vermissen; dieser edle, mit allem
Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die
Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiss schien sie zu
stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem
Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.
Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar
nicht fortrühren.
(Franz Kafka, Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten,
Berlin 1924, S.31-51, an die zeitgenössische Rechtschreibung angepasst
G. E.)